Zu einem der bisher unbekannten Flecken in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes zählt nach wie vor Mecklenburg-Vorpommern. Dies ist umso erstaunlicher, da das Bundesland im Nordosten mehrfach dem Terrornetzwerk ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘ als Tatortland diente. Mecklenburg-Vorpommern weist darüber hinaus mehrere Besonderheiten in Bezug auf die Tatortauswahl auf. So ist es zum einen das einzige „neue“ Bundesland, in dem der NSU mordete. Zum anderen ist es aber auch das einzige Bundesland, in dem das Terrornetzwerk sowohl einen Mord als auch Raubüberfälle beging, um sich weiterhin ihr Leben zu finanzieren.
Die blutige Spur des NSU-Kerntrios im Nordosten begann mutmaßlich am 25. Februar 2004, als sie den 25-jährigen Mehmet Turgut in einem Dönerimbiss im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel mit mehreren Schüssen in den Kopfbereich hinrichteten. Mehmet Turgut hielt sich zu diesem Zeitpunkt gerade einmal drei Wochen in Rostock auf. Warum und wie die Rechtsterroristen nach einer dreißig Monate andauernden Mordpause – Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü und Habil Kılıç, die ersten vier Mordopfer des NSU-Kerntrios, wurden zwischen September 2000 und August 2001 innerhalb nur eines Jahres erschossen – ihr fünftes Mordopfer in Rostock aufsuchten, ist bis heute ungeklärt.
Im Dezember 2006 und Januar 2007 überfielen dann mutmaßlich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gleich zwei Mal eine Bank in Stralsund. Bemerkenswert ist dies wiederum, da sich das Tatobjekt – eine Sparkassenfiliale im innerstädtischen Bereich – hunderte Kilometer außerhalb ihres üblichen Radius` der Raubüberfälle befand. Dazu waren es noch die lukrativsten Überfälle: knapp 255.000 € erbeuteten die Rechtsterroristen in kürzester Zeit in Stralsund. Ob es ortsansässige Hinweisgeber_innen gab, gehört bis heute zu den offenen Fragen. In der Aufarbeitung des NSU-Komplexes sind zudem die Aufenthalte des Kerntrios auf Campingplätzen an der Ostsee nicht zu vernachlässigen, auf denen sie während ihrer vermeintlichen Untergrundzeit mehrfach zu Gast waren.
Das „mecklenburgische Modell“ der Aufarbeitung…
Wie in vielen weiteren Bundesländern gab es bereits früh Bestrebungen, den NSU-Komplex parlamentarisch aufzuarbeiten. Der gemeinsame Antrag der Linksfraktion mit Bündnis90/Die Grünen zur Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) war bereits Anfang 2013 druckfertig gefasst und die Stimmen beider Fraktionen wären für das erforderliche Quorum ausreichend gewesen. Aus – bis heute – unerfindlichen Gründen zogen die Grünen jedoch plötzlich ihre Zustimmung zum Antrag zurück und verhinderten somit die Einsetzung eines PUAs in Mecklenburg-Vorpommern.
Zu Beginn der neuen Legislaturperiode des Schweriner Landtages im Jahr 2016 gab es schließlich einen neuen Anlauf die Verbrechen des NSU sowie das Behördenhandeln in Mecklenburg-Vorpommern parlamentarisch aufzuarbeiten. Aber weder die fraktionseigenen Stimmen noch der Druck der Linksfraktion auf andere Fraktionen reichten aus, um einen PUA zu initiieren. Die Regierungskoalition, bestehend aus SPD und CDU, ließ sich nur auf ein beschränktes Aufklärungsmodell ein. So beschloss der Landtag – mit Ausnahme der AfD – einen sog. Unterausschuss des Innen- und Europaausschusses einzusetzen, der im März diesen Jahres erstmalig tagte. Die Befürchtung, dass es sich hierbei um ein Feigenblattgremium handelt, ist nicht von der Hand zu weisen, denn dem Unterausschuss fehlen die nötigen Instrumente und Mittel, die einem üblichen PUA zustehen. So hat der Unterausschuss keinerlei Befugnis Zeug_innen zu laden und anzuhören. Lediglich Sachverständige können im Ausschuss über ihre Erkenntnisse im NSU-Komplex berichten.
Zudem wird eine der zentralen Forderungen von Angehörigen der Mordopfer nach einer öffentlichen Aufklärung nicht erfüllt. Aufgrund der nicht-öffentlichen Sitzungsweise bleiben Details zu Verlauf und Ergebnissen der Ausschussarbeit im Verborgenen und können weder von Betroffenen des neonazistischen Terrors noch von der Zivilgesellschaft nachvollzogen werden. Darüber hinaus entwickelte sich der Zugang zu Akten, die die Ausschussmitglieder für ihre Arbeit benötigen, zum zentralen Streitthema der ersten Sitzungen. Denn sowohl das Innenministerium in Mecklenburg-Vorpommern als auch der Generalbundesanwalt teilen die Auffassung, dass dem Unterausschuss die notwendigen Kompetenzen zur Akteneinsicht fehlen. Falls es bei dieser Auffassung bleibt, müssen die Mitglieder des Ausschusses in ihrer Arbeit einfallsreich sein, wenn der Unterausschuss nicht völlig ins Leere laufen soll.
Um zumindest dem Wunsch nach Öffentlichkeit stückweise nachzukommen, hat die Linksfraktion in der Zwischenzeit eine Homepage eingerichtet, um über die Arbeit des Ausschusses und den Stand der Aufklärung in Mecklenburg-Vorpommern zu berichten. Das bisherige Fazit (Stand: 01.08.2017) fällt jedoch sehr nüchtern aus. So stellt der zuständige Abgeordnete der Linksfraktion nach der letzten Sitzung vor der Sommerpause auf der Homepage fest: „Wir drehen uns im Kreis und sind dabei noch nicht mal losgelaufen.“
Das NSU-Netzwerk und seine Spuren nach Mecklenburg-Vorpommern
Aufzuklären gäbe es in Mecklenburg-Vorpommern allerdings genug. Nicht nur die bereits beschriebenen Besonderheiten bezüglich der Tatortauswahl wären zu untersuchen. Auch die Ermittlungen bis zur Selbstenttarnung des NSU im November 2011 scheinen ebenso institutionell rassistisch veranlagt gewesen zu sein, wie es in anderen Bundesländern zu beobachten war und durch Untersuchungsausschüsse auch festgestellt wurde. Ebenso spielt der Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern eine zweifelhafte Rolle. So gab ein Vertreter der Behörde knapp ein halbes Jahr nach dem Mord an Mehmet Turgut den Ermittler_innen den Hinweis, dass das Opfer Gelder aus dem Drogenhandel nicht an seine Hintermänner weitergegeben habe, sondern dieses Familienangehörigen zugekommen sei. Für diese Behauptung lassen sich jedoch bis heute keine belastbaren Fakten – nicht einmal Indizien – finden. Dass der VS mit klassischen Ermittlungserkenntnissen, die im Zuständigkeitsbereich der Polizei und nicht in dem der Geheimdienste liegen, dabei womöglich die Motivsuche und damit die Ermittlungsrichtung entscheidend beeinflusste, wurde nie angemessen thematisiert. Mögliche Hinweise anderer Bundesländer zu den untergetauchten Rechtsterroristen wollen die Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden in Mecklenburg-Vorpommern dagegen gar nicht erst erhalten haben.
Verwundern darf die vorgegebene Unwissenheit in Bezug auf den NSU schon. Denn bereits kurz nach dem vermeintlichen Abtauchen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe wandte sich die Jenaer Neonaziszene hilfesuchend nach Mecklenburg-Vorpommern. Um eine anwaltliche Vertretung für Beate Zschäpe zu organisieren, fuhren Ralf Wohlleben und Carsten Schultze 1999 zum Rechtsanwalt Dr. Hans Günther Eisenecker ins mecklenburgische Goldenbow bei Schwerin. Der landeseigene VS, der die Fahrt der Thüringer Neonazis observierte, schlussfolgerte aber anscheinend keine entscheidenden Erkenntnisse aus seinen Beobachtungen. Eisenecker beantragte in der Folge Akteneinsicht für „seine“ Mandantin Zschäpe, die im Prozess vor dem OLG München aussagte, sich auch persönlich mit ihrem Anwalt getroffen zu haben. Ein Neonazi-Fanzine aus Mecklenburg-Vorpommern war es schließlich auch, das den NSU erstmalig öffentlich erwähnte. „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht weiter…“ steht an prominenter Stelle in der 18. Ausgabe (2002) des „Weissen Wolfes“, nachdem dort eine Spende von 2.500 € einging. Herausgeber des Fanzines war zu diesem Zeitpunkt der ehemalige NPD-Landtagsabgeordnete David Petereit. Auch hier erfolgte keine Reaktion des Verfassungsschutzes, der bereits im April 2002 durch eine „menschliche Quelle“ von dieser Spende erfahren hat.[1]
Dass es auch im Nordosten eine sympathisierende und womöglich unterstützende Neonaziszene um den NSU gab, kann hierbei durchaus angenommen werden. Gerade in Rostock und Stralsund – die beiden Tatortstädte des NSU in Mecklenburg-Vorpommern – gab es bis nach dem Verbot im September 2000 rege „Blood and Honour“-Gliederungen, in denen auch das Konzept des „führerlosen Widerstandes“ diskutiert wurde. Vergleichbar zum berüchtigten Winzerclub in Jena hatte auch die militante Neonaziszene aus Rostock mit dem Jugendclub „MAX“ im Stadtteil Groß-Klein eine kommunal verwaltete Rückzugs- und Treffmöglichkeit. Fester Bestandteil der Szene im Nordosten ist/war der Besitz von Waffen, deren Anwendung regelmäßig im Rahmen von Wehrsportübungen trainiert wurde. Belegbar sind ebenso persönliche Kontakte des Kerntrios sowie des Unterstützungsumfeldes nach Mecklenburg-Vorpommern. Gemeinsame Urlaube und gegenseitige Besuche verfestigten das persönliche Verhältnis zwischen den Jenaer und Rostocker Neonazis bereits ab Mitte der 1990er Jahre. Die persönlichen Beziehungen waren schließlich so eng, dass mehrere Rostocker Kontaktdaten auf der sog. Garagenliste zu finden sind, die Mundlos zugerechnet wird und sich mit heutigem Kenntnisstand wie eine Dokumentation des engsten NSU-Unterstützungskreises liest. Dass die vermeintlichen Campingausflüge in den Norden nicht nur der Erholung dienten, sondern integraler Bestandteil des „Untergrundlebens“ waren, zeigt u.a. das Treffen mit dem als Unterstützer Angeklagten Holger Gerlach im Jahr 2000 auf der Ostseeinsel Usedom.
Und noch im Mai 2011 feierte das Who is who der militanten Neonaziszene das 15-jährige Bestehen des Kameradschaftsbundes Anklam (KBA) im vorpommerischen Salchow. Mit dabei waren auch der heute auf der Anklagebank sitzende André Eminger sowie der ehemalige Herausgeber des Fanzine „Der Weisse Wolf“ Petereit. Zu den bisher undurchsichtigsten NSU-Verbindungen zählt wohl der Fund einer CD im April 2014 während einer Hausdurchsuchung in Krakow am See, die im Wesentlichen dem Inhalt der „NSU/NSDAP-DVD“ gleicht, die mutmaßlich durch den mittlerweile verstorbenen V-Mann Thomas „Corelli“ Richter erstellt wurde. Obwohl es sich hierbei nur um eine schemenhafte Benennung möglicher Verbindungen des NSU nach Mecklenburg-Vorpommern handelt, illustrieren diese Beispiele doch bereits sehr deutlich die persönlichen Verflechtungen des NSU-Netzwerkes in den Nordosten.
Ein Untersuchungsausschuss bleibt alternativlos
Angesichts der vielfältigen Bezüge des NSU nach Mecklenburg-Vorpommern und den beschränkten Befugnissen des Unterausschusses, zeugt es von großem Zweckoptimismus, wenn man allzu starke Hoffnung in dieses Gremium setzt. Dass sich die SPD und CDU mit Blick auf die Faktenlage nur zu einer Aufklärung „light“ bewegen ließen, ist mit Blick auf den überfraktionellen Charakter der PUAs in Bund und Länder wohl nur durch höhergestellte Koalitionsinteressen zu erklären. Umso wichtiger muss es für die Zivilgesellschaft und antifaschistische Gruppen sein, zu intervenieren und die Arbeit des Ausschusses zu beobachten und zu kritisieren. Die Aufklärung hinter verschlossenen Türen darf nicht zu einer bloßen Selbstinszenierung des Schweriner Landtages verkommen, die den breit aufgestellten Wunsch nach Aufklärung befriedet und der persönlichen Gewissensberuhigung der Abgeordneten dient. Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes durch einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss muss auch in Mecklenburg-Vorpommern eine zentrale Forderung bleiben.
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Fußnote:
[1] Siehe Protokoll 297. Verhandundlungstag
Außerdem wird der Hinweis auf die Spende der Drucksache des Bundestages 18/6545 erwähnt