von Heike Kleffner
Am 25. April 2007 gegen 14 Uhr wird die 22-jährige Polizistin Michèle Kiesewetter durch einen gezielten Kopfschuss aus nächster Nähe in Heilbronn getötet. Ihr Streifenpartner Martin A. erleidet durch einen zweiten Kopfschuss lebensgefährliche Verletzungen. Er leidet bis heute an den Folgen. Die beiden Beamt_innen hatten ihr Dienstfahrzeug auf der Theresienwiese in der Heilbronner Innenstadt geparkt und eine Zigaretten- und Mittagspause eingelegt.
Der Mord an Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen löst eine extensive Fahndung mit Straßensperren, Kontrollen und Dutzenden von Zeugenvernehmungen in Deutschland und Ex-Jugoslawien aus. Die Suche nach den Tätern endet erst am 4. November 2011, als in Eisenach in einem verbrannten Wohnmobil neben den Leichen der beiden Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Dienstpistole und ein Paar Handschellen von Michèle Kiesewetter gefunden werden. Auch in dem sogenannten Bekennervideo des NSU, das einige Wochen später bei Spiegel TV in Auszügen ausgestrahlt wird, nimmt der Mord an Michèle Kiesewetter einen hohen propagandistischen Stellenwert ein.[1]
Doch mit der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 und der seitdem anhaltenden parlamentarischen und strafrechtlichen Aufarbeitung des NSU-Komplexes sind auch im Mordfall Kiesewetter noch längst nicht alle Fragen beantwortet – ebenso wenig wie bei der rassistischen Mordserie des NSU an neun migrantischen Kleinunternehmern, den bislang bekannten drei Sprengstoffanschlägen und mehr als einem Dutzend Raubüberfällen. Im Gegenteil: Der Bundestags-Untersuchungsausschuss stellte im September 2013 im gemeinsamen Bewertungsteil des Abschlussberichts fest: »Mehr als in jedem anderen Fall hat der Ausschuss den Eindruck gewonnen, dass die bisherigen Ermittlungsergebnisse entscheidende Fragen offen lassen.«[2] Und die Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs kommen in ihrem im Frühjahr 2014 erschienen Buch »Heimatschutz« zu dem Schluss, die Ermittlungen im Mordfall Kiesewetter »gehörten zu den wahrscheinlich schlampigsten und sonderbarsten in der jüngeren deutschen Geschichte«.[3] Eine zentrale Ursache hierfür war, dass die Ermittler_innen über zwei Jahre lang eine DNA-Spur einer »unbekannten weiblichen Person« am Dienstfahrzeug der beiden Polizist_innen ins Zentrum ihrer Ermittlungen gestellt hatten. Auf der Grundlage dieser DNA-Spur konstruierten sie einen Tatverdacht gegen diese unbekannte Frau und fokussierten zudem ihre Ermittlungen auf eine Gruppe serbischer Roma, die sich am Tattag in Heilbronn in der Nähe des Tatortes auf der Theresienwiese aufgehalten hatten. Die Ermittlungen im Mordfall Kiesewetter sind ein klassisches Beispiel für den Glauben an die vermeintlich 100-prozentige Genauigkeit des genetischen Fingerabdrucks. Dieser Glaube wurde – gekoppelt mit rassistischen Ressentiments und Vorurteilen – zu einem massiven Ermittlungshindernis.
Eine »unbekannte weibliche Person«
Einen Monat nach dem Mord an Michèle Kiesewetter erfuhr die »Sonderkommission Parkplatz« vom Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg, dass am Dienstfahrzeug der Getöteten eine DNA-Spur festgestellt worden war. Das Profil der DNA, so das LKA, stimme mit dem Profil einer unbekannten Frau überein, welches zuvor schon an knapp drei Dutzend Tatorten von Straf- und Gewalttaten im In- und Ausland festgestellt worden war. Nur wenige Wochen nach dieser »Entdeckung« schreibt das Magazin Der Stern, die Polizei habe eine heiße Spur im Mordfall Kiesewetter. Ähnlich wie die mediale Berichterstattung zur rassistischen Mordserie, bei der die Täter_innen bis zum 4. November 2011 im Milieu einer »türkischen Mafia« verortet wurden, offenbaren Ausschnitte aus diesem Stern-Artikel vom Juni 2007 eine komplette Distanzlosigkeit zu den Darstellungen der zuständigen Polizeipressestelle:
»Wer ist die Frau, die in Heilbronn aus nächster Nähe eine junge Polizistin erschoss? Die seit 14 Jahren eine Spur des Verbrechens durch Süddeutschland, Österreich und Frankreich zieht? Die an über 20 Tatorten ihren genetischen Fingerabdruck hinterließ?«, heißt es unter der reißerischen Überschrift »Die Jagd nach dem Phantom«.[4] Um dann die Leser_innenschaft zu beruhigen: »Lange tappte die Polizei im Dunkeln. Jetzt weiß sie immerhin, wo sie suchen muss.« Dezidiert rassistisch und spekulativ geht es nach der Zwischenüberschrift »Die Spur ins Zigeunermilieu« wie folgt weiter: »Tatorte wie Freiburg, Heilbronn oder Worms liegen in der Nähe bekannter Stützpunkte großer Sinti- und Roma-Clans. Viele von ihnen nutzen ein Busunternehmen, das von Heilbronn aus regelmäßig nach Rumänien fährt (…). Am Tag des Polizistenmordes soll ein Bus nach Rumänien gefahren sein. Und schließlich hielten sich am verhängnisvollen 25. April mehrere Sinti- und Roma-Familien mit ihren Wohnwagen keine hundert Meter vom Tatort entfernt auf der Theresienwiese auf. Doch niemand will etwas gesehen haben.«
Die »unbekannte weibliche Person« wurde verdächtigt, an insgesamt 29 Straf- und Gewalttaten beteiligt gewesen zu sein, darunter zahlreiche Diebstähle und Einbrüche, ein Raubüberfall sowie mindestens zwei versuchte und drei vollendete Tötungsdelikte. Die Stern-Reporter_innen gaben ihren Leser_innen eine Auswahl: »11. Oktober 2001: Fund einer Heroinspritze in Gerolstein. Ein siebenjähriger Junge ist in die Nadel getreten, die Eltern erstatten Anzeige gegen Unbekannt wegen Körperverletzung. Jetzt ist klar: Die Frau ist drogenabhängig. In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 2001: Einbruch in einen Wohnwagen in Mainz-Budenheim. Die Frau übernachtet vermutlich hier und isst Kekse, an denen später Speichelreste gefunden werden. In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 2003: Einbruch in ein Büro in Dietzenbach bei Offenbach. Die Kaffeekasse wird gestohlen. Im Dezember 2003: Diebstahl eines Autos in Heilbronn. Als der Wagen wieder auftaucht, findet sich am Tankdeckel’die Gen-Spur der Frau. Der Täter wird gefasst, er gibt zu, Komplizen gehabt zu haben –allerdings keine Frau (…).« Zweifel an der Plausibilität der DNA-Spur »des Phantoms von Heilbronn«, die unter einigen Beamt_innen offenbar vorhanden waren, führten zwar zu einem weiteren Labortest, aber keineswegs dazu, dass die Ermittlungsrichtung prinzipiell infrage gestellt wurde.[5]
»Die Spur 101/104 Landfahrer«
Polizei und Medien suggerierten im Fall von Michèle Kiesewetter, es müsse sich bei der Frau um eine »Landfahrerin« oder »reisende Person« handeln. Schließlich sei ja die DNA-Spur der »unbekannten weiblichen Person« zwischen 1993 und 2007 an unterschiedlichsten Tatorten in Deutschland, Österreich und Frankreich gefunden und seien in Tatortnähe Roma serbischer Herkunft kontrolliert worden. Oder in den Worten von Romani Rose, des Vorsitzenden des Zentralrats deutscher Sinti und Roma: Hier »wurde eine ganze Minderheit unter Generalverdacht gestellt«.[6]
Anhand der Feststellungen des Bundestags-Untersuchungsausschusses zur » Spur 101/104 Landfahrer« im Mordfall Michèle Kiesewetter wird deutlich: Sogar noch nachdem im Dezember 2008 bekannt wurde, dass die verfolgte DNA-Spur von verunreinigten Wattestäbchen stammte und damit von einer Mitarbeiterin der Herstellerfirma,[7] wurde weiter gegen Einzelpersonen aus der serbischen Roma-Gruppe ermittelt. Und mehr als ein Dutzend Roma wurden auch im Mai 2009 erneut zur »beobachtenden Fahndung« ausgeschrieben.[8] Gegenüber dem Bundestags-Untersuchungsausschuss rechtfertigte einer der leitenden Ermittler das Vorgehen unter anderem damit, dass einige der Roma durch zahlreiche Straftaten polizeibekannt gewesen seien und man eine Zeitlang der Hypothese nachgegangen sei, die tödlichen Schüsse hätten im Zusammenhang mit einem sogenannten »Rip-Deal« gestanden – also organisiertem Raub oder Betrug.[9] Im März 2008 schreibt dann ein Beamter der SoKo Parkplatz an die Kollegen: »Vernehmung aller Zigeuner, die zur Tatzeit auf der Theresienwiese campiert haben!« Das Ergebnis dieser Anweisung war unter anderem eine Lügendetektor-Befragung eines Zeugen in Belgrad. Vor dem OLG München konfrontierte die Nebenklagevertreterin Angelika Lex einen Polizeibeamten damit, dass dieser Zeuge in den Akten der »Soko Parkplatz« als »Angehöriger einer Roma-Sippe« bezeichnet wird. Und der Psychologe, der die Befragung durchführte, habe gesagt, er sei ein »typischer Vertreter seiner Ethnie, wo Lügen zur üblichen Sozialisation gehört«. [10]
Letztendlich weist der Umgang mit der DNA-Spur eine große Ähnlichkeit zum Umgang mit den Massendaten auf, die von der sogenannten »BAO Bosporus« im Rahmen der Fahndung nach den Täter_innen der rassistischen Mordserie erhoben wurden: Bei Funkzellenabfragen an den neun Tatorten hatten die Ermittler_innen in sechs Jahren mehr als 20 Millionen Verbindungsdaten – vor allem von Mobiltelefonen – erhoben und am Ende knapp 14.000 sogenannte Stammdaten, also Namen und Adressen, herausgefiltert: zumeist von Migrant_innen.[11] Die Daten sind bis heute gespeichert, die allerwenigsten der Betroffenen wurden bislang darüber informiert. Letztendlich ging es den Fahnder_innen darum, die von rassistischen Vorannahmen geprägten Ermittlungshypothese mit vermeintlich »objektiven Beweismitteln« zu stützen. Das Ergebnis ist bekannt: Eine Täter-Opfer-Umkehr, die die Angehörigen der Mordopfer und die Verletzten der Bombenanschläge über Jahre stigmatisierte und isolierte und die den Handlungsraum der neonazistischen Täter_innen erheblich erweiterte.
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Fußnoten:
[1] Vgl. Transkript NSU-Bekennervideo, NSU Watch: www.nsu-watch.info/material/transkript-des-nsu-bekennervideos.
[2] BT-Drs. 17/14600, Bericht 2. PUA, S. 840f, online: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/49561254_kw08_sp_nsu/21577
[3] Stefan Aust/Dirk Laabs »Heimatschutz«, S. 703, München 2014.
[4] Ingrid Eißele/Rainer Nübel: Die Jagd nach dem Phantom, in: Der Stern, 29. 6.
2007.
[5] Vgl. BT-Drs. 17/16400, Bericht des 2. PUA, S. 642f.
[6] Wolf Schmidt: Heiße Spur ins Zigeunermilieu, in: taz, 13.4.2012.
[7] Jörg Diehl: Jagd auf das Phantom, Der Spiegel, 26.3.2009.
[8] Vgl. BT-Drs. 17/16400, Bericht des 2. PUA, S. 643f.
[9] a.a.O.
[10] Protokoll des 81. Verhandlungstags vor dem OLG München, NSU Watch: www.nsu-watch.info/2014/02/protokoll-81-verhandlungstag-30-januar-2014/
[11] Vgl. Andre Meister: Funkzellenabfragen bei NSU-Ermittlungen, netzpolitik.org,
19.10.2012.
Zuerst veröffentlicht in:
Gen-Ethisches Netzwerk (Hg.)
Identität auf Vorrat – zur Kritik der DNA-Sammelwut
ISBN 978-3-86241-439-0
Assoziation A