Historische Chance vertan – Die Bundesanwaltschaft plädiert im Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) kontrafaktisch

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Von Friedrich Burschel

Es kann niemanden überrascht haben, dass das Ende Juli endlich – nach über vier Jahren Prozess und 375 Verhandlungstagen – beginnende Plädoyer der Bundesanwaltschaft (BAW) im NSU-Prozess nur wiederholt, was sie schon Ende 2012 in ihrer Anklageschrift als unumstößliche Wahrheit verkündet hatte. Beim NSU habe es sich, so steht es in der Anklageschrift, um eine „bestmöglich nach außen abgeschottete“ und von „ihren bisherigen Freunden weitgehend abgekapselte“ terroristische Vereinigung gehandelt. Dass das seit geraumer Zeit widerlegt ist, kümmert die BAW offensichtlich nicht, ist es doch ihre Aufgabe, den Staat vor allzu frechen Nachfragen zu schützen.

Insofern konsequent insistierte der Sitzungsvertreter des Generalbundesanwalts im NSU-Prozess, Herbert Diemer, bereits im Mai darauf, dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und ihre beiden jetzt toten „Kameraden“ Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, „um eine Entdeckung zu vermeiden, (…) ihren Kontakt in ihr früheres Umfeld auf das Nötigste“ beschränkt hätten. Diemer wollte mit dieser Konstruktion einmal mehr die Befassung des Münchener Oberlandesgerichts mit dem mutmaßlich mehrere Dutzend, wenn nicht gar Hunderte Helfer_innen umfassenden Unterstützungsnetzwerkes des NSU abbiegen. Nebenklageanwält_innen der Hinterbliebenen der Opfer der neun rassistischen NSU-Morde, eines Polizistinnenmordes, der Opfer zahlreicher Mordversuche, der drei Bombenanschläge und der 15 Raubüberfälle hatten den Beweisantrag gestellt, einen weiteren, erst jüngst enttarnten Informanten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) als Zeugen zu hören. Dabei ging es um die Frage, welche Kontakte er, der V-Mann »Nias«, zum mit V-Leuten dicht besetzten Umfeld des NSU gehabt hatte. Immerhin war Stephan Lange, alias »Nias«, mal der Chef der Deutschland-Division des neonazistischen Netzwerkes Blood & Honour gewesen und hatte zahlreiche Kontakte in die thüringischen und sächsischen Kreise dieser Organisation, die den NSU nach dem Untertauchen unterstützten.

In diesem Zusammenhang hatte Diemer mehrere offenbar in Stein gemeißelte Wahrheiten der Bundesanwaltschaft noch einmal wiederholt und einen Einblick erlaubt in das, was die Öffentlichkeit vom Plädoyer der Behörde zu erwarten hatte: Es gebe keine Anhaltspunkte, dass das BfV die Aufklärung des NSU-Komplexes bewusst torpediert hätte, ließ Diemer die staundenden Zuhörer_innen wissen. Denn es sei „vielmehr so, dass die Ermittlungen in diesem Verfahren durch geheimdienstliche Informationen wesentlich gefördert wurden und die Aufdeckung ohne geheimdienstliche Informationen nicht möglich gewesen wäre“. Wie ungeheuer dreist diese Behauptung die Wirklichkeit auf den Kopf stellt, kann jede_r ermessen, der oder die sich die zahllosen Skandale ins Gedächtnis ruft, die angesichts der Obstruktions- und Vertuschungspolitik der Verfassungsschutz genannten Inlandsgeheimdienste – 17 an der Zahl – zutage gefördert wurden.

Zu erinnern wäre vor allem an den BfV-Mitarbeiter „Lothar Lingen“, der vor dem zweiten Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU mit seiner eigenen Aussage konfrontiert, einräumen musste, schon sechs Tage nach dem Auffliegen des NSU angeordnet zu haben, Akten mit NSU-Bezug zu vernichten. Und zwar eingestandenermaßen, um unangenehme Fragen von seinem Amt fernzuhalten. Im »Lingen«-Fall hatte die BAW das Gericht und die Öffentlichkeit auch nachweislich belogen. In Folge dieser initialen Vertuschung wurden in mehreren Verfassungsschutzbehörden einige Hundert Akten von NSU-Relevanz beiseite geschafft.

Fliegengesumm im Ohr

Schon im Mai hatte Diemer mit der Gravität der staatlichen Behörde und in der ihm eigenen gepflegten Rüpelhaftigkeit jene als „sogenannte NSU-Experten“ beschimpft, die „skanadalträchtige Spekulationen“ in die Welt setzten. In einer Art Vorwort zum Schlussvortrag der Bundesanwaltschaft Ende Juli legte er noch einmal nach und bezeichnete die Kritiker_innen der BAW, die seinen nicht mehr ganz frischen, aber für ihn unumstößlichen Schlussfolgerungen nicht folgen wollen, als „Irrlichter“ und „Fliegengesumm im Ohr“. Dass die starren Thesen der Bundesanwaltschaft durch ständige Wiederholung nicht an Stichhaltigkeit gewinnen, sondern sogar vom Bundestagsuntersuchungsausschuss in Frage gestellt werden, stört Diemer und seine beiden Kolleg_innen im NSU-Verfahren offenbar wenig.

Sie behaupten einfach und kontrafaktisch das Gegenteil: Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof, Anette Greger, nutzte die Gelegenheit des BAW-Plädoyers denn auch kurzerhand, um den aktiven Teil der Nebenklagevertretung im Sinne der Theorie der isolierten Drei-Personen-Zelle zu beleidigen und die Betroffenen der NSU-Verbrechen für dumm zu verkaufen. Sie sagte: „Eine Existenz von rechten Hintermännern an den Tatorten, die einige Rechtsanwälte ihren Mandanten offensichtlich versprochen hatten, hat sich bislang weder in den seit sechs Jahren laufenden Ermittlungen und der Hinweisbearbeitung, noch in der 360-tägigen Beweisaufnahme (…) noch in den breit angelegten Beweiserhebungen der zahlreichen Untersuchungsausschüsse bewahrheitet.“

Das hört sich gut an, stimmt nur leider nicht: Der zweite NSU-Bundestagsausschuss betont im Abschlussbericht und auch in der Anhörung dazu im Bundestag genau das Gegenteil, dass nämlich die BAW durchaus nicht ausermittelt habe, was zu ermitteln gewesen wäre. Auf Seite 947 des 1.800 Seiten starken Berichts vom Juni dieses Jahres heißt es etwa, dass »der Zeitdruck, unter dem die Ermittlungen … standen, mit dazu beitrug, das Ermittlungskonzept frühzeitig eng zu fassen. Zwar mag eine zügige Anklageerhebung nicht mit langwierigen Ermittlungen zu bundesweit agierenden Neonazi-Netzwerken vereinbar gewesen sein. Allerdings wäre nach Anklageerhebung eine breitere Ermittlungskonzeption möglich und aus Sicht des Ausschusses auch geboten gewesen. Schließlich stand und steht nicht fest, dass es keine weiteren strafbaren Unterstützungsleistungen gegeben hat.«

Wenn also Oberstaatsanwältin Greger im Fortgang des Plädoyers theatralisch ausruft, die Angeklagte Beate Zschäpe habe die „historische Chance“ verstreichen lassen, die Fragen der NSU-Betroffenen zu beantworten, so muss sich die BAW die Gegenfrage gefallen lassen: ob sie es nicht genauso macht, indem sie – wider besseren Wissens und entgegen dem Aufklärungsversprechen der Bundeskanzlerin – das NSU-Netzwerk herunterspielt und staatliche „Verstrickungen“, insbesondere des Verfassungsschutzes, kategorisch leugnet.


Friedrich Burschel ist Beobachter im NSU-Prozess für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und den nicht-kommerziellen Lokalsender Radio Lotte Weimar und unterstützt mit seiner Arbeit NSU-Watch.

Der Beitrag erschien zunächst in „analyse und kritik“ 629, 15.8.2017