An diesem Verhandlungstag setzt Oberstaatsanwalt Weingarten der BAW fort. Er spricht über die Rolle der Angeklagten Wohlleben und Schultze im NSU-Komplex und um die Beschaffung der Tatwaffe Ceska. Er stellt dar, dass der Kauf einer Waffe mit Schalldämpfer gewünscht und beabsichtigt war und nicht, wie teilweise von den Angeklagten behauptet, Zufall. Auch verneint er die Möglichkeit, man habe nicht ahnen können, wofür die Waffe eingesetzt werden würde.
Tageszusammenfassung des 379. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 01.08.2017
Fünfter Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft
„Aller-, allerspätestens nach der Taschenlampengeschichte muss Carsten Schultze klargeworden sein, dass die ‘Typen’ ernst machen könnten mit der Waffe“, so fasste Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Jochen Weingarten, die Erörterung des fünften Tages des Plädoyers der Bundesanwaltschaft zum Angeklagten Schultze zusammen. Es ging noch einmal ausführlich um die Genese der Aussagen des einzig geständigen Angeklagten Schultze und ihre zeitliche Einordnung und Verknüpfung mit Ereignissen, die von Schultze darin erwähnt werden. Bei der Übergabe der Ceska 83 in Chemnitz sei Schultze mitgeteilt worden, dass die beiden untergetauchten Männer in Nürnberg in einem Laden „eine Taschenlampe“ abgestellt hätten. Bei der Taschenlampe, mit deren Abstellen sich die beiden NSU-Mitglieder gegenüber Schultze rühmten, handelt es sich um den Rohrbombenanschlag auf die Kneipe eines türkisch-stämmigen Betreibers in Nürnberg. Außerdem hatte Carsten Schultze berichtet, der Mitangeklagte Ralf Wohlleben habe ihm einmal am Ende eines Telefonats lachend erzählt, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten jemanden angeschossen. Weingarten versuchte nun den indiziellen Nachweis zu führen, dass es sich bei dem Vorfall um den Schuss auf einen jungen Mann gehandelt haben muss, der ihnen nach ihrem ersten bekannten Überfall auf einen Edeka-Markt in Chemnitz Ende 1998 nachgeeilt war. Der Schuss verfehlte den Zeugen und Nebenkläger F. K. um Haaresbreite. Auf keinen Fall könne es sich bei dieser Episode um den ersten NSU-Mord der Ceska-Serie gehandelt haben, so Weingarten, da auf Enver Şimşek am 09.09.2000 neunmal geschossen worden sei, davon sechsmal in den Kopf. Das hätten die Mörder Şimşeks schwerlich als „angeschossen“ bezeichnen können, so Weingarten.
Diese diffizile Analyse dessen, was Schultze im Laufe der Zeit nach Auffliegen des NSU ausgesagt hatte, diente dazu, Carsten Schultzes Tatvorsatz, der für Schuld- und Strafzumessung relevant ist, schonungslos herauszuarbeiten– trotz Schultzes Aussagebereitschaft und der glaubhaften Reue und Kooperation mit den Ermittler_innen. Weingarten gelang es in einem weiteren Block am Ende dieses Verhandlungstages nachzuweisen, dass Schultze – zur fraglichen Zeit noch überzeugter Anhänger und Aktivist der rechten Szene Jenas, der sich von seiner „verantwortungsvollen“ Aufgabe der Kontaktpflege mit den gesuchten Kameraden jedenfalls geehrt und gefördert gefühlt hat, – durch die erwähnten Mitteilungen sehr wohl wissen konnte, welchen Zweck die von ihm abgelieferte Waffen haben sollte, was seine Mitverantwortung an der Mordserie des NSU und seine bewusste Beihilfe unterstreiche. Letztlich stellte Weingarten fest, dass Schultze die Mordwaffe Ceska – deren Zwecksetzung durch den von ihm bestellten und vom Waffenschieber Andreas Schultz mitgelieferten Schalldämpfer noch offensichtlicher geworden sei – trotz dieser Ahnungen, die Schultze selbst als „Bauchschmerzen“ bezeichnete, im Jahr 2000 bewusst an die ihm als fanatisch-ideologische und gewaltaffine Nazis bekannten Mundlos und Böhnhardt übergeben habe.
Noch eindeutiger und vernichtender fiel die Beurteilung der Rolle des Angeklagten Ralf Wohlleben durch die Bundesanwaltschaft aus: In langen argumentativen Bögen arbeitete Weingarten dessen zentrale Rolle als „Konspirationszuchtmeister“ und „Mastermind mit überlegenem Sonderwissen“ heraus. Bei Wohlleben seien alle Fäden der Jenaer Unterstützerszene zusammengelaufen und er habe im Hintergrund steuernd die Unterstützung der Untergetauchten organisiert und auch für deren Bewaffnung gesorgt. Letzteres auch nicht nur einmal durch Schultze und die Ceska 83, sondern ein weiteres Mal durch den Mitangeklagten Holger Gerlach, der eine weitere Waffe – ohne Schalldämpfer – zu einem Zeitpunkt nach den ersten Morden in Zwickau abgeliefert habe. Die Aussage Gerlachs bei der Polizei, Schultzes nach der Festnahme und im Gerichtssal, aber auch die Einlassungen zahlreicher anderer Angehöriger der Jenaer Naziszene ergeben nach Weingartens Interpretation eindeutig diese „zuchtmeisterliche“ Position Wohllebens und den Umfang seiner wissentlichen und – im ideologischen Kontext – willentlichen Beihilfehandlungen.
Zwei Beispiele verdeutlichen die Stringenz von Weingartens Aufbereitung sogar der in Wohllebens eigenen Sinne überaus fragwürdigen Einlassungen selbst. So sei etwa die – von Weingarten als Schutzbehauptung bezeichnete – Version Wohllebens, er habe sich geziert, überhaupt eine Waffe für Uwe Böhnhardt zu besorgen, da er befürchtet habe, Böhnhardt wolle sie zum Suizid im Falle seiner Entdeckung durch die Verfolgungsbehörden verwenden, wofür er, Wohlleben, auf keinen Fall mitverantwortlich habe sein wollen., „abseitig“: Wenn man der Feststellung folgt, dass die über Wohlleben von Schultze besorgten 50 Schuss Munition und der Schalldämpfer von vornherein mit bestellt worden sind. Geradezu genüsslich ventilierte Weingarten die Frage, wozu der „Suizident“ denn für die einmalige Schussabgabe so viel Munition brauche und ob ihm in der Stunde der Selbsttötung noch sein eigenes oder das Gehör anderer in der Umgebung noch derart wichtig sein könne, dass er einen Schalldämpfer gebrauchen wolle. Auch die angebliche Bestellung ausdrücklich „einer Pistole und keines Revolvers“, und zwar eines „deutschen Fabrikats“, bestätige den reinen Schutzcharakter von Wohllebens Schilderungen, denn für einen Suizid sei die Waffenart und auch – „Neonazi hin oder her“ (Weingarten) – eine deutsche Herkunft des Tötungsinstruments völlig unerheblich.
Wohlleben habe sich, so Weingarten, vielfach in seiner Aussage „verheddert“ und „verplappert“ oder sie sei durch Aussagen wie die des Zeugen St. eindrucksvoll widerlegt. St. hatte berichtet, das Wohlleben ihn nach dem Untertauchen der drei aufgefordert habe, einen größeren Betrag für sie in die Solidaritätskasse einzuzahlen. St. habe sich geweigert und Wohlleben habe ihn daraufhin mit seiner Beteiligung an der „Puppentorso“-Aktion zu erpressen versucht. In seiner Aussage verwies St. auf die vor deren Untertauchen durch „Puppentorso“, Drohbriefe, Bombenattrappen und den Sprengstoff in der Garage offenbar gewordene Eskalation der operativen Radikalisierung von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Er habe sich damals gefragt, was denn von den dreien als nächstes kommen solle. Weingarten: „St. hat bereits 1998 mit allem gerechnet, und das obwohl er zu keinem Zeitpunkt eine Pistole mit Schalldämpfer und 50 Schuss Munition liefern sollte. Die rhetorische Frage sei erlaubt: Und ausgerechnet Ralf Wohlleben soll sich die Unkalkulierbarkeit der drei nicht aufgedrängt haben?“
Auch der Zeuge Jürgen Helbig – „ebenfalls nicht mit seherischen Kräften, sondern mit einem bodenständigen Realitätssinn ausgestattet“ (Weingarten) – habe bereits 1999 bei einer Vernehmung durch den MAD die drei Untergetauchten mit Rechtsterroristen auf einer Stufe gesehen und Uwe Böhnhardt des Waffeneinsatzes gegen „Ausländer“ für fähig eingeschätzt, erklärte Weingarten. Nebenbei bestätige Wohllebens Verhalten in der Episode mit St. nochmals seine zentrale Rolle des Organisators der Unterstützung für den NSU. St. habe die Sache richtig erkannt und seine Unterstützungshandlungen eingestellt und die „Kameradschaftspflicht verweigert“
Dass sich Wohlleben keiner Illusionen über die Zwecksetzung der beschafften Waffen hingegeben haben kann, kann nach den Fakten, die Weingartens hierzu zusammengefasst hat, als nachgewiesen angesehen werden.
In einem weiteren Block befragte Weingarten die Aussagen Wohllebens und später auch Schultzes nach deren „intrinsischen und extrinsischen Motivation“, den untergetauchten „Kameraden“ zu helfen. Weingarten fördert dabei eine „völlig entgrenzte Radikalität“ und eine „völkisch motivierte Ausländerfeindlichkeit“ zutage, die eine Verbundenheit untereinander auf „von allen geteilte nationalsozialistische Einstellungen“ zurückführt. Und ausgerechnet Wohlleben, der in alle „Aktivitäten“ von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe – vor und zumindest in den ersten Jahren nach dem Untertauchen – eingeweiht war und den Kontakt zu ihnen in Sachsen herrisch koordinierte, soll nicht geahnt haben, noch überhaupt in Erwägung gezogen haben, dass die Untergetauchten drei mit dieser Schalldämpfer-Pistole Menschen töten wollten? Weingarten ließ auch diese Frage rhetorisch im Saal A 101 des Münchener Strafjustizzentrums stehen, der sich am Ende des Tages in die Sommerpause entleerte.
Nach der Sommerpause geht es am Donnerstag, 31. August 2017, um 09:30 Uhr weiter, nach Ankündigung der BAW mit der Würdigung der Angeklagten André Eminger und Holger Gerlach.
Presseerklärung von Vertreter_innen Nebenklage zum Zwischenstand des BAW-Plädoyers.
Hier geht es zur vollständigen Version des Protokolls.