Nur „auf dem rechten Auge blind“? Staatsraison und NSU-Komplex

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© Christian-Ditsch.de

Während der NSU-Prozess in München langsam voran kommt, arbeiten bundesweit auch Untersuchungsausschüsse den NSU-Komplex auf. Deren Ergebnisse sind auch mühsam erkämpft und oft sehr kleinteilig. Gleichzeitig steht der gesamten Aufklärung im NSU-Komplex eine Staatsraison entgegen, wie Andreas Kallert und Vincent Gengnagel analysieren. Ihre Broschüre „Staatsraison statt Aufklärung – Zur Notwendigkeit einer staatskritischen Perspektive auf den NSU-Komplex“ wurde von der Rosa Luxemburg Stiftung veröffentlicht. Für nsu-watch.info haben sie eine Kurzversion der Broschüre verfasst. Der Artikel ist ein Teil der Reihe von Veröffentlichungen bei nsu-watch.info, die die Arbeit der Untersuchungsausschüsse und die Aufklärung außerhalb des Prozess in München in den Mittelpunkt stellen.

von Andreas Kallert und Vincent Gengnagel

Umfassende Aufklärung und die Kooperation aller Behörden hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 bei der Gedenkfeier für die Opfer des NSU versprochen. Trotzdem ist der NSU-Komplex weiterhin mit vielen Fragenzeichen zu MittäterInnen, MitwisserInnen und zur Beteiligung der Sicherheitsbehörden versehen. Das liegt aber nicht zuletzt an der Aufklärungsunwilligkeit dieser Behörden. Selbst die so genannte kritische Öffentlichkeit erwartet von ihnen immer wieder die Rolle des Aufklärers – und wird darin stets aufs Neue enttäuscht. Dabei wird schon allein am Fall Temme – ein hessischer Verfassungsschützer und V-Mann-Führer im Bereich Rechtsextremismus, der zur Tatzeit am Tatort beim rassistischen NSU-Mord an Halit Yozgat war – beispielhaft deutlich: Insbesondere die zahlreichen Geheimdienste und die Bundesanwaltschaft sehen ihre Aufgabe in erster Linie darin, das Vertrauen in die Behörden (sie selbst inbegriffen) zu sichern. Eine tatsächliche Aufklärung des NSU-Komplexes könnte das anscheinend gefährden. Da ist es nur folgerichtig, dass ihre Ermittlungen zielstrebig von einer staatlichen Mitverantwortung wegführen. Nicht zuletzt im Münchner Staatsschutzsenat lässt sich beobachten, wie der NSU aus Sicht der Bundesanwaltschaft völlig isoliert und vor allem fernab jeder staatlichen Mitwirkung operiert haben soll. An einer konsequenten Aufklärung versuchen sich dagegen zivilgesellschaftliche Akteure, die dem Geheimdienstler Andreas Temme anhand einer aufwändigen Rekonstruktion des Geschehens vom April 2006 (vgl. Forensic Architecture 2017) nachweisen können, dass er die Schüsse auf Yozgat gehört, seinen Körper gesehen und das Schießpulver gerochen haben muss – obwohl er dies seit mehr als zehn Jahren vor Kripo und Gericht sowie in Untersuchungsausschüssen folgenlos leugnen kann, gedeckt von seinen Vorgesetzten bis hoch zum derzeitigen hessischen Ministerpräsidenten der schwarz-grünen Landesregierung, Volker Bouffier (CDU).

Im Ergebnis muss festgehalten werden: Staatsschutz steht über Aufklärung. Warum diese blockierende Haltung der staatlichen Apparate allerdings wenig überraschend ist, soll ein kurzer Überblick über sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze zeigen, die auf den weitgehend funktionierenden inneren Zusammenhalt der Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex insgesamt abzielen. [1] Der Kitt, der diesen Zusammenhalt oftmals konkurrierender und widerstreitender Apparate ermöglicht, lässt sich am besten mit „Staatsraison“, der sich die einzelnen Akteure verbunden fühlen und verpflichtet sind, umschreiben. Diese den Apparaten und ihrem Personal strukturell eingeschriebene Staatsraison steht einer fundamentalen, behördenkritischen und damit offenbar schon „staatswohlgefährdenden“ Aufklärung des NSU-Komplexes entgegen – ob im Münchner Strafprozess oder in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Konkreter Ausdruck dieser Staatsraison im NSU-Komplex ist die Bezugnahme auf das „Staatswohl“, wie etwa exemplarisch durch Karl-Dieter Fritsche (CSU), von 1996-2005 Vizepräsident des Bundesverfassungsschutzes und von 2005-2009 Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt: Die „Funktionsfähigkeit und das Wohl des Staates und seiner Behörden“ seien „in einem Kernbereich besonders geschützt“ und daher dürften „keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren“ (Fritsche 2012).

Fritsches Aussage vor dem 1. Bundestags-Untersuchungsausschuss zum NSU schränkt die von Merkel und anderen PolitikerInnen versprochene Aufklärung im NSU-Komplex wesentlich ein: Die „Funktionsfähigkeit und das Wohl des Staates und seiner Behörden“ stünden in einem nicht näher definierten Kernbereich unter besonderem Schutz. Entscheidend ist, dass die Definition von „Staatswohl“ und „funktionierendem Regierungshandeln“ dabei geheim ist bzw. den Geheimdiensten vorbehalten bleibt, die im Verborgenen als „Dienstleister für die Demokratie“ (BfV-Präsident Maaßen auf verfassungsschutz.de) die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ schützen. In seltener Offenheit hat Fritsche damit gegenüber dem Bundestag ein undemokratisch definiertes Staatswohl zum obersten Staatsziel erklärt. Die konsequente Aufklärung des NSU-Komplexes und dafür notwendigerweise auch der Verstrickungen staatlicher Behörden erscheint demgegenüber als nachrangig. Deren Mitverantwortung aufzuklären wird darüber hinaus sogar als kontraproduktiv verstanden, wenn dadurch das Staatswohl gefährdet und das Regierungshandeln unterminiert werden könnte – etwa wenn die gerade in der rechten Szene weitverbreitete V-Personen-Praxis der Sicherheitsdienste zum Gegenstand der Ermittlungen würde. Ob und inwiefern etwa das Schreddern von aufklärungsrelevanten V-Mann-Akten im BfV dem Staatswohl geschuldet ist, muss also definitionsgemäß im Unklaren bleiben. Jedenfalls scheint auch Merkel mit einem solchen Verständnis von Staatsschutz zufrieden zu sein – das eingangs erwähnte Lippenbekenntnis zu einer umfassenden Aufklärung war nicht mehr als ein tagespolitischer PR-Kniff. Ihr dieses vollmundige Versprechen abzukaufen, nur um in der Folge enttäuscht zu sein, ist seinerseits Ausdruck eines naiven „Vertrauens in die Behörden“. Merkels Prioritäten sind da eindeutig, wie nicht nur aus ihren Äußerungen hervorgeht („Geheimes […] muss geheim bleiben können“, Merkel 2016), sondern auch aus ihrer Personalpolitik: Seit 2014 ist ebenjener Fritsche ihr Staatssekretär im Bundeskanzleramt sowie Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes und damit ranghöchster Beamter der Inneren Sicherheit.

Rechte Schlagseite: staatskritische Zugänge

Bislang mangelt es an sozialwissenschaftlichen Zugängen zum Thema Staatsraison im Spannungsfeld von NSU-Aufklärung und Staatsschutz (vgl. etwa Karakayali et al. 2017; Pichl 2015; Funke 2015). Etliche Untersuchungen und Beiträge zeichnen zwar die Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland bis zum NSU anhand zahlreicher Beispiele nach (vgl. etwa Röpke/Speit 2013; Förster 2014; Aust/Laabs 2014; Gensing 2012) und machen dabei allesamt die Grenzen einer umfassenden Aufklärung deutlich. Was jedoch oftmals fehlt – jenseits des ebenfalls dringend notwendigen Beitrags zur Geschichtsschreibung und einer moralischen Verurteilung –, ist eine Erklärung, die sich ganz grundsätzlich mit der rechten Schlagseite der Staatsraison befasst: Der Staat ist eben nicht „auf dem rechten Auge blind“ im Sinne eines zufälligen Handicaps, sondern hat an dieser einseitigen Perspektive ein strukturelles Interesse. Um den NSU-Komplex und seine Bearbeitung staatstheoretisch zu verstehen, ist es daher notwendig, die staatsseitige Konstruktion von „Funktionsfähigkeit“ und „Wohl des Staates und seiner Behörden“ nachzuvollziehen. Damit lässt sich der von Fritsche angesprochene, besonders zu schützende „Kernbereich“ konkretisieren und nachvollziehen, worin die Beschränkungen der Möglichkeiten rechtsstaatlicher Aufklärung in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und insbesondere dem Prozess im Münchner Staatsschutzsenat liegen bzw. inwiefern Aufklärung dem „Staatswohl“ gegenübersteht.

Grundsätzlich besteht aus einer kritischen Perspektive auf den bürgerlich-kapitalistischen Staat seine zentrale Aufgabe darin, mittels allgemeiner Gesetze sowohl die rechtliche Gleichheit aller BürgerInnen als auch das Privateigentum zu sichern. Dadurch garantiert der Staat die Kapitalakkumulation im Sinne einer “Ermöglichungsagentur kapitalistischer Bewegung“ (Lessenich 2009: 134) und ist als Steuerstaat zugleich auf wirtschaftliche Prosperität angewiesen. Infolgedessen ist er auch politisch nicht neutral gegenüber verschiedenen gesellschaftspolitischen Kräften, sondern parteiisch und mit eigenen Interessen ausgestattet (Offe 2006: 115). Kurz gesagt hat ein kapitalistischer Staat ein strukturelles Eigeninteresse an den dafür nötigen Rahmenbedingungen – relativ unabhängig davon, welche Parteien und PolitikerInnen gerade die politischen Positionen im Staat besetzen: Auf Dauer kann nicht gegen diesen Kern der Staatsraison regiert werden.
Daraus folgend lassen sich Staatsbehörden ideologisch tendenziell eher rechts verorten. Sie sind tendenziell gegen linke Ideen ausgerichtet, die sich oftmals gegen den Staat und die kapitalistische Verwertungslogik richten. Im Unterschied dazu haben Rechtskonservative und Nazis mit einem mächtigen Staat, Geheimdiensten und staatlichen Institutionen, die der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen sind, grundsätzlich weniger Probleme, da ihr vigilantistisches Selbstverständnis eher auf die Erhaltung oder Verstärkung des rassistischen Normalzustands abzielt – sie verstehen sich als ‚unverfälschter‘ und radikaler ‚verlängerter Arm‘ der Ordnungskräfte (vgl. Quent 2016: 130–163). Damit liegen sie auch nicht völlig daneben: Gerade die „repressiven Apparate“ (Althusser), die alle in erster Linie die mit Gewalt funktionierenden Institutionen umfassen – Justiz, Polizei, Militär, Geheimdienste –, stehen strukturell einem rechten Normensystem nahe.

Die ideologische Rechtslastigkeit und der entsprechende Korpsgeist hängen wiederum eng mit der Personalrekrutierung vor allem in genau diesen repressiven Staatsapparaten zusammen (siehe etwa KKK in Kiesewetters Polizeieinheit). Besonders dort reproduzieren sich eher rechtskonservative und autoritäre Milieus. Eine Studie zur Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität (Straflust) junger JuristInnen, die überwiegend das zukünftige (höhere) Personal in diesen repressiven Apparaten stellen, hatte 2014 zum Ergebnis, dass ein Drittel der JurastudentInnen die Todesstrafe befürwortet und die Hälfte Folter in bestimmten Fällen für zulässig betrachtet (vgl. Streng 2014). Wie gut ein rechtes Weltbild auch in der Praxis mit einer Karriere in den Sicherheitsapparaten vereinbar ist, zeigt sich beispielhaft daran, dass mit Maaßen ein Rechtsaußen und Kirchenasylfeind auf Fromm als Präsident des BfV folgte (vgl. Kallert/Gengnagel 2012). In Sachsen ist mit Gordian Meyer-Plath ein „Alter Herr“ der rechten Burschenschaft Marchia Bonn Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz. Bereits vor über 20 Jahren – als die späteren Mitglieder des NSU ihre grundlegende politische Sozialisation erfuhren – warf die Diskussion über den hohen Anteil von AnhängerInnen der rechtskonservativen bis -radikalen Partei „Die Republikaner“ unter PolizistInnen in den 1990ern ein Schlaglicht auf die Verbreitung gruppenbezogener menschenfeindlicher Einstellungen in den Sicherheitsapparaten (vgl. CILIP 1989; Bundesregierung 1994).

Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch weniger die rechte und rassistische Einstellung einzelner Personen, sondern vielmehr die Struktur, die dahinter steht und dafür verantwortlich ist, dass der Staat selbst grundsätzlich wenig Interesse an einer Problematisierung rechter Positionen hat (vgl. Schmidt/Greif 2017). Dieses Interesse ist umso geringer, je mehr die Gefahr besteht, dass aus einer Problematisierung eine Staatskrise erwachsen könnte – so auch im Fall des NSU-Komplexes, in dem deutsche Behörden über Jahre hinweg mindestens im Umfeld des neonazistischen Terrornetzwerks tätig waren.

Eine hilfreiche Kategorie zur Erklärung dieser Rechtslastigkeit ist der Begriff der strukturellen Selektivität, der zufolge die unterschiedlichen Staatsapparate manchen gesellschaftlichen Kräften gegenüber offener sind als anderen (Poulantzas 2002: 165 f.). Die staatlichen Apparate filtern sozusagen bestimmte Politiken und politische Kräfte: Strukturell sind daher im bürgerlichen Staat die Kapitalakkumulation und damit die Interessen des Kapitals wichtig und besonders schützenswert (und damit für „Staatsschutz“ konstitutiv). Die einzelnen Behörden weisen dabei widersprüchliche Selektivitäten auf, weshalb nur sehr verkürzt von „dem Staat“ gesprochen werden kann (vgl. Bretthauer 2006: 93). Poulantzas spricht von einer „Prioritätendetermination“ in den verschiedenen Staatsapparaten (Poulantzas 2002: 166). Auf den NSU-Komplex bezogen sind deshalb eine funktionierende Wirtschaft und das Vertrauen des Kapitals in die (rechtsstaatlichen) Institutionen wichtiger für das Staatswohl als das Aufklären von Morden an Menschen, die als MigrantInnen identifiziert werden: Deren Verunsicherung und Vertrauensverlust angesichts einer (nicht aufgeklärten) rassistischen Mordserie erscheinen demgegenüber als relativ irrelevant. Nicht zuletzt diese Prioritätensetzung bringt den kapitalismusimmanenten Rassismus zum Ausdruck (vgl. Hirsch 2005: 66 ff.).

Um die Dominanz rechter Interessen in bestimmten Staatsapparaten besser zu verstehen, ist zudem eine Erweiterung des Staatsbegriffes hilfreich: Hierzu lässt sich in Anlehnung an Antonio Gramsci zwischen einem erweiterten, integralen und einem engen, politischen Staat unterscheiden. Der erweiterte Staat umfasst dabei die sogenannte Zivilgesellschaft, die sich in Vereinen, Schulen, Gewerkschaften, Initiativen, Öffentlichkeit oder Kirchen als Gesamtheit der gesellschaftlichen Formen direkt und indirekt auf den Staat und dessen Ordnung bezieht. Der enge Staat meint die Staatsapparate, also die politischen und rechtlichen Institutionen und Prozesse, die gemeinhin dem Staatsgebilde zugerechnet werden. In den politischen Apparaten ist mittels des Gewaltmonopols mehr Gewalt und Zwang möglich und notwendig, um Hegemonie etwa in Bezug auf die Konstruktion von Staatswohl zu garantieren. Im erweiterten Staat der Zivilgesellschaft geht es dagegen potenziell liberaler zu, womit es dort auch mehr Spielraum gibt – etwa für moralische Empörung und Forderungen nach Aufklärung des NSU-Komplexes. Allerdings ist der aktive Konsens oder die mindestens passive Zustimmung der zivilen Gesellschaft wesentlicher Bestandteil der hegemonialen Ordnung (vgl. Hirsch 2002: 60): „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ (Gramsci 1991 ff.: H4, 783). [2]

Und genau diese Verortung der Hegemonie nicht nur im politischen Staat, sondern auch in der Zivilgesellschaft kann zu einer Erklärung beitragen, warum die Sicherheitsbehörden ihre intransparente und undemokratische Form des Staatsschutzes derart offensiv betreiben können: Es fehlt die Skandalisierung und der politische, öffentliche und mediale Druck in Reaktion auf die immer wiederkehrenden Aufklärungsbehinderungen der Apparate – das ist der Beitrag des weiteren Staates zum Vorrang des (Mit-)Täterschutzes vor Aufklärung in einer rechtsterroristischen Mordserie. Es muss demnach ein hegemoniales Desinteresse an einer Aufklärung der NSU-Morde und des gesamten NSU-Komplexes konstatiert werden – eine Hegemonie, die sich nicht nur auf das staatliche Feld beschränkt, sondern auch die „Staatsgläubigkeit“ der Zivilgesellschaft einschließt (vgl. Thomas et al. 2015: 146): Es gibt keine Großdemonstrationen, keine (General-)Streiks, keine Blockaden von Autobahnen (wie etwa noch 2007 in Hessen anlässlich der vergleichsweise banalen Studiengebühren) oder andere Formen zivilen Ungehorsams, die das Ausbleiben von Aufklärung skandalisieren. Nichts verleiht der Forderung vehement Ausdruck, es müsse auszuschließen sein, dass die deutschen Sicherheitsbehörden rassistischen Terror decken oder gar unterstützen.

Hegemoniale Wahrheitskonstruktionen: Wer gilt wann als glaubwürdig?

Über diese Passivität der Zivilgesellschaft hinaus ist die (hegemoniale) Konstruktion eines „Vertrauens in die Behörden“ von Bedeutung, bei der insbesondere das Aussageverhalten der ZeugInnen eine herausragende Rolle spielt, bzw. der Umgang mit diesem Verhalten: Vor allem Personen aus den repressiven Apparaten zeigten sich in der gesellschaftspolitischen Aufarbeitung des NSU-Komplexes oftmals wenig kooperativ und beriefen sich in heiklen Punkten erfolgreich auf Erinnerungslücken – bisher allerdings, ohne damit das Vertrauen in ihre Behörden zu beschädigen.

Das gilt besonders für den Fall Temme: Die taktische Form der impliziten Aussageverweigerung war derart erfolgreich, dass die Rolle des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz bei der Ermordung Yozgats in vielerlei Hinsicht weiterhin strittig bleiben muss. Zahlreiche Indizien – von zurückgehaltenen Akten und Falschaussagen über konspiratives Verhalten und restriktive Aussagegenehmigungen bis hin zu unabhängigen Gutachten – legen nahe: Das staatsseitige Narrativ, Temme sei „zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen, bildet seine Bedeutung für den NSU-Komplex alles andere als vollständig ab. Trotz zahlreicher Fragezeichen und Widersprüche wird Temme im NSU-Strafprozess vom Strafschutzsenat dennoch als glaubwürdig eingestuft (vgl. Burschel 2016). Wäre das nicht der Fall, wären zentrale Punkte der Anklageschrift hinfällig und würden direkt in eine Berufung münden – man müsste den längsten Prozess der BRD-Geschichte aufgrund einer potenziellen Verwicklung eines Staatsapparats in die rassistische Terrorserie komplett neu aufrollen. Das lässt die Prozesslogik ungeachtet der für alle Prozessbeteiligten offensichtlichen Unglaubwürdigkeit Temmes nicht zu. Den Spitzenleuten der hessischen Behörden wird damit im Ergebnis eine staatsdienliche Integrität bescheinigt, die über den zahlreichen Unstimmigkeiten zur Rolle Temmes steht.

Integrität und „Glaubwürdigkeit von Amts wegen“ genießen diese Personen allerdings nur so lange, wie ihre Aussagen das „Vertrauen in die Behörden“ nicht in Frage stellen. Besonders deutlich ist dies im Fall von Dr. Hans-Jürgen Förster geworden: Der ehemalige Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz Brandenburg, Oberstaatsanwalt und Unterabteilungsleiter im Bundesinnenministerium gab 2012 als amtierender Bundesanwalt am Bundesgerichtshof den Hinweis, dass der im NSU-Prozess angeklagte Ralf Wohlleben im ersten NPD-Verbotsverfahren Anfang der 2000er Jahre als eine V-Mann-Quelle aufgelistet worden sei (Deutscher Bundestag 2013: 278 ff.). Sollte das zutreffen, hätte eine Geheimdienstbehörde eine Quelle in unmittelbarer Nähe zum NSU-„Trio“ geführt, womit ein staatliches Nicht-Wissen um die Terrorgruppe kaum aufrechtzuerhalten wäre. Förster bekräftigte seine – potenziell eine Staatskrise auslösende – Aussage auch vor dem 1. parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestags: Detailliert schilderte er seine Erinnerungen und Abwägungen, ob seine Aussage nicht Geheimnisverrat darstelle. Förster und seine Aussagen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss wurden sowohl von seinen KollegInnen bei der Bundesanwaltschaft als auch von der kritischen Öffentlichkeit als unglaubwürdig eingestuft. Die Illustrierte Stern (23.11.2012) schrieb in ihrem Investigativ-Blog unter dem Titel „Wie ein V-Mann-Verdacht sich in Luft auflöste“, Försters Gedächtnis sei „ein ganz schlechter Ratgeber. Erinnerungen verblassen nicht nur, sie verfärben sich auch. […] Die ganze Aufregung war wohl vergebens.“

Trotz seiner Autorität von Amts wegen und seiner klaren Erinnerung an die Beschaffenheit des Dokuments mit den Klarnamen der Nazi-Spitzel wurde Försters Aussage jegliche Glaubwürdigkeit entzogen. Daran zeigt sich beispielhaft, dass die strukturelle Logik der repressiven Staatsapparate über der individuellen Integrität einzelner Mitglieder der Apparate steht, die zur Aufklärung im NSU-Komplex trotz eventuell staatsschädigender Folgen beitragen wollen. Sowohl die konsequente Dethematisierung von Försters Erinnerungen als auch die juristische Setzung von Temmes „Glaubwürdigkeit“ sind das Ergebnis hegemonialer Wahrheitskonstruktionen, die den Verdacht der Mitwisserschaft der Sicherheitsapparate an der NSU-Mordserie abwehren sollen. Ganz im Sinne von Fritsches Staatswohl-Doktrin wird damit letztendlich ein Unterminieren des Regierungshandelns verhindert.

Staatswohlgefährdende Aufklärung vs. hegemoniales Desinteresse

Derart offensiv können die repressiven Apparate ihre Form des Staatsschutzes deshalb betreiben, weil es weder Skandalisierung noch ernsthaften politischen, öffentlichen und medialen Druck in Reaktion auf die immer wiederkehrenden Aufklärungsbehinderungen der Apparate gibt – das ist ein weiterer Beitrag des integralen Staates zum Vorrang des (Mit-)Täterschutzes vor Aufklärung.

Um dem NSU-Komplex stattdessen gesellschaftliche Relevanz zu verleihen, bräuchte es darüber hinaus entschiedene Formen politischer Auseinandersetzungen und zivilgesellschaftlichen Ungehorsams, um den Druck auf die staatlichen Apparate und die Kosten der Nichtaufklärung in die Höhe zu treiben. Erst wenn zum Beispiel das deutsche Bruttoinlandsprodukt oder das Investitionsklima beeinträchtigt wären, käme man dem harten Kern des bürgerlichen Staatswesens etwas näher, und die Definition von Staatsschutz könnte und müsste sich dahingehend verändern, dass die Offenlegung der Hintermänner und der Rolle staatlicher Strukturen im NSU-Komplex Staatsraison wird. Kurz: Die scheinbar über dem Recht stehenden Behörden und die Straflosigkeit ihrer Aktivitäten müssten selbst als staatswohlgefährdend gelten bzw. für staatswohlgefährdende Reaktionen sorgen. Dafür bräuchte es jedoch breiten gesellschaftlichen Gegenwind. Solange allerdings das hegemoniale Desinteresse – zum Beispiel an der vielfach hervorragenden Arbeit investigativer JournalistInnen, die sich am NSU abarbeiten und die skandalöse Rolle der Behörden kritisieren – nicht durchbrochen wird und die Forderung nach Aufklärung lediglich eine untergeordnete Rolle in den öffentlichen Diskursen spielt, steht die Staatsraison einer fundamentalen Aufklärung des NSU weiterhin entgegen. Es wäre die zivilgesellschaftliche Verantwortung, diese strukturelle Schieflage im kapitalistischen Staat zu erkennen und daraus die richtigen Lehren zu ziehen. Wer den NSU-Komplex tatsächlich aufklären möchte, muss eine staatskritische Perspektive einnehmen und somit konsequenterweise auch eine Gefährdung des „Staatswohl“ in Kauf nehmen – statt über Merkels leeres Aufklärungsversprechen enttäuscht zu sein, staatlichen Akteuren die federführende Rolle des Aufklärers zuzuschreiben und den NSU-Komplex mit dem Ende des Prozesses im Münchner Staatsschutzsenat abzuhaken. Unter den gegebenen Bedingungen wird die Forderung nach Aufklärung allerdings nur von wenigen zivilgesellschaftlichen Gruppen und an den kritischen Rändern der Öffentlichkeit erhoben. Dem Versagen und der Vertuschung der staatlichen Apparate – denen des engeren Staates – folgte und folgt ein Versagen des zivilgesellschaftlichen weiteren Staates, der den jahrelangen rassistischen Terror auch nach dessen Enttarnung immer noch mit Desinteresse belohnt und damit an der Festigung einer menschenverachtenden Staatsraison entscheidend mitwirkt. Auf jeden Fall nicht zu verhindern sind so rechtsterroristische Verstrickungen deutscher Behörden, denen die Zivilgesellschaft aller Ungereimtheiten zum Trotz ungebrochen ihr Vertrauen entgegenbringt. Vor diesem Hintergrund steht zu befürchten, dass BundeskanzlerInnen auch zukünftig bei Nazimorden vollmundig Aufklärung versprechen können, ohne sich dabei lächerlich zu machen.

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Fußnoten:

[1] Der Blog-Beitrag basiert auf unserer ausführlicheren Analyse „Staatsraison statt Aufklärung. Zur Notwendigkeit einer staatskritischen Perspektive auf den NSU-Komplex“ (2017) , bestell- und abrufbar bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

[2] Wie Sabine Kebir (1991: 72) treffend formuliert: „In den modernen bürgerlichen Demokratien haben wir es mit einer Konsensbildung zu tun, die in hohem Maße auf der Ebene der Zivilgesellschaft stattfindet. Und doch weiß jeder, dass die politische Gesellschaft auch heute in Reserveposition – aber nicht in Ruheposition – dahintersteht: Konsensbildend ist nicht nur der Sportverein, sondern auch die permanente Aktivität der juristischen Organe, welche eine wichtige Aufgabe gerade darin haben, das Anwachsen alternativen Potenzials in der Zivilgesellschaft zu verhindern, beispielsweise durch Berufsverbote für linke Lehrer. Konsensbildend ist nicht nur die Diskussion, sondern auch ein gelegentlicher Demonstrationstoter oder auch nur neue Einsatzgeräte der Polizei.“

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Literatur:

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