„Millimeter um Millimeter“ – Interview mit Dirk Laabs zur Arbeit der Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex

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Sitzung vom 11. Mai 2016 im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages (credit: Kilian Behrens / NSU-Watch

Während der NSU-Prozess in München nur langsam voran kommt, arbeiten bundesweit Untersuchungsausschüsse den NSU-Komplex auf. Deren Ergebnisse sind auch mühsam erkämpft und oft sehr kleinteilig. Dies hat zur Folge, dass sie in der öffentlichen Aufmerksamkeit oft untergehen. Der Journalist Dirk Laabs (Autor des Buches „Heimatschutz“) behält die Untersuchungsausschüsse und deren Ergebnisse unterdessen im Blick. Grund genug, ihn nach seiner Einschätzung und nach den Lücken der Aufklärung zu fragen. Caro Keller hat für NSU-Watch mit ihm gesprochen. Das Interview ist der Auftakt zu einer Reihe von Veröffentlichungen bei nsu-watch.info, die die Arbeit der Untersuchungsausschüsse in den Mittelpunkt stellen.

NSU-Watch: Wie ist der aktuelle Stand der Aufklärung durch Untersuchungsausschüsse, aus welchen Ausschüssen kamen zuletzt die spannendsten neuen Erkenntnisse?

Dirk Laabs: Nach wie vor kämpfen sich die Ausschüsse Millimeter um Millimeter voran, den großen Durchbruch hat es noch nirgends gegeben. Jüngste Aussagen in Stuttgart und Wiesbaden zeigen aber, dass es sich lohnt dranzubleiben. In Baden-Württemberg hat ein ehemaliges Mitglied des deutschen Ku-Klux-Klans zugegeben, dass er Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt kannte. In dem Klan war auch der V-Mann Corelli Mitglied, zudem ein Kollege der 2007 ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter. Hier gibt es also Überschneidungen, denen man weiter nachgehen kann und muss.
Vor dem Ausschuss in Hessen war sicher die Aussage von Corryna Görtz interessant. Sie hat zugeben, dass sie das Kasseler Internetcafé kannte, in dem Halit Yozgat 2006 erschossen wurde. Görtz hat das Café nach eigener Aussage in den Monaten sogar vor dem Mord besucht. Eine Bekannte aus dem Gefängnis habe ihr, so behauptete Görtz, den Tipp gegeben. Die hat das inzwischen im Ausschuss bestritten. Also ist unklar, wie Görtz ausgerechnet darauf kam, das Café von Halit Yozgat zu besuchen.
Görtz ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil sich schon in den 1990er Jahren als eine von zwei Frauen auf einer Liste geführt wurde, mit der das LKA Thüringen vor besonders gefährliche Rechtsextremistinnen eben in Thüringen gewarnt hat. Die andere Frau auf der Liste war damals Beate Zschäpe.
Dass im letzten Untersuchungsausschusses des Bundestages mehrere Zeugen bestätigt haben, dass sie Mundlos und Zschäpe bei Ralf „Manole“ Marschner alias V-Mann Primus gesehen haben, war sicher eine spektakuläre Erkenntnis. An dem Punkt hat man aber offenbar von Seiten der Behörden wenig Interesse, der Spur weiter nachzugehen

NSU-Watch: Welche zentralen Erkenntnisse lassen sich aus den letzten fast sechs Jahren Arbeit der Untersuchungsausschüsse zusammenfassen?

Laabs: Bei den Kernfragen – waren Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt die einzigen Kernmitglieder des NSU? Wie hat der NSU seine Opfer ausgesucht? Was wussten die vielen V-Personen im Umfeld des NSU wirklich? – ist man nicht oder kaum vorangekommen. Aber die Ausschüsse haben zweifelsfrei belegt, dass die militante rechte Szene genau wie die NPD von verschiedenen Verfassungsschutzbehörden unterwandert war. Und noch immer sind nicht alle Informanten bekannt, die in der Nähe des NSU eingesetzt waren. Die Frage ist also unverändert: Was haben Informanten, die sogenannten V-Personen wirklich über den NSU oder eine gewalttätige Terrorgruppe wie den NSU erfahren – und was haben sie gegebenenfalls den Behörden berichtet? Dass wir als Öffentlichkeit tatsächlich alles wissen, ist äußerst zweifelhaft – schon allein, weil in so vielen Behörden gezielt Akten vernichtet worden sind.

NSU-Watch: Wie lässt sich das Mittel des Untersuchungsausschuss als Instrument der Aufklärung im NSU-Komplex bewerten?

Laabs: Die Situation ist ja historisch einmalig – bislang haben sich zwölf Untersuchungsausschüsse mit dem NSU beschäftigt. Hunderte von Zeugen wurde gehört, Millionen Aktenseiten beigezogen. Aber die Masse ist nicht allein entscheidend – sonst wäre man ja in der Aufklärung schon sehr viel weiter. Den größten Erfolg hatte der erste Ausschuss in Thüringen. Warum? Weil die Abgeordneten in den Verfassungsschutz gehen und dort vor Ort im Archiv recherchieren durften – ohne dass die Behörde erst mal auf Zeit spielen konnte. In den anderen Ausschüssen stellt eben der Verfassungsschutz oder das Innenministerium selber die Akten zur Verfügung oder eben nicht. So sind die betroffenen Ausschüsse, etwa der in Hessen, mehr oder weniger auf die Gnade der Exekutive angewiesen. Wie sollen Abgeordnete so Prozesse innerhalb der Behörden aufklären können? Gerade mauert man besonders schlimm in Brandenburg – eine Rot-Rote Regierung hält dort den Ausschuss hin. Auch die Grünen blockieren in Hessen und Baden-Württemberg als Regierungsfraktion kräftig mit – das Prinzip funktioniert also über alle die Parteigrenzen hinweg. Die Ausschüsse sind zwar nicht gescheitert, aber sie sind doch zu oft von der Exekutive vorgeführt worden, die eben auf Zeit gespielt und die Aufklärer hingehalten haben.

NSU-Watch: Es kann also leider von einer „vollständigen Aufklärung“ im NSU-Komplex nicht die Rede sein. Was stand der Aufklärung in den Untersuchungsausschüssen entgegen, wie ließe sich dies lösen?

Laabs: Das eine ist, wie angemerkt, die Mauertaktik der Exekutive. Um jede Akte wird gekämpft, viele Dokumente werden zu oft zu lange zurückgehalten, geschwärzt oder wie jüngst in Hessen gleich 120 Jahre unter Verschluss genommen. Die Exekutive verhält sich schlicht vielerorts so, als hätte sie etwas zu verbergen. Die Abgeordneten müssten sehr viel härter mit Zeugen von betroffenen Behörden umspringen, wenn sie die Aufklärung behindern. Also: Wenn Zeugen wie Andreas Temme oder sein ehemaliger Chef Lutz Irrgang den ersten NSU-Ausschuss im Bundestag bewiesenermaßen anlügen und dann passiert nichts, sendet das natürlich die falsche Botschaft aus. Nämlich: Man darf ungestraft lügen. Wie sollte man so das Kartell des Schweigens brechen? Als Journalist kann man gegen bestimmte Entscheidungen klagen. Das habe ich jetzt mit Kollegen in mehreren Fälle getan. Unter anderem haben wir den hessischen Verfassungsschutz aufgefordert, verschiedene Verschlusssachen vorzulegen. Kommt das LfV dem nicht nach, klagen wir. Man muss jedes Mittel nutzen.

NSU-Watch: Was sind die anstehenden Aufgaben der Untersuchungsausschüsse?

Laabs: In Hessen gibt es nach wie vor die Aufgabe, Verfassungsschützer wie Andreas Temme und andere mit ihren Lügen nicht davonkommen zu lassen. Das gilt wie gesagt auch für den Bund. Dort ist es natürlich bitter, dass erst zum Ende der Arbeit des letzten Ausschusses publik wurde, dass ausgerechnet der Chef von Blood and Honour Deutschland, Stephan Lange, Informant des BfV war. Bislang hat das Parlament zu Lange alias „Nias“ keine Akten bekommen. Wann oder ob dieser Fall überhaupt auf Bundesebene aufgeklärt wird, ist noch völlig offen.

In Hamburg, aber noch viel mehr in Mecklenburg-Vorpommern zeigt sich, dass man durch parlamentarische Anfragen oder durch Unterausschüsse wie in Schwerin nur sehr begrenzt weiter kommt. Die Parlamentarier brauchen das Recht, Akten beizuziehen und Zeugen befragen zu dürfen – Rechte eines Untersuchungsausschusses. Das darf man beispielsweise in Schwerin in dem eingesetzten Unterausschuss noch nicht.
Mecklenburg-Vorpommern ist der blindeste Fleck im NSU-Komplex, obwohl es hier sehr viele Ansätze gibt: In Rostock wurde Mehmet Turgut erschossen, der NSU hatte dort langjährige Freunde, die in unmittelbarer Nähe des Tatorts lebten; der „Weiße Wolf“ wurde in dem Bundesland verlegt, ein Informant des Verfassungsschutzes hat seiner Behörde frühzeitig berichtet, dass der Weiße Wolf eine Spende mutmaßlich von einem NSU erhalten hat. Wie hat dieser V-Mann von der Spende erfahren? Was hat man mit der Information gemacht? Alles noch unklar. Zudem ist eine NSU-NSDAP-CD in Mecklenburg-Vorpommern aufgetaucht. Viele Ansätze, viele Fragen, aber auch viele Möglichkeiten in der Sache weiterzukommen.
Hamburg ist ein großes Rätsel, dort gibt es sehr viel weniger Ansatzpunkte als in Mecklenburg-Vorpommern, aber gerade deshalb müsste in der Hansestadt intensiver nach einem möglichen Unterstützernetzwerk des NSU gesucht werden. Auch auf parlamentarischer Ebene. Aber der politischen Wille wird aller Ortens immer schwächer, so dass abzuwarten bleibt, wie es mit der Aufklärung weitergeht. Die Arbeit der Untersuchungsausschüssen ist dabei oft frustrierend und kleinteilig, aber neben journalistischen Rercherchen das beste Mittel, was die Öffentlichkeit hat, um den NSU-Komplex weiter aufzuklären. Zur Zeit sieht es leider so aus, dass die Blockierer erfolgreich die Aufklärung aussitzen.