Liebe Bild-Zeitung,
echt jetzt? Waren wir da nicht schon mal einen Schritt weiter in der Berichterstattung über die Hauptangeklagte im NSU-Verfahren, der zehn Morde und zwei Bombenanschläge zur Last gelegt werden? Und jetzt sowas?! Quer durch die Republik ist das ernsthafte Interesse an einer kontinuierlichen und seriösen Berichterstattung zu einem der größten und bedeutendsten Verfahren der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte anscheinend so gering, dass große deutsche Tageszeitungen die Meldung der dpa lediglich abschreiben. Ihr, Bild-Zeitung, treibt es wie so oft auf die Spitze – und übertitelt gar euren gesamten Beitrag zum letzten Verhandlungstag im NSU-Verfahren vor der Sommerpause mit einem Kommentar zu – gähn! – dem Outfit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe.
Leider erfahren wir im Folgenden nichts zum schnittigen Sommerdress der Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André Eminger und Holger Gerlach – noch liefert der Artikel eine kritische Einschätzung zu den von der Bundesanwaltschaft verlesenen Plädoyers. In diesen wird Zschäpe nämlich genau nicht als diejenige beschrieben, die sich in ihrer Zeit im Untergrund alleinig um ihr Aussehen und die Verköstigung von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gekümmert hat. Ganz im Gegenteil: Die BAW sieht ihre Anklageschrift in allen Punkten bestätigt – auch was die gleichberechtigte Einbindung Zschäpes in die Planung der Mord- und Anschlagsserie des NSU angeht. Aber nein, euer Artikel erwähnt die Beteiligung der Angeklagten Wohlleben und Schultze an der Beschaffung der Mordwaffe – über Zschäpe erfahren wir lediglich, dass sie „ein rot-orangenes, sommerliches Shirt mit kurzen Ärmeln, ein ungewohnt luftiges Outfit“ trägt. Ein solcher Beitrag liefert eine Steilvorlage für das Bild der unpolitischen Mitläuferin, als die sich Beate Zschäpe in ihrer Einlassung vor Gericht verkaufen wollte.
Über die sich darin manifestierenden Geschlechterklischees wurde schon so viel geschrieben: Mädchen und Frauen waren und sind fester Teil des Netzwerkes NSU. Zschäpe war eine von ihnen – und wird von euch dämonisiert und umgarnt als „Teufel, der sich schick macht“.
Fünf Tage lang verlas die BAW Teile ihres Plädoyers. Anderthalb Wochen diskutierten Beteiligte und Beobachter*innen des Prozesses über die Leerstellen dessen. Und ihr brecht das runter auf die Momentaufnahme Zschäpes, aus Froschperspektive im Gerichtssaal abgelichtet – ähnlich einer Businessfrau, die sich ihren Sommerurlaub gar redlich verdient habe?! Diejenigen, die nicht nur ihr „Business“ erledigten, sondern seit 379 Verhandlungstagen immer wieder den Blick auf die Hintergründe von zehn Morden und drei Anschlägen werfen, sind die Nebenklagevertreter*innen. Ihnen gilt unsere Anerkennung; den nicht zur Ruhe kommenden Angehörigen und Opfern gilt unsere tiefe Anteilnahme. Sie werden nicht in die „Sommerpause“ gehen, und die Erinnerung an ihre Liebsten im Münchner OLG lassen. Einige von ihnen haben in den letzten Tagen auch vor Ort die Plädoyers der Anklagebehörde verfolgt – und wurden bitter enttäuscht, was den tatsächlichen Aufklärungswillen der BAW betrifft.
Ein gut gemeinter Ratschlag von uns an euch: Legt die Modezeitschriften bei Seite und verwendet die Sommerpause darauf, euch auf die weitere Verlesung der Plädoyers vorzubereiten. Diese folgen ab dem 31. August – und versprechen im Falle der Plädoyers der Nebenklage Einblicke zu Ideologie und Netzwerk des NSU sowie den vielen Fragen, die der Prozess bislang offen gelassen hat.
Euer
NSU-Watch