Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.
Tageszusammenfassung des 381. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 01.09.2017
Siebter Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft
„Bei Kumulation der ihm vorliegenden Erkenntnisse führte für Gerlach kein Weg an der Einsicht vorbei, dass seine Freunde den ‘bewaffneten Kampf’ aufnehmen und auch mit Tötungsdelikten an missliebigen Personen aus Staat und Gesellschaft, darunter auch ausländische Mitbürger, fortführen würden“, so stieg Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten in den siebten Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft ein und setzte die am Tag zuvor begonnene Einschätzung des Angeklagten Holger Gerlach fort, in dessen Fall etliche vorgeworfene Unterstützungstaten bei Anklage bereits verjährt gewesen seien. Es liege bei ihm, Gerlach, ein aktives, jedoch erfolgloses Nicht-wissen-wollen eines für ihn selbst schädlichen Wissens vor, dass seine Freunde da nicht nur „herumuntergründeln“, sondern bereits bei der Begehung von Tötungsdelikten waren, so Weingarten. Entgegen den Erwartungen des Angeklagten sei ein bedingter Vorsatz (hinsichtlich der Unterstützung des NSU) in seinem Fall durchaus richterlich in Anschlag zu bringen, auch wenn er ganz guten Mutes ins Verfahren gegangen und keine Fragen mehr beantwortet habe, weil er – nachdem ihn 2011 die Ermittlungsrichter nicht für dringend tatverdächtig gehalten hatten – wohl gedacht habe: „Der Käse ist gegessen“. Weingarten beschrieb die gemeinsame Begeisterung für den historischen Nationalsozialismus als ideologische Grundlagen der Freundschaft Gerlachs mit den Untergetauchten, aus der sich dann die „kameradschaftliche Beistandspflicht“ ergeben habe. Dass Gerlach entgegen seinen Einlassungen sehr wohl der Ideologie verhaftet geblieben war, zeigten etwa eine SMS-Einladung zu einem Hammerskin-Konzert in Italien aus dem November 2011 und die Tatsache, dass Gerlach einen wegen neonazistischer Taten angeklagten Freund solidarisch zu einer Gerichtsverhandlung begleitet habe. Der politisch-ideologische Gleichklang mit den Dreien bis zum Schluss – bis auf einige Meinungsverschiedenheiten – habe ausgereicht, die bewaffneten Freunde weiter zu unterstützen: Die Loyalität zu den „Kameraden“ sei Gerlach wichtiger gewesen als das Leben ausländischer Mitbürger, von Bankangestellten und anderen vom NSU Betroffenen, schloss Weingarten seine Ausführungen zu Gerlach im „Tatsächlichen“.
Im Anschluss daran „lud“ Oberstaatsanwältin Greger „zu einem Themenwechsel ein“ und arbeitete in einer guten Stunde die Tatbestände der 15 dem NSU zugeschriebenen Bank- und Raubüberfälle im Verlaufe der 13 Jahre im Untergrund nach, bei denen es ja auch zu schweren Gewalttaten kam und zu einigen als versuchte Morde zu qualifizierenden Schusswaffeneinsätzen seitens der Räuber – zumeist Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu zweit, in einem Fall sollen es drei Personen gewesen sein, in einem Uwe Böhnhardt alleine. Beim ersten Überfall im Dezember 1998 auf einen Edeka-Markt in Chemnitz war den Räubern ein junger Mann nachgeeilt, auf den die Flüchtenden dann drei scharfe Schüsse abgaben, die ihn zwar verfehlten, aber potentiell tödlich waren und infolgedessen als versuchter Mord zu werten sind. Einen jungen Auszubildenden verletzte Böhnhardt ebenfalls potentiell tödlich, er trug schwere Verletzungen davon: beim Überfall auf eine Sparkassenfiliale in Zwickau Anfang Oktober 2006 traf den jungen Mann ein Bauchschuss, der seine Milz zerstörte und um Haaresbreite an der Wirbelsäule vorbeiging. Außerdem beschrieb Greger die zum Teil erheblichen Körperverletzungen einzelner Bankangestellter, die die Täter mit Gegenständen oder ihrer Waffe schlugen. Greger vergaß auch nicht die zum Teil schwere Traumatisierung der Betroffenen der äußerst brutalen Überfälle zu beschreiben, die diese bei ihren Zeugenaussagen im Prozess auf bedrückende Weise geschildert hatten.
Greger schritt danach zur strafrechtlichen Würdigung der in der Hauptverhandlung festgestellten Sachverhalte. Bei Beate Zschäpe schlägt die Bildung, Mitgliedschaft und Gründung einer terroristischen Vereinigung zu Buche nach Paragraph 129 a, der trotz einiger, durchaus nicht unbedeutender Änderungen während der Untergrundzeit des NSU volle Wirkung bei ihrer Verurteilung entfalten müsse. Einzig die Gründung der Vereinigung im Jahr 1998 sei verjährt. Demnach sei der NSU eine strukturierte Gruppe gewesen, habe auf Freiwilligkeit beruht, sei auf Dauer angelegt gewesen und habe aus drei Personen bestanden. Im Bekenntnis der Gruppe in der Außendarstellung, etwa durch den sogenannten NSU-Brief oder das Bekennervideo, sei ein „übergeordneter staatsfeindlicher Gruppenwille“ dokumentiert. Dieser Gruppenwille sei, so Greger, durchgehend auf die Begehung von Mord und Sprengstoffverbrechen ausgerichtet gewesen. Die Gewalttaten seien dazu bestimmt gewesen, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, die Anschläge seien aufgrund ihres Ausmaßes geeignet gewesen, die Bundesrepublik auch als Staat zu gefährden. Und auch, wenn die Vorgehensweise auf zunehmend psychopathische Züge bei Mundlos und Böhnhardt hinweise: das würde dem Verband weder Struktur noch Zwecksetzung nehmen, sagte Greger.
Beate Zschäpe sei darüber hinaus in 10 Fällen des Mordes, in einem Fall zusammenfallend mit einem versuchten Mord und gefährlicher Körperverletzung schuldig. Die gemeinschaftlich begangenen Morde seien, stellte die OStAin fest, durch Heimtücke und niedere Beweggründe gekennzeichnet. Dabei sei es nicht um Mordlust gegangen, ausschlaggebend sei die Einschüchterung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gewesen. Heimtücke heiße hier, keines der Opfer habe in der konkreten Situation mit einem Angriff gerechnet, es sei keine Gegenwehr möglich gewesen.
Der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße schlägt als versuchter Mord in 32 Fällen zu Buche, in 23 Fällen mit gefährlicher Körperverletzung. Auch hier hätten die Täter mit Tötungsabsicht gehandelt. Der „Stollendosenanschlag“ in der Kölner Probsteigasse ist laut Greger ebenso wie die erwähnten Schüsse bei den Überfällen als versuchter Mord zu werten. Dass Zschäpe an keinem der Tatorte selbst anwesend war, sondern „zu Hause“ für Absicherung, Legendierung und Logistik zuständig war und viele ihrer eigentlichen Handlungen als solche gar nicht strafbar waren, entlaste sie jedoch nicht von der Mittäterschaft als eingeschworenes und den Verbrechen zustimmendes Mitglied eines „verschworenen Triumvirats“. Die Durchführung und der Ausgang aller Taten sei auch vom Willen Zschäpes abhängig gewesen und die einzige Zwecksetzung der Gruppe sei es gewesen, fortlaufend und fortlaufend erfolgreich Mordanschläge aus staatsfeindlichen Motiven zu begehen. Ideologische Grundlage sei dabei der „Rechtsextremismus“ gewesen, so Greger. Und schließlich kommen noch drei versuchte Morde an arglosen Opfern, zwei Handwerkern und einer betagten Nachbarin, hinzu, derer sich Zschäpe bei der auch als „Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion“ zu wertenden Brandstiftung im letzten NSU-Unterschlupf in der Zwickauer Frühlingsstraße schuldig gemacht habe. Alles in allem lägen angesichts der vorgeworfenen und nachgewiesenen Taten nach Auffassung der BAW bei Zschäpe „grundsätzlich die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung vor“.
Im nächsten Block bewertete Oberstaatsanwalt Weingarten die Beihilfehandlungen der Angeklagten Wohlleben und Schultze, die vorsätzlich zu neun Morden Hilfe geleistet hätten. Sie haben wissentlich eine Waffe mit Schalldämpfer und „viel Munition“ beschafft und müssten es für naheliegend gehalten haben, dass die Belieferten damit Morde begehen würden. Die BAW wertet das als „volle gehilfenschaftliche Beihilfehandlung“. Dreh- und Angelpunkt des vorgeworfenen Handelns sei die dem historischen NS entlehnte „rechtsextremistische“ Einstellung, die der Verbundenheit mit den Untergetauchten zu Grunde gelegen habe. Sie hätten die rassistisch-völkischen Beweggründe geteilt und seien deshalb das konkrete Risiko der Lieferung eingegangen. Weingarten nannte das zutiefst verachtenswert und sprach die beiden Angeklagten direkt an: „Sie, Herr Wohlleben, Sie, Herr Schultze sind der Beihilfe zu neun Morden schuldig!“
Beim Angeklagten Eminger seien zwar die meisten Unterstützungshandlungen verjährt, doch ließen sich in drei Fällen – dem Anschlag in der Probsteigasse und zwei Raubüberfällen – konkrete und ideologisch gewollte Beihilfehandlungen durch Anmietung und Übergabe von Fahrzeugen feststellen, die im Falle des Anschlags in der Kölner Probsteigasse als Beihilfe zum versuchten Mord gewertet werden müssten, so Weingarten.
Obwohl man, so Weingarten, die Frage stellen könne, wo der Unterschied zwischen Eminger und Gerlach liege, die beide aus ideologischer Verbundenheit ihre untergetauchten „Kameraden“ unterstützten – auch Gerlachs Hingabe des Führerscheins hatte ja die Mordtaten und Raube direkt unterstützt, bei denen die Täter mit diesem Führerschein ein Tatfahrzeug gemietet hatten –, lasse sich bei Holger Gerlach kein Gehilfenvorsatz nachweisen. Der Unterschied liege hier im subjektiven Bereich, also bei der Frage, was sich Gerlach bei der Übergabe von Führerschein und Reisepass an Uwe Böhnhardt gedacht habe. Anders als bei Eminger liege bei Gerlach kein Gehilfenvorsatz konkret im Hinblick auf die einzelnen Verbrechen des NSU und damit keine vorsätzliche Beihilfe vor. Gerlach habe im Unterschied zu Eminger kein „konkretisiertes Risikowissen“ gehabt, denn er sei nie ausdrücklich eingeweiht gewesen, was der NSU konkret tut und wie er es tut. Bei ihm bleibe also nur der noch nicht verjährte Teil der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
An drei Stellen beantragte die Bundesanwaltschaft einen rechtlichen Hinweis an die Angeklagten, dass die angeklagten Handlungen anders rechtlich gewürdigt werden können als in der Anklage. Bei Zschäpe ging es darum, dass die Brandstiftung in der Frühlingsstraße auch als Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion zu qualifizieren sei, sowie um technische Details zum Verhältnis des § 129a StGB zu den einzelnen Straftaten. Bei Eminger sei die Anmietung von Fahrzeugen für Raubüberfälle als Beihilfe zum bewaffneten Raub (nicht zum einfachen Raub, wie in der Anklage) einzustufen, denn die Beweisaufnahme habe ergeben, dass Eminger zum Zeitpunkt der Anmietung um die Bewaffnung des NSU wusste. Ob das Gericht entsprechende Hinweise erteilt, und wenn ja, wie die Verteidigungen Zschäpe und Eminger reagieren, bleibt abzuwarten.
Mit dieser rechtlichen Einschätzung endete der siebte Plädoyertag der Bundesanwaltschaft, eine abschließende Würdigung und die Forderung eines Strafmaßes wird am 12. September Bundesanwalt Herbert Diemer vortragen – wenn alles nach Plan läuft.
Die Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.