von Andreas Bohl (20.09.17)
Am Anfang stand die Theateraufführung einer kleinen Bühne im Münchner Stadtteil Au im November 2016: „Off the record – Die Mauer des Schweigens“ von Christiane Mudra. Sie setzte die Verstrickung von zentralen Gestalten staatlicher Institutionen in den Tatkomplex des NSU in Szene und thematisierte die grundlegende Frage: Hat Staatsräson Vorrang vor Aufklärung schwerer Verbrechen?
Der Besuch des Theaterstücks war ein Glücksfall, denn an jenem Tag organisierte die Autorin im Anschluss an die Aufführung eine Podiumsdiskussion mit Dorothea Marx, Vorsitzende des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses und mit Rechtsanwalt Yavuz Narin. Er vertritt als Nebenklage-Anwalt im NSU-Prozess die Angehörigen von Theodorus Boulgarides, der am 15. Juni 2005 in München vom NSU ermordet wurde. Damit war mein Interesse für den Prozess geweckt, vor allem für dessen Bedeutung für die Verfasstheit unseres Staats und unserer Gesellschaft. Seit Mitte Dezember 2016 besuche ich die Verhandlungstage.
Rasch trat Ernüchterung ein. Wo waren die „großen Linien“ des Prozesses? Im seinerzeit ausgetragenen verfahrensrechtlichen Streit um die geplante Erstattung des forensisch-psychiatrischen Gutachtens durch den vom Gericht bestellten Prof. Henning Saß blieb ich orientierungslos. Hinzu kam: Das Procedere vor Betreten der Zuhörerempore, die Durchsuchung, der finstere Treppenaufgang, all dies hielt mich während der ersten Wochen auf Distanz. Mir kam es vor wie ein Blick in eine mir fremde Welt, in der mir doch, wie allen anderen Besucherinnen und Besuchern, als Teil der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle zukam.
Die zahlreichen Verhandlungsunterbrechungen und damit Pausen im Aufenthaltsbereich neben der Zuschauerempore, so ermüdend sie oft waren und den von mir erhofften „Faden“ durch das Prozessgeschehen erst recht nicht erkennen ließen, erwiesen sich rasch als Gewinn. Gespräche mit anderen Gästen entwickelten sich, gelegentlich auch mit Vertreterinnen und Vertretern der Medien.
Manche Zuhörerin, mancher Zuhörer kommt mehr oder minder regelmäßig. Man lernt sich kennen. Menschen meines Alters (Mitte sechzig) äußern dabei häufig, dass sie sich nicht hätten vorstellen können, dass in unserem Land über Jahre unerkannt eine rechtsradikal motivierte Verbrechensserie dieses Ausmaßes möglich sei. Übereinstimmend fragen wir, ob es jetzt wohl weniger darum gehe, sich für weitergehende Veränderungen im Sinne linker, sozialistischer Politik einzusetzen, als eher darum, den zeitlebens kritisch erlebten bürgerlichen Rechtsstaat zu verteidigen. Mit vielen bin ich einig: Die Erosion rechtsstaatlicher Garantie, die für alle in unserem Land Lebenden zu gelten hat, dürfen wir nicht hinnehmen.
Wie viel gesellschaftlicher Druck wird dafür notwendig sein, und wer kann ihn aufbringen? Skepsis befällt mich, wenn ich daran denke, dass es viele Jahre währender Anstrengung eines Journalisten und eines Nebenklägeranwalts bedurfte, um die Behörden zu erneuten Ermittlungen zum Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 (!) zu bewegen.
Dank der verdienstvollen Arbeit der für NSU-Watch tätigen Menschen stehen Protokolle vom ersten Verhandlungstag an zur Verfügung. Mittlerweile bin ich bei der Lektüre des Protokolls vom 120. Verhandlungstag vom 26. Juni 2014 angelangt. Es geht um Zeugenaussagen der betroffenen iranischen Familie, deren eine Tochter schwerste Verletzungen erlitt, als ein vom NSU zu verantwortender Sprengsatz im hinteren Raum des Familienbetriebs in der Kölner Probsteigasse detonierte.
Im Prozessgeschehen stehen die Angeklagten im Mittelpunkt. Das liegt nahe, geht es doch darum, ihnen die vorgehaltenen Straftaten nachzuweisen. Es ist schwer erträglich, aber fast zwangsläufig: Die Ausrichtung des Prozesses auf die Angeklagten führt weg von den Tatopfern, weg von den Fragen, wie sie lebten, welche Ziele und Pläne sie hatten.
An einem Abend, außerhalb der Gerichtsverhandlung, ist es anders: Am 16. März dieses Jahres veranstaltet das Bündnis gegen Naziterror und Rassismus im Münchner Gewerkschaftshaus die Podiumsdiskussion „Mehr Fragen als Antworten. 4 Jahre NSU-Prozess – kein Schlussstrich!“. Neben einem Rechtsanwalt der Nebenklage und einem Journalisten (NSU-Watch, a.i.d.a. Archiv) sitzt Orhan Mangitay, ein Vertreter der IG-Keupstraße, am Podiumstisch. Er ist Mitherausgeber des Buchs „Die haben gedacht, wir waren das“, in dem Betroffene des vom NSU zu verantwortenden Bombenanschlags auf die Kölner Keupstraße zu Wort kommen.
Dass die Bundesanwaltschaft es bis auf den heutigen Tag unterlässt, gegen eigenes besseres Wissen die Ermittlungen und die Strafverfolgung gegen weitere längst bekannte Unterstützer des NSU voranzubringen, empfinde ich als skandalös. Nicht akzeptabel ist ebenso, dass die Bundesanwaltschaft nach der Handlungsmaxime „Staatswohl geht vor Aufklärung“ verfährt und Bezüge zu Verbindungen staatlicher Institutionen über das System der V-Männer unangetastet lässt. Wer erinnert sich noch an das Versprechen der Bundeskanzlerin anlässlich der zentralen Trauerfeier für die NSU-Opfer im Februar 2012? „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“
Mir schwant, dass dieses Versprechen nicht eingelöst wird. Im vergangenen Juli hat das Bundesverfassungsgericht für rechtens erkannt und in einer Presseerklärung mitgeteilt, dass die Bundesregierung „Auskünfte zum Einsatz verdeckt handelnder Personen in der Regel mit Hinweis auf eine Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte dieser Personen verweigern [darf], wenn bei Erteilung der begehrten Auskünfte ihre Enttarnung droht. In eng begrenzten Ausnahmefällen, wenn aufgrund besonderer Umstände eine Gefährdung grundrechtlich geschützter Belange und eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht ernsthaft zu befürchten ist, kann aber auch das parlamentarische Informationsinteresse überwiegen.“ Diese Entscheidung ist zu Auskünften zum Einsatz von V-Leuten im Zusammenhang mit dem Oktoberfestattentat ergangen. Wer entscheidet darüber, ob die zitierte Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste ernsthaft zu befürchten ist? Der Einfachheit halber gleich die Nachrichtendienste?
Für die Aufklärung des NSU-Tatkomplexes über das laufende Strafverfahren hinaus lässt das nichts Gutes erwarten. Trotzdem: So gut ich kann, werde ich das Prozessgeschehen weiter beobachten. Um Solidarität mit den Angehörigen und Hinterbliebenen der Mordopfer zu erklären und Respekt für die Nebenklägerinnen und Nebenkläger sowie ihre Vertretungen zu bekunden.
Sie stehen dafür, in einem Staat leben zu wollen, in dem ausgeschlossen ist, dass Straftaten unter dem Deckmantel der Staatsräson unaufgeklärt bleiben.