Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.
Tageszusammenfassung des 382. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 12.09.2017
Achter Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft
Man hätte ahnen können, wie turbulent der Tag verlaufen würde, denn als erstes ergingen von Seiten des Senats die von der Bundesanwaltschaft beantragten rechtlichen Hinweise auf eine strafverschärfende strengere Beurteilung von Taten, die dem Angeklagten André Eminger in der Anklageschrift zur Last gelegt werden [s. Zusammenfassung des 7. Plädoyertages].
Dabei ging es darum, dass die Anmietung von Fahrzeugen für Raubüberfälle durch Eminger nicht nur als Beihilfe zum einfachen, sondern zum bewaffneten Raub einzustufen seien, da er zum Zeitpunkt der Anmietung um die Bewaffnung des NSU gewusst habe.
Dass die Bundesanwaltschaft dann einen dramatischen Fokus auf Eminger legen würde und ihn für Beihilfe zum versuchten Mord im Falle des so genannten Stollendosenanschlags in der Kölner Probsteigasse, was als Beihilfe zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion gewertet wurde, sowie seine nachgewiesene Beihilfe zu einem schweren und einem besonders schweren Raubüberfall in den Jahren 2000 und 2003 mit einer Strafe von 12 Jahren Freiheitsentzug zu belegen wünscht, kam mit der Wucht und in der Höhe doch überraschend. Bundesanwalt Diemer erklärte die Höhe der beantragten Strafe für tat- und schuldangemessen und stellte auf deren spezial- und generalpräventiven Charakter ab.
Dass diese hohe Freiheitsstrafe zwangsläufig zu einem Haftantrag seitens der Anklagebehörde führen würde, war klar, sorgte aber für helle Aufregung auf den Zuschauerrängen und bei Eminger und seiner Verteidigung. Der Vorsitzende Richter Götzl setzte sodann den nächsten Verhandlungstag, an welchem die Plädoyers der Nebenklage beginnen sollten, ab, um in nicht-öffentlicher Sitzung über den Haftbefehl gegen André Eminger zu verhandeln. Er ließ Eminger jedoch schon im Saal vorläufig – eben bis zu diesem Termin – in Gewahrsam nehmen. Für viele Prozessbeobachter_innen bedeutete diese Ingewahrsamnahme Emingers eine gewisse Genugtuung, nachdem Eminger im Laufe der über 4 Jahre Prozess stets provozierend und verächtlich aufgetreten war und sich auch außerhalb des Gerichtssaals ungeniert zu seinem neonazistischen Gedankengut bekannte, indem er sich nicht nur auf einer Bagida-Demonstration in München, sondern auch bei dem skandalösen Nazi-Konzert im thüringischen Themar zeigte. Eine Verurteilung wegen Körperverletzung vor dem Amtsgericht Zwickau fand im Münchener Gerichtssaal keine Erwähnung, da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist.
Die Strafanträge der Bundesanwaltschaft gegen die anderen vier Angeklagten traten angesichts der Causa Eminger an diesem Tag beinahe in den Hintergrund, obwohl es auch die Bewertung der Schuld der Hauptangeklagten Beate Zschäpe in sich hatte: Die BAW forderte nicht nur eine lebenslängliche Haftstrafe für Zschäpe wegen zehnfachen Mordes und 39-fachen versuchten Mordes, sondern arbeitete auch eine „besondere Schwere der Schuld“ heraus, die eine vorzeitige Haftentlassung Zschäpes nach 15 Jahren unmöglich macht, und beantragte außerdem eine Sicherungsverwahrung nach dem Ende der Strafhaft. Bundesanwalt Diemer: „Die Sicherungsverwahrung ist nicht nur zulässig und geboten, sondern unerlässlich, um die Allgemeinheit vor dieser Frau zu schützen.“ In der Angeklagten öffne sich ein „Abgrund an Menschen- und Staatsfeindlichkeit“.
Für den bisherigen zweiten Hauptangeklagten Ralf Wohlleben beantragte die Bundesanwaltschaft wegen der Beihilfe zum Mord in neun Fällen eine Haftstrafe von 12 Jahren. Die Schuld der beiden Angeklagten Eminger und Wohlleben, so erklärte Diemer etwas später, sei durchaus „im Ergebnis vergleichbar“, weshalb eben beide auch mit der Haftandrohung von 12 Jahren bedacht worden seien.
Glimpflich kommt der Angeklagte Holger Gerlach bei der Strafforderung der Bundesanwaltschaft weg: Er hatte den NSU über Jahre unterstützt, indem er ihnen Reisepapiere, eine Fahrerlaubnis, eine Krankenversicherungskarte und andere Dokumente überließ. Er sei zwar nicht nur ein „Mitläufer“ des NSU gewesen, habe aber zur Aufklärung der NSU-Verbrechen durch seine Aussagen in den polizeilichen Vernehmungen entscheidend beigetragen. Für ihn verlangt die BAW eine 5-jährige Freiheitsstrafe.
Besonders milde soll nach Ansicht der BAW die Strafe für Carsten Schultze ausfallen, ohne den es eine Aufklärung der Taten des NSU und insbesondere der Beihilfeleistungen des Angeklagten Wohlleben so nicht gegeben hätte, wie Diemer hervorhob. Außerdem sei – nach gutachterlicher Bewertung – bei Schultze Jugendstrafrecht anzuwenden, dessen Strafrahmen wesentlich geringer ausfällt. Schultze, dessen Reue und Kooperationsbereitschaft am glaubhaftesten gewesen ist, soll laut dem Antrag der BAW lediglich 3 Jahre in Haft verbringen.
Im Publikum saßen an diesem Prozesstag auch zwei einschlägig bekannte Größen der deutschen Naziszene, nämlich zum einen der Jenaer André Kapke, der vor Jahren selbst Zeuge im Verfahren war. Er soll, nach Angaben von Wohlleben-Verteidigerin Nicole Schneiders, die Ehefrau Wohllebens nach München begleitet haben. Jacqueline Wohlleben, die im Prozess „Beistand“ für ihren Mann ist, nimmt seit Beginn der Plädoyers in dieser Rolle stets neben ihrem Ehemann Platz. Zum anderen war – mal wieder – der verurteilte Rechtsterrorist Karl-Heinz Statzberger im Saal, der schon am ersten Prozesstag anwesend war und sich selbstbewusst spreizte. Auch für sie – beide in der eindeutigen Nazi-Marke „Erik & Sons“ gekleidet, was von den Beamt_innen im Gerichtssaal wie in ähnlichen Fällen auch schon nicht erkannt wurde – kam die Ingewahrsamnahme Emingers überraschend und sorgte für lange Gesichter. Für die anwesenden Angehörigen der ermordeten Mehmet Turgut und Theodoros Boulgarides wird deren Anwesenheit – wie so oft schon in ähnlichen Konstellationen – ein Ärgernis gewesen sein.
Die Hauptverhandlung wird am Donnerstag, 14.09.2017, um 09:30 Uhr mit den Plädoyers der Nebenklage fortgesetzt.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.