Während der Plädoyerphase des Prozesses werden hier aktuell und fortlaufend Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese Zusammenfassungen sind auch auf unserer Protokoll-Seite unter dem jeweiligen Termin zu finden. Dort werden dann durch die jeweiligen Protokolle ersetzt werden.
Tageszusammenfassung des 394. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 05.12.2017
Achter Tag der Plädoyers der Nebenklage
An diesem Prozesstag setzte Antonia von der Behrens, die den jüngsten Sohn von Mehmet Kubaşık vertritt, ihr am vergangenen Prozesstag begonnenes Plädoyer fort. Sie kündigte an, darauf einzugehen, welche Akteur_innen nach der Selbstaufdeckung des NSU am 04.11. 2011 mit welchen Mitteln Aufklärung verhindert hätten. Grob fasste sie bereits zu Beginn des zweiten Teils ihres Schlussvortrages zusammen: „Bereits sechs Tage später, am 11. November 2011, wurden nicht nur im Bundesamt für Verfassungsschutz erste Akten vernichtet. Auch Bundesanwaltschaft und BKA legten bereits fest, nach welcher Maßgabe die Ermittlungen laufen sollten. Symptomatisch hierfür ist die Benennung der für den NSU-Komplex zuständigen Ermittlungseinheit des BKA als ‚BAO Trio‘ und nicht als ‚BAO NSU‘.“ Von dieser frühen Festlegung auf das Verständnis des NSU als abgeschottetes Trio, bestehend aus Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, sei der GBA auch in den folgenden sechseinhalb Jahren allen Fakten zum Trotz nicht abgerückt. Dies zeige auch das Plädoyer der Vertreter_innen des GBA. In diesen gesamten sechseinhalb Jahren seien die Ermittlungen fast ausschließlich von der Auswertung der in der Frühlingsstraße und im Wohnmobil in Eisenach sichergestellten Asservate und Recherchen zu den fünf Angeklagten bestimmt gewesen. „Andere Ermittlungsansätze, die zum Beispiel von Unterstützern am Tatorten ausgegangen wären, wurden nicht verfolgt.“ Es sei vielmehr klar: „Das Wissen des Verfassungsschutzes und sein Mitverschulden an der Entstehung des NSU und dessen Taten sollten aus dem Verfahren herausgehalten werden“ Je größer aber das ermittelte Netzwerk sei, desto unglaubwürdiger sei also das Nichtwissen der Behörden, das betreffe damit auch die Mitschuld der Behörden. V. d. Behrens: „Mehr noch: Die These vom abgeschottet agierenden Trio verschleiert die tatsächliche Gefährlichkeit und das tatsächliche Ausmaß militanter Nazistrukturen in Deutschland.“
Antonia v. d. Behrens ging anschließend detailliert auf die Rolle des Verfassungsschutzes ein. Dabei nannte sie drei Ebenen.
„1. Die Verfassungsschutzbehörden haben gegenüber den Ermittlungsbehörden auch nach dem 4. November 2011 relevantes Wissen zum NSU-Komplex zurückgehalten.
2. Die Verfassungsschutzbehörden haben Unterlagen vernichtet, aus denen sich für die Aufklärung relevantes Wissen hätte ergeben können.
3. Als Zeugen auftretende Verfassungsschützer und V-Männer haben relevantes Wissen zurückgehalten oder sogar die Unwahrheit gesagt.“
Zur ersten Ebene führte v. d. Behrens aus, dass man nicht genau wisse, wie viele V-Leute welche Informationen gegeben hätten. Das habe zur Folge, dass verfahrensrelevante Zeugen nicht gehört werden konnten. Viele Aktivitäten des BfV und der LfVs sprächen dagegen, dass sie nichts wussten. „Dabei ging von der Behrens u.a. auf Akten des Thüringer LfV zur Operation „Drilling“ ein und nannte hier auch neuere Erkenntnisse zur Identität eines V-Mannes: Bei der Quelle „Teleskop“ des BfV handele es sich um Ronny Ar.: „Dies wurde erst durch den im August 2017 veröffentlichten Bericht des zweiten Untersuchungsausschusses des Bundestages und die Vernehmung Ar.s durch den zweiten thüringischen Untersuchungsausschuss am 30. November 2017 offenbar. Ar. war Vertrauter Schultzes in den Jahren von dessen Unterstützungstätigkeit und hatte enge Kontakte zu Ralf Wohlleben.“ Von der Behrens ging auch auf die „erst vor wenigen Tagen berichtete Informanteneigenschaft des Dortmunder Neonazis Siegfried Borchardt, genannt „SS-Siggi“ ein.
Zur zweiten Ebene sagt v. d. Behrens, dass der Verfassungsschutz Informationen vernichtet und unterdrückt habe: „Von der Vielzahl der Aktenvernichtungen in den verschiedenen Verfassungsschutzbehörden nach dem 4. November 2011 zielte die Operation ‚Konfetti‘ im Bundesamt für Verfassungsschutz am offensichtlichsten auf die Vernichtung von Beweismitteln.“ Aber auch die Amtsleitung habe zur Verschleierung beigetragen, so v. d. Behrens. Es habe aber auch viele Vernichtungen von Informationen vor 2011 gegeben, führte v. d. Behrens aus. Akten seien vermisst oder irregulär vernichtet worden: „Aufgrund seiner Häufung kann das kein Zufall sein.“
V. d. Behrens kam dann zur Vernehmung von Verfassungsschutzmitarbeitern und V-Leuten in der Hauptverhandlung. Die sei „die dritte Methode, die Aufklärung zu behindern.“ Das sei das Mauern von V-Mann-Führern und V-Männern bei ihren Aussagen gewesen.
Im zweiten Abschnitt ging v. d. Behrens auf die Behinderung der Aufklärung durch die Bundesanwaltschaft ein. Auch hier stellte sie drei Ebenen dar:
„1. Der GBA hat sich frühzeitig auf die These vom NSU als abgeschottetes Trio festgelegt und nur in diese Richtung ermittelt. Er hat gezielt relevante Kontaktpersonen aus der Neonazi-Szene aus den Ermittlungen ausgespart bzw. geschont.
2. Der GBA hat relevante Ermittlungsergebnisse im NSU-Komplex dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten vorenthalten. Ermittlungshandlungen wurden gezielt in anderen Verfahren als dem Verfahren gegen Zschäpe u.a. vorgenommen. Die Vorlage von Bestandteilen dieser Akten und die Entscheidung von Akteneinsichtsgesuchen in diese Akten durch den GBA war willkürlich.
3. Der GBA hat gezielt die Rolle des Verfassungsschutzes, insbesondere die der V-Leute, aus der Anklage und aus den Ermittlungen herausgehalten bzw. entsprechende Ermittlungen hierzu faktisch geheim gehalten.“
Der GBA habe nur sehr selektiv Akten aus anderen Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt. So habe er beliebig steuern können, was vorgelegt wurde und was nicht. V. d. Behrens betont, dass durch die Selbstbeschränkung durch die Trio-These die Ermittlungen nicht effektiv habe geführt werden können. Diese Lücken zeigten sich im Verfahren. Auch falle der GBA bewusst hinter den Stand der Ermittlungen vor 2011 zurück. Neonazis seien vielmehr geschont worden, erst auf Beweisanträge der Nebenklage sei einiges ermittelt worden. Das ganze sei einem „Zirkelschluss des GBA“ geschuldet: „Der GBA behauptet, der NSU bestünde aus einer abgeschotteten Dreiergruppe, und er müsse deshalb keine Ermittlungen im Umfeld der Gruppe anstellen, da die nach seiner Version völlig abgeschottet agierenden Personen gegenüber anderen nichts offenbart hätten. Die These vom abgeschottet agierenden Trio wurde also nicht im Rahmen der Ermittlungen überprüft, vielmehr war sie das Argument, Ermittlungen erst gar nicht anzustellen und Anträgen und Fragen aus der Nebenklage entgegenzutreten.“
Nach einer Unterbrechung durch Zschäpe-Verteidiger RA Stahl, die zurückgewiesen wird, schließt v. d. Behrens mit dem GBA ab: „Der GBA hat also nicht wie er behauptet jeden Stein umgedreht, sondern er hat wider besseres Wissen viele ‚Steine‘ liegen gelassen. Er hat die Größe des NSU, das Netzwerk und das staatliche Mitverschulden nicht aufgeklärt.“
V. d. Behrens wendet sich nun dem Oberlandesgericht zu und fragt: „Welche Rolle hat in diesem kollusiven Zusammenwirken von Verfassungsschutz und Generalbundesanwalt der entscheidende Senat des Oberlandesgerichts München gespielt?“ Sie antwortet: „Der Senat hat sich – allerdings mit einigen wichtigen Ausnahmen – an die engen Vorgaben der Anklage gehalten und dem Aufklärungsanspruch der Nebenkläger auch nicht zur Geltung verholfen.“ Das Gericht habe mit seinem engen Verständnis von Aufklärungspflicht auch den Verfassungsschutz geschützt. Manche V-Leute und V-Mannführer seien geladen worden, viele aber eben auch nicht. Es habe einige unverständliche Beschlüsse zum Thema gegeben: „In zwei Entscheidungen hat der Senat sich sogar ganz unmissverständlich schützend vor die Verfassungsschutzämter gestellt. Dies offenbarte sich in den für all diejenigen, die die Hauptverhandlung verfolgt haben, vollkommen unverständlichen
Beschlüssen zu den Verfassungsschützern und Zeugen Rainer Görlitz und Andreas Temme: Görlitz und Temme haben für alle Beobachter im Gerichtssaal so offensichtlich die Unwahrheit gesagt, dass es schwer war, ihre Vernehmungen überhaupt nur zu ertragen. Und trotzdem stellte der Senat beiden Zeugen in seinen Beschlüssen ein Leumundszeugnis aus, in dem er ihre Angaben als glaubhaft qualifizierte.“
Zum Abschluss ihres Plädoyers erinnert Antonia v. d. Behrens an ihre verstorbene Kollegin Angelika Lex: „Sie war Nebenklagevertreterin von Yvonne Boulgarides, Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof und Antifaschistin. Sie hat in einer Rede vor Prozessbeginn gesagt: ‚Wir fordern umfassende Aufklärung der Sachverhalte: nicht nur der Tatbeiträge der jetzt Angeklagten, sondern umfassende Aufklärung auch über die gesamten Strukturen. Wir wollen Aufklärung, wer daran beteiligt war, die Opfer auszuwählen, die Tatorte auszuspionieren, die Fluchtwege zu sichern, Unterschlupf zu gewähren. Wir werden in diesem Verfahren nicht zulassen, dass die Aufarbeitung darauf beschränkt wird, die Verantwortung ausschließlich einigen Einzeltätern zuzuschreiben, und alle anderen ungeschoren davonkommen zu lassen. Das sind wir den Opfern und Angehörigen schuldig!
Die Wahrheit herauszufinden und sich nicht mit der Oberfläche und der einfachen Erklärung zufriedenzugeben, sondern in die Tiefe zu gehen, in die Abgründe zu schauen. Davor haben die Ermittler, die angeblichen Verfassungsschützer und die vielen staatlichen Stellen bislang die Augen verschlossen, weil man nicht wahrhaben will, was längst Wirklichkeit ist, dass ein weites rechtsterroristisches Netzwerk unbehelligt von polizeilichen Ermittlungen und mit logistischer, finanzieller und möglicherweise auch direkter personeller Unterstützung staatlicher Stellen tätig war und über ein Jahrzehnt mordend durch Deutschland gezogen ist.‘“ V. .d. Behrens schließt: „Dass diese vor Prozessbeginn erhobene Forderung nicht erfüllt ist, habe ich deutlich gemacht.“
Es folgte das Plädoyer des Nebenklage-Vertreters Dr. Björn Elberling, sein Mandant wurde Opfer eines versuchten Mordes beim ersten bekannten Raubüberfall des NSU in Chemnitz im Dezember 1998. Er kündigte an, zu den Raubtaten des NSU zu plädieren: „Die Raubtaten des NSU standen zu recht nicht im Zentrum des Verfahrens – es lassen sich gleichwohl aus den Ermittlungen und der Beweisaufnahme zu diesen Taten einige wichtige Schlüsse ziehen, die zum einen den NSU, seine Struktur und seine Taten betreffen, zum anderen die Rolle von Polizei, Bundesanwaltschaft und Inlandsgeheimdienst vor wie nach dem 04.11.2011.“ Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Mitglieder des NSU zwischen 1998 und 2011 zur Finanzierung ihres Lebens und der Morde und Anschläge mindestens fünfzehn Raubüberfälle unter Einsatz von scharfen Schusswaffen begangen hätten und dass sie dabei zweimal mit Tötungsvorsatz auf Zeugen geschossen hätten. Zschäpe und Eminger seien für die Überfälle vollumfänglich zu verurteilen.
Böhnhardt und Mundlos seien mit äußerster Brutalität vorgegangen: „Wir haben von der Traumatisierung vieler Betroffener gehört, die noch bei den Vernehmungen hier im Gerichtssaal, ein Jahrzehnt oder mehr nach den Taten, deutlich zu spüren war.“ Auch auf seinen Mandanten hätten sie in Richtung von Kopf und Oberkörper geschossen und nicht etwa in die Luft. Beim Überfall auf die Sparkassenfiliale in der Zwickauer Kosmonautenstraße habe Uwe Böhnhardt einem Azubi aus nächster Nähe in den Bauch geschossen: „Das Ausmaß der Brutalität schon bei diesen bloßen Logistikdelikten erlaubt mittelbar einen Einblick in die Brutalität und Menschenverachtung, mit der die NSU-Mörder ihre ideologisch motivierten Taten begingen, mit der sie sich daranmachten, verhasste ‚Ausländer‘ mit Kopfschüssen und Nagelbomben umzubringen.“ Elberling widersprach der Psychologisierung rassistischer Taten, wie sie u.a. die Verteidigung Wohlleben bzgl. Böhnhardt und Mundlos betrieb: „Sie gehört zu den Verdrängungsmechanismen, den Abwehrreaktionen in der Folge von rassistischen Verbrechen.“
Elberling kam zurück auf die Raubtaten des NSU. Diese ließen auch Rückschlüsse auf die Einbindung in das Unterstützungsnetzwerk zu. Vieles spreche dafür, dass diese Taten in der Szene bekannt waren oder sogar aus dieser unterstützt wurden. Daraus folge, dass es keinem Unterstützer verborgen geblieben sein könne, dass der NSU scharfe Waffen hatten, und diese auch bereit war zu nutzen. Elberling legt dar, dass sein Mandant zunächst nicht ermittelt wurde und dies erst nach nachdrücklichen Forderungen der Nebenklage und des Gerichts getan wurde. Er sei dann nicht schwer zu finden gewesen. Ähnlich sei dies bei den Betroffenen des Übergriffs an der Endhaltestelle in Jena gewesen. Erst auf Grund von Nachforschungen der Nebenklage seien die Betroffenen des zuvor als „Schlägerei“ verharmlosten Übergriffs ermittelt worden. Elberling geht auf die Ermittlungen zu den Raubtaten ein: „Die Raubermittler waren in der Lage, mit ganz normalen kriminalistischen Methoden – Auswertung von Zeugenaussagen, Überprüfung des Modus Operandi, Vergleich mit anderen Taten – den Tätern recht nahe zu kommen. Der Gegensatz zum Vorgehen der Mordermittler, die nicht einmal in der Lage waren, eine Serientat wie eine Serientat zu behandeln, ist genau Folge und Ausdruck des institutionellen Rassismus, der bei den Mordermittlungen zum Tragen kam.“ Elberling fasste zusammen, dass sich viele Aspekte des NSU-Komplexes bzgl. der Raubtaten wiederfinden ließen: „Die erschütternde Brutalität und Enthemmtheit der NSU-Mitglieder, ihre Eingebundenheit in ein Netzwerk eingeweihter Unterstützer, die der Staatsräson geschuldete Einengung der Ermittlungen anhand der These von der isolierten Dreier-Zelle und die Rolle des Verfassungsschutzes, der eine Aufklärung auch der Raubtaten – und damit möglicherweise auch insoweit die Verhinderung weiterer Morde – vereitelte.“
Diesem Plädoyer folgte der Schlussvortrag von NK-Vertreter Alexander Hoffmann, der zwei Betroffene des Anschlags in der Keupstraße beim Münchener Verfahren vertritt. Hoffmann kündigte an, zunächst Ausführungen zu seinen beiden Mandanten zu machen. Danach werde er sich der Ideologie des NSU zuwenden: „Der Ideologie, die die politische Rechtfertigung geliefert hat für eine ganze Mordserie, für versuchte Morde an einer großen Zahl von Menschen durch Bombenanschläge, für Botschaftsverbrechen, die einem ganzen Teil der Bevölkerung symbolisch und ausdrücklich das Lebensrecht in Deutschland absprechen sollten.“ Hofmann stellte den ersten Teil seines Plädoyers unter die Überschrift: „Niemand wird vergessen – Hiç unutmadık, unutmayacağız.“
Hoffmann führte aus, seine Mandantin habe sich bei dem Bombenanschlag im nach hinten liegenden Wohnzimmer befunden. Zunächst sei es so gewesen, dass „wer nicht offensichtlich unmittelbar durch die Bombe verletzt wurde, wurde nicht als Opfer der Bombenexplosion betrachtet. Diese Sichtweise war falsch, und die Hauptverhandlung hat dies bestätigt.“ Hoffmann argumentiert, warum seine Mandantin nebenklageberechtigt sei, was die Verteidigung Zschäpe in Frage gestellt hatte: „Es kommt darauf an, ob die Täter bei Tatbegehung den Tod der Bewohner des Wohnhauses für möglich hielten, jedenfalls billigend in Kauf nahmen. Der Umstand, dass nunmehr eine Verurteilung Zschäpes wegen einer Tat des versuchten Mordes in 32 Fällen, zu Lasten von 32 Menschen zu erwarten ist, ist ein Verdienst der Nebenkläger, die sich nicht abschrecken ließen, die auf ihrem Recht beharrten.“ Der GBA habe dies zehn Mensch vorenthalten wollen. Hoffmann: „Die Vernehmung der Mandantin und der behandelnden Ärzte war demütigend. Aber meine Mandantin ist daran nicht zerbrochen, sondern gewachsen! Sie war in diesem Prozess nicht nur Objekt der Beweisaufnahme, sondern hat als handelnde Person ihren Platz gefunden.“
Hoffmann zitiert dann Worte seines Mandanten Arif S., der sich am 392. Verhandlungstag auch persönlich geäußert hatte: „Ich sagte, es waren die Neonazis, der Polizeibeamte hat mir das Zeichen ‚Psst‘ gemacht, danach habe ich nicht mehr weiter gesprochen.“ In einem Interview habe sein Mandant geäußert, er wünsche sich ein Rechtssystem, dass für alle Menschen gleichermaßen bereitsteht und nicht eine Gruppe von Menschen außen vor lasse. Er wünsche sich auch, dass sich Menschen in den Straßen Deutschlands ohne Vorstellungen von Ungleichheit und Ausgrenzung begegnen. Ohne herabschauende Blicke und ausgrenzendes Verhalten.
Hoffmann setzte nun zum zweiten Teil seines Schlussvortrages, des Teils zur Ideologie des NSU an. Diesen stellte er unter die Überschrift: „Die Menschen an den Grenzen, sind die Geister, die wir riefen, es weiss doch jedes Kind, Geister kann man nicht erschiessen.“ Hoffmann: Die Auseinandersetzung mit der Ideologie des NSU ist die „mit einer Wahnvorstellung, der Vorstellung, es gäbe ‚Rassen‘, es gäbe ethnisch definierbare Völker und die Kultur einer Bevölkerung sei in irgendeiner Weise mit der Zugehörigkeit zu einer ‚Rasse‘ verknüpft.“ Es sei eine Ideologie, die die imaginierte weiße Rasse oder das angeblich existierende und durch – wahlweise – Blut, Gene oder Hautfarbe zusammengehörige deutsche Volk in permanenter Notwehrsituation gegen den herbeiphantasierten Volkstod, in einem beständigen „’heiligen Rassekrieg’“ sehe. Hoffmann zitierte einige Originaltexte der Neonazi-Szene und führte aus: „Auf Basis dieser Ideologie scheinen die Morde und Verbrechen des NSU sinnvoll, klar kalkuliert und letztlich sogar erfolgreich, weil sie dazu geführt haben, die Spaltung der Gesellschaft in sogenannte Deutsche und Fremde zu vergrößern.“ Hoffmann betonte, diese Spaltung der Gesellschaft entspreche zu 100 Prozent der Ideologie aller bekannten NSU-Mitglieder und Unterstützer. Sie finde sich u.a. beim THS, bei Blood & Honour, der NPD, den Hammerskins aber auch „in Höckes und Gaulands AfD, die zur Zeit die deutsche Gesellschaft nach rechts treibt.“ Hoffmann kam zurück auf die 1990er Jahre: „Die Mitglieder der Sektion Jena, darunter auch die Angeklagten Gerlach und Wohlleben, führten ihre Diskussionen über die Notwendigkeit bewaffneter Aktionen auf der Basis einer Ideologie, nach der das eigene Überleben nur durch die Vertreibung von erheblichen Bevölkerungsgruppen gesichert werden kann, und jede Handlung zur Sicherung des Fortbestands des herbeiphantasierten eigenen Volkes als Notwehr gegen einen ‚Völkermord‘ gerechtfertigt wäre.“
Danach konnte RA Hoffmann sein Plädoyer jedoch nicht beenden, da Ralf Wohlleben Konzentrationsschwierigkeiten angab. Damit endete der Prozesstag um 15:35 Uhr.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 393. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 29.11.2017
Siebter Tag der Plädoyers der Nebenklage.
Am heutigen 393. Prozesstag holte die Nebenklage-Anwältin Antonia von der Behrens zu einem großen Bogen aus, um in zehn Abschnitten chronologisch die Entwicklung der terroristischen Jenaer Neonazi-Szene im Detail aufzufächern und dem jeweils das Wissen und die Aktivitäten der „Sicherheitsbehörden“ gegenüberzustellen. Von der Behrens legte hierbei noch einmal pointiert unter anderem das Wissen dar, das aus einer großen Zahl von durch den Senat zumeist abgelehnten Beweisanträgen der Nebenklage bekannt ist.
Von der Behrens vertritt den jüngsten Sohn der Familie Kubaşık, der zur Tatzeit, als sein Vater Mehmet Kubaşık vom NSU ermordet wurde, sechs Jahre alt war. Für die Familie Kubaşık seien die zentralen Fragen, 1. wer das Netzwerk der für den Mord Verantwortlichen konstituiere und 2. welches staatliche Mitverschulden festgestellt werden könne, so von der Behrens. Beide Punkte hätten im NSU-Prozess behandelt werden müssen. Das, was über das Netzwerk und die Rolle der Sicherheitsbehörden bekannt sei, erklärte sie, wisse man trotz und nicht wegen der Verfassungsschutzämter und trotz der insoweit obstruierenden Ermittlungen des GBA. Das staatliche Mitverschulden bedeute aber nicht, „dass die Neonazi-Szene nicht auch ohne diese Unterstützung radikal und militant gewesen wäre und sie ohne den Verfassungsschutz ihren mörderischen Rassismus und Antisemitismus nicht in die Tat umgesetzt hätte“.
Von der Behrens ging nun chronologisch auf die verschiedenen Entwicklungsabschnitte des NSU ein, zunächst auf die Jahre bis 1996: Der Verfassungsschutz (VS) Thüringen habe Aufbau und Radikalisierung des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS) überwacht, indem er – seinem generellen Konzept für den Umgang mit der rechten Szene folgend –„Gründungs- und Führungspersonen als V-Männer anwarb“. Der VS habe den Strukturaufbau durch Straffreiheit für die V-Leute und deren finanzielle und logistische Ausstattung noch vorangetrieben. Selbst das Bundeskriminalamt habe dieses Vorgehen schon 1997 als „Brandstiftereffekt“ bezeichnet. Im Folgenden ging von der Behrens auf den V-Mann des bayerischen VS und Kader der neonazistischen „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ Kai Dalek ein. Der V-Mann Tino Brandt des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (TLfV), dessen Führungskader Dalek gewesen sei, habe vom VS Computer, Mobiltelefone und rund 200.000 DM Honorar und Spesen erhalten. Dieses Geld habe er zu einem Gutteil wieder in die Szene eingespeist, was dem Landesamt bekannt gewesen sei. Sämtliche der 30 Ermittlungsverfahren gegen Brandt seien eingestellt worden, vor Durchsuchungen sei Brandt gewarnt worden. Von der Behrens: „Das LfV Thüringen steuerte über Brandt faktisch den Aufbau des THS und duldete dessen Bemühungen um Radikalisierung und Militarisierung des THS“, ebenso wie das Landesamt über seinen V-Mann Marcel Degner „faktisch den Aufbau der ‚Blood & Honour‘-Sektion Thüringen steuerte und damit Einfluss nahm auf die B&H-Bundesdivision“.
Und all dies wisse man, obwohl ein Teil der Meldungen der V-Leute vernichtet worden oder nicht zugänglich sei, so von der Behrens. Das gesamte Ausmaß der Steuerung und der bei den Verfassungsschutzbehörden vorhandenen Erkenntnisse über diese Strukturen könne nur erahnt werden. Über Gründung und Aktivitäten der militanten Kameradschaft Jena bzw. der Sektion Jena des THS habe der VS auf Bundes- und Landesebene nicht nur durch Tino Brandt Kenntnis gehabt, sondern auch über den V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) „Corelli“: „Bereits am 21. Februar 1995 meldete Richter seinem V-Mann-Führer telefonisch, was er bei einem persönlichen Treffen von Uwe Mundlos erfahren hatte: Es sei von ca. 30 Personen eine neue Kameradschaft in Jena gegründet worden, die im Wesentlichen sogenannte Anti-Antifa-Arbeit betreibe und die zwei Ansprechpartner habe, die er mit Namen und Telefonnummer nannte.“ Von der Behrens: „Der ideologische Kern für die weitere Radikalisierung der Sektion Jena, die von der Drohung mit Gewalt zur Vorbereitung terroristischer Taten überging, ist ein von Vernichtungswillen getragener völkischer Rassismus und Antisemitismus.“ Die zunehmende Radikalisierung und die terroristischen Tendenzen des THS seien den Sicherheitsbehörden bekannt gewesen, dies habe aber durchaus nicht zu einer Unterbindung der verübten Straftaten geführt.
Nun sprach von der Behrens zur „Garage Nr. 5“, welche Beate Zschäpe angemietet hatte und welche vor dem Untertauchen zu einer Bombenwerkstatt ausgebaut worden war, in der fertige Rohrbomben und Sprengstoff gelagert waren: Die Dichte der Observationen von Mitgliedern, die Nähe von Brandt zur Sektion Jena und die Existenz noch unbekannter V-Männer im oder um den THS würden nur den Schluss zulassen, dass die Garage dem thüringischen VS lange vor dem offiziellem Auffinden bekannt gewesen sei. Die Durchsuchung der Garage am 26.01.1998 sei der Startschuss zum Abtauchen des späteren NSU-Kerntrios gewesen, so von der Behrens. Und weiter: „Das LfV Thüringen, die Staatsanwaltschaft Gera und das LKA Thüringen haben eine Festnahme von Böhnhardt vor oder während der Garagendurchsuchung aktiv behindert. Die Gründe dafür konnten weder unmittelbar nach der fehlgeschlagenen Polizeiaktion noch 15 Jahre später aufgeklärt werden.“ Es sei nach wie vor vollkommen unklar, ob das Handeln der beteiligten Akteure intendiert war, ob es auf denselben Motiven basierte, ob es gar abgesprochen war oder ob es sich einfach nur um ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände gehandelt habe. Die erstaunliche Kumulation der irregulären Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Durchsuchung lege allerdings nahe, dass zumindest das Untertauchen von Böhnhardt einkalkuliert gewesen sei.
Die Nebenklage-Anwältin räumte gründlich mit der Mär von Untertauchen und Untergrund auf: „Die drei führten in Chemnitz kein Leben im Untergrund, sondern waren höchstens abgetaucht; sie hielten sich in einer nur 100 Kilometer entfernten Stadt in einem ihnen ideologisch und freundschaftlich verbundenen und zudem von den Sicherheitsbehörden gut überwachten Neonazi-Netzwerk auf.“ Der Umgang mit relevanten Informationen lasse nur den Schluss zu, dass es nicht im Interesse des TLfV und wohl auch nicht im Interesse des Staatsschutzes des LKA Thüringen gewesen sei, dass die LKA-Zielfahndung die drei Gesuchten wirklich finde bzw. ihr Aufenthaltsort aktenkundig werde. „Da die Informationen, die bereits 1998 vorlagen, durch den Fund der Rohrbomben bestätigt worden waren und somit die Gefahr, die von den dreien ausging, auf der Hand lag, muss auch das Bundesamt für Verfassungsschutz spätestens ab Herbst 1998 eigene operative Maßnahmen zur Aufklärung durchgeführt haben.“ Rechtsanwältin von der Behrens zählte detailliert eine Vielzahl von Situationen auf, in denen die Behörden den Aufenthaltsort der Abgetauchten hätten in Erfahrung bringen und eine Festnahme versuchen müssen. Es sei, so von der Behrens, bei der Fülle von Erkenntnisquellen bzgl. des Unterstützerkreises schlechterdings unvorstellbar, dass keine originären Informationen zu den dreien und ihren Unterstützer_innen im Bundesamt angefallen seien, das sei einfach unglaubhaft. Angesichts dessen, wie offen und aktiv Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sich nach ihrem „Abtauchen“ als Teil der Chemnitzer Szene bewegt hätten und wie groß das Ausmaß der Überwachung ihrer Unterstützer_innen gewesen sei, sei es unter keinen Umständen nachvollziehbar, dass angeblich von keiner Behörde der konkrete Aufenthaltsort der drei festgestellt worden sei.
Fest steht nach von der Behrens, dass das NSU-Kerntrio noch vor der Begehung des ersten Mordes mit den verfügbaren Informationen von den Behörden hätte festgenommen werden können: „Zum Zeitpunkt der Beschaffung der späteren Tatwaffe und der Vorbereitung der Morde im Frühjahr 2000 wurde das gesamte Umfeld dicht und zwar deutlich engmaschiger als im Jahr 1999 überwacht.“ Aufgrund der Dichte der Überwachung müsse darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass die Behörden Kenntnis sowohl von der Beschaffung und/oder Lieferung einer scharfen Schusswaffe, der Ceska 83, gehabt hätten als auch vom Umzug von Chemnitz nach Zwickau. Rechtsanwältin von der Behrens ging hier detailliert u.a. auf das „Landser“-Verfahren, das Blood & Honour-Verbotsverfahren, das THS-Verbotsverfahren und die jeweils damit verbundenen Überwachungsmaßnahmen im NSU-Unterstützer_innen-Netzwerk ein. Dabei erwähnte sie auch, dass das BfV im Jahr 2000 Quellen in Thüringen gehabt habe, so etwa „Teleskop“, der als „Aussteiger“ über die NPD in Jena berichtet und Zugang insbesondere zum heute mitangeklagten Carsten Schultze gehabt habe. Seine Akte sei angeblich seit 2010 im BfV nicht mehr aufzufinden gewesen, gab von der Behrens trocken zu Protokoll.
Von der Behrens ging u.a. auf den sogenannten „Taschenlampenanschlag“ 1999 in der Gaststätte „Sonnenschein“ in der Nürnberger Scheurlstraße ein: „Es ist kein Zufall, dass Nürnberg als Tatort ausgewählt wurde. Vielmehr spricht alles dafür, dass Neonazis aus Nürnberg den NSU auf den konkreten Anschlagsort aufmerksam gemacht haben“, so von der Behrens. Ähnlich wie schon dieser Tatort habe auch der Tatort des ersten Mordes des NSU, des Mordes an Enver Şimşek, an einer Stelle gelegen, an die Ortsunkundige nicht zufällig geraten würden: „Allerdings war Mitgliedern der Nürnberger Neonazi-Szene der Blumenstand bekannt“.
Die Nebenklageanwältin fuhr im Plädoyer damit fort, den Aktivitäten des NSU-Netzwerks und der Unterstützer_innen jeweils das damalige Wissen bzw. die Aktivitäten der Sicherheitsbehörden gegenüberzustellen. Dabei verwies sie darauf, dass nicht abschließend ermittelt sei, wie Mundlos und Böhnhardt zu den ersten vier Mordtatorten gelangt sind, und erwähnt die Möglichkeit, dass die Fahrzeugbeschaffung über den BfV-V-Mann Ralf Marschner gelaufen sein könnte. Die Nähe des Kerntrios zu dieser illustren Gestalt der Zwickauer Nazi-Szene sei auffällig, so von der Behrens: „Nach dem Anschlag in der Probsteigasse und vor den weiteren Morden im Sommer 2001 zogen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in die Polenzstraße 2, die zentral in Zwickau und unweit der damals von Marschner betriebenen Szene-Läden lag.“ Das BfV könne über Marschner von den Taten des NSU erfahren haben. Darüber hinaus habe der V-Mann Thomas Starke dem LKA Berlin über „Personen aus Thüringen, die per Haftbefehl wegen Sprengstoff- und Waffenbesitzes“ gesucht würden, berichtet. Die Akten des Berliner VS zur Band „Landser“, in denen sich vielfältige Erkenntnisse zu Starke und den ehemaligen B&H-Strukturen in Chemnitz und somit potenziell auch Informationen zu denen dreien befunden haben könnten, seien nach dem 04.11.2011 irregulär vernichtet worden – angeblich versehentlich wegen einer Verwechslung. Das LfV Sachsen habe zu jener Zeit u.a. NSU-Unterstützer_innen um André Eminger und Mandy Struck überwacht. André Eminger sei z. B. allein nach Mitteilung des LfV Sachsen in den Jahren 2002 und 2003 mehrfach angeblich oder tatsächlich ohne Ergebnis observiert worden, eine erneute Observation sei später in den Jahren 2006 bis 2007 erfolgt. Inwieweit der Wohnungs- und Identitätsgeber Matthias Dienelt im Fokus des VS stand, wisse man nicht; er sei aber bei der Observation des LfV Sachsen des sogenannten „Konditionsmarsches“ der Weißen Bruderschaft Erzgebirge im Jahre 2000 festgestellt und identifiziert worden, so von der Behrens. Auch eine nur kurzzeitige Observation von Matthias Dienelt hätte „die Observanten zu Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe führen müssen“, so von der Behrens.
Im weiteren kam von der Behrens zurück zur Nichtwahrnehmung der NSU-Aktivitäten durch die Behörden: Ein im Editorial des Neonazifanzines „Der Weisse Wolf“ platzierte und hervorgehobene „Gruß an den NSU“ sagte sie: „Dass die zwei namentlich bekannten der 13 BfV-Mitarbeiter, die die Ausgabe auf ihrem Tisch hatten, den Gruß und seinen Kontext – wie behauptet – nicht wahrgenommen haben, ist vollkommen unglaubhaft“. Antonia von der Behrens verwies am Ende ihres ersten Plädoyerteils auf viele weitere offene Fragen hin: Zu Tatortausspähungen, zum Motiv und zu eventuellen Mittäter_innen des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter und des Mordanschlages auf ihren Kollegen Martin A. im April 2007 in Heilbronn und zum Grund für das Abbrechen der Mordserie in den Jahren 2002 und 2003. Von der Behrens: „Nach den Asservaten zu urteilen, gab es Überlegungen zur Fortführung der Mord- und Anschlagsserie, ob nun in Deutschland oder im Ausland“. Jedenfalls gebe es „erhebliche Hinweise darauf, dass ideologisch dem NSU und dessen Unterstützer_innen nahe stehende Kreise lange vor dem 04. November 2011 von der Existenz des NSU und dessen Gewalttaten wussten“, so von der Behrens. Eines von vielen Beispielen sei der „Dönerkiller“-Song der Naziband „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“, dessen Lesart der Mordserie sei gegenläufig zur herrschenden Berichterstattung gewesen und nur mit exklusivem Wissen denkbar.
Im Anschluss daran zählt Antonia von der Behrens weitere Ereignisse und Vorfälle auf, die auf ein frühzeitiges Wissen unterschiedlicher Verfassungsschutz-Behörden vom NSU hindeuten, u.a. die Geschichte Andreas Temmes und den allzu frühen Verdacht der Polizei, dass es sich bei den toten Bankräubern im Wohnmobil um Mundlos und Böhnhardt gehandelt habe. So kam von der Behrens zu dem Schluss, „dass das Netzwerk des NSU groß und bundesweit war und dass von einem abgeschottet agierenden Trio ebensowenig die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behörden keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU hatten.“ Die Frage nach einem Motiv für das Handeln der Sicherheitsbehörden sei unbeantwortet, so von der Behrens. Die dargestellten Vorgänge zeigten aber deutlich, „dass nichts für Fehler, sondern alles für gezieltes Handeln spricht.“
An dieser Stelle beendete der Vorsitzende Richter Götzl den Prozesstag um 15:35 Uhr. Antonia von der Behrens kann mit ihrem Plädoyer am Dienstag, 05.12.2017, um 09:30 Uhr fortfahren.
Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 392. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 28.11.2017
Sechster Tag der Plädoyers der Nebenklage
Nebenklageanwalt Stephan Kuhn, der ein Opfer des Nagelbombenanschlages in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 im NSU-Prozess vertritt, stieg in sein Plädoyer mit der Beschreibung der Beschaffenheit der dort vor einem Friseursalon abgestellten Nagelbombe mit den 800 Zimmermannsnägeln ein: „Neun Kilogramm Stahl, die dazu bestimmt waren, Fleisch zu durchbohren, wie das NSU-Bekennervideo mit seiner Bezeichnung ‘Aktion Dönerspieß’ für den Anschlag auf der Keupstraße noch einmal mit dem das eigene Menschenbild treffend ausdrückenden ‘Humor’ verdeutlicht.“ In Sekundenbruchteilen sei an diesem wunderschönen Sommertag ein Inferno über die belebte Straße hereingebrochen, so Kuhn. Mindestens 23 Menschen seien teilweise schwer verletzt worden und es sei ganz allein dem Zufall geschuldet gewesen, dass keine Todesopfer zu beklagen waren. Schwere Anschuldigungen erhob Kuhn dann gegen die beiden im Kontext der Nagelbombe nicht beschuldigten Angeklagten Eminger und Wohlleben: „Ich persönlich glaube, dass auch der Angeklagte Eminger vor dem Anschlag in die Tatplanung eingeweiht war und der Angeklagte Wohlleben zumindest in den Monaten nach der Tat von diesem Werk des NSU erfuhr.“ Eminger sei am Tattag in der Nähe des Tatortes, in Euskirchen, gewesen, Wohlleben habe Monate nach der Tat auf Ebay „nagelneue“ Teile eines Flugzeugmodells feilgeboten, wie sie auch in der Bombe verbaut gewesen seien.
Ausgehend von seinem Mandanten schilderte Kuhn sodann die Folgen des Anschlages für die Betroffenen, die außer mit den unmittelbaren körperlichen Verletzungen mit lebenslangen Traumata, paranoiden Angstzuständen, mit Berufsunfähigkeit und weiteren Zerrüttungen zu kämpfen haben. Ausführlich ging er auf die zunächst zutreffende Analyse des LKA NRW ein, dass zu dem Schluss kam, es sei den Tätern bei dem Anschlag darauf angekommen, durch die Verwendung einer relativ großen Menge Schwarzpulver, deren Wirkung durch etwa 800 Nägel noch erhöht wurde, eine möglichst breite, aufsehenerregende Wirkung zu erzielen. „Es sollten so viele türkische Personen wie möglich getroffen werden, ob diese Personen dabei verletzt oder getötet werden, bzw. um welche Personen es sich dabei im Einzelnen handelte, war den Tätern gleichgültig.“ Die Botschaft sei gewesen, zitiert Kuhn das LKA weiter: „Wir zünden die ‚Bombe‘ mitten in eurem ‚Wohnzimmer‘ – Ihr werdet euch dort nie mehr so wohl, so sicher wie früher fühlen und besorgt sein, dass das noch mal passiert.“ Die Botschaft sei bei den betroffenen türkisch- und kurdischstämmigen Menschen angekommen, der Anschlag aus Sicht der Täter_innen erfolgreich gewesen. Später hätten die Beamt_innen der Kriminalämter mit hanebüchenen Schlussfolgerungen alles eingerissen, was sie zuvor analytisch aufgebaut hätten, so Kuhn, obwohl Tatmittel,-ort und -zeit geradezu prototypisch den terroristischen Charakter der Tat und des NSU sowie die Menschenverachtung der von ihm verkörperten Ideologie ausdrückten.
Obwohl diese kriminalistischen Analysen richtig waren und auch etliche der Betroffenen zu Protokoll gaben, dass es sich um Nazis oder „Ausländerhasser“ gehandelt haben müsse, obwohl ein Zeuge den Täter, der die Bombe abstellte, als „blonden Deutschen bezeichnete“ und das LKA eine Stunde nach der Tat alle relevanten Stellen über diesen Fall „terroristischer Gewaltkriminalität“ informierte, richteten sich die Ermittlungen der Behörden ausschließlich gegen die Betroffenen, Bewohner_innen der Keupstraße und die Inhaber des Friseursalons. Selbst der Verfassungsschutz muss zunächst den richtigen Impuls gehabt haben, mutmaßte Kuhn, denn es habe noch am Tatabend der Beschaffungsleiter „Rechtsextremismus“ des Bundesamtes (BfV) versucht, Kontakt mit seinem Pendant in NRW aufzunehmen. Also werde, so Kuhn weiter, durch einen hochrangigen Mitarbeiter des Bereiches „Rechtsextremismus“ im BfV, der dienstlich u.a. mit den in diesem Verfahren relevanten V-Leuten „Corelli“, „Tarif“ und „Primus“ zu tun gehabt habe, veranschaulicht, dass auch von Seiten des Inlandsgeheimdienstes zu einem sehr frühen Zeitpunkt die richtigen Schlüsse aus dem objektiven Tatbild gezogen worden seien. Es seien sogar Parallelen zum Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse 2001 und auch zu der nazistischen Nagelbombenserie in London Ende der 90er Jahre gezogen worden.
Entgegen diesen richtigen Einschätzung wurde die Lagemeldung noch am selben Abend um das Wort „terroristisch“ entschärft und tags darauf widerrief der Bundesinnenminister Otto Schily selbst den terroristischen Charakter der Tat, brachte erstmals eine Tat im „kriminellen Milieu“ ins Spiel und immunisierte diese Wende mit den unterdessen berühmten Worten: „… aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, so dass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann.“ Anhand dieser Formel geht Schily bis heute gegen Kritiker_innen seines damaligen Verhaltens gerichtlich vor, wie zuletzt gegen Cem Özdemir. Für Stephan Kuhn ein Skandal: „Das war nicht nur objektiv falsch, es war – von wem auch immer – gelogen: Es gab keinerlei Erkenntnisse, die auf ein kriminelles Milieu hindeuteten und alle Erkenntnisse sprachen schon zu diesem Zeitpunkt für einen terroristischen Hintergrund.“ Die Folgen dieses abgestimmten Verhaltens sind bekannt: „Diese durch Politik und Behörden aktiv betriebene Verschleierung des Offensichtlichen hat das Feld bestellt, auf welchem die Saat des polizeilichen und medialen Alltagsrassismus gedeihen konnte.“ Zum Teil über Jahre wurde nun gegen die Betroffenen ermittelt, sie wurden observiert, es wurden fünf V-Leute und weitere verdeckte Ermittler im Keupstraßen-Umfeld platziert, Jahre zurückliegende Ermittlungen gegen Einzelne reaktiviert und die nun zu Beschuldigten gewendeten stundenlangen Verhören unterzogen und mit haltlosen und ehrenrührigen Verdächtigungen konfrontiert. Die Betroffenen nennen dieses Geschehen den „Anschlag nach dem Anschlag“ oder die „Bombe nach der Bombe“ und selbst der NSU-Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages spricht in seinem Abschlussbericht von der Opfer-Täter-Umkehr und „einer erneuten Viktimisierung der Opfer“. Zusammenfassend bezeichnete Kuhn diese Ermittlungen als Paradebeispiel institutionellen Rassismus’, wie ihn die MacPherson-Kommission in Großbritannien definiert, nämlich als „kollektives Versagen einer Organisation, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft eine angemessene und professionelle Dienstleistung zu bieten“. Die Kommunikationspolitik der Behördenleitungen und der (bewusste oder unbewusste) Alltagsrassismus ihrer Untergebenen hätten objektiv mitgeholfen, dass der Anschlag in der Keupstraße für den NSU zum Erfolg habe werden können, so Kuhn abschließend. Sein Plädoyer: „Hieran etwas zu ändern, eine Form von Rechtsfrieden wiederherzustellen, erfordert, dass man beides benennt: Es ist unredlich, den plumpen, mörderischen Rassismus der Emingers, Wohllebens, Gerlachs und Zschäpes zu geißeln, institutionellen Rassismus jedoch zu verschweigen.“
Ebenfalls ein Opfer des Nagelbombenanschlags vertritt Rechtsanwalt Berthold Fresenius, der in seinem Plädoyer an die Feststellungen seines Kollegen Kuhn anschloss, jedoch mit einer rasanten und folgenreichen Spitze gegen die Angeklagten und ihre Verteidigung startete, deren Gebaren er als „Beleidigung der Intelligenz der anderen Verfahrensbeteiligten“ bezeichnete. Insbesondere über Eminger sagte er, sein Anwalt würde ihn als einen Idioten bezeichnen, „als sei sonst Intelligenz ein konstituierendes Merkmal für die Begehung rechter Straftaten“. Ausgehend von der Herleitung seines Kollegen Kuhn zur Rolle Otto Schilys im Falle des Keupstraßen-Anschlags, warf er diesem die politische Orchestrierung gegen Menschen in der Keupstraße und ein staatlich geschaffenes Klima der Verdächtigung vor. Oberstaatsanwältin Greger habe sinngemäß im BAW-Plädoyer gesagt, die Keupstraße sei durch den Anschlag entseelt worden. Damit habe sie nur das Bombenattentat am 09.06.2014 gemeint, nicht jedoch staatliches Handeln, das sie nicht einmal thematisiert habe, so Fresenius. Das liege ganz auf Linie des Generalbundesanwalts, der als politischer Beamter weisungsgebunden sei und „darauf Bedacht zu nehmen“ habe, dass die bestimmten sicherheitspolitischen Ansichten der Regierung nicht gefährdet würden. Fresenius betonte dann, dass die Äußerung des damaligen Bundesinnenministers Schily bereits wenige Stunden nach dem Anschlag, die Tat deute auf ein „kriminelles Milieu“ hin, für viele Nebenkläger unmittelbar als Angriff auf die Opfer empfunden wurde. Sie hätten sich als potentielle Täter_innen gebrandmarkt gesehen und immer in der Angst gelebt, von der Polizei als Täter_innen verdächtigt zu werden. Schily habe so die „an rassistischen Vorstellungen und Mythen orientierte Vorgehensweise staatlicher Strafverfolgungsbehörden“ legitimiert. Damit „perpetuiert Otto Schily jenen Rassismus, unter dem die Opfer des NSU schon viel zu lange gelitten haben, nur um sich selbst und die deutschen Sicherheitsbehörden von jedem Fehlverhalten reinzuwaschen“, erklärte Fresenius.
Fresenius’ Mandant M.A. beschrieb in einer persönliche Erklärung, was ihm während des Anschlags zugestoßen ist: „Ich hatte Glück – ein Nagel schoss knapp an meinem Kopf vorbei in ein Regenrohr, durch die Wirkung der Bombe bin ich zu Boden gefallen und mein Trommelfell ist geplatzt.“ Ausführlich ging er auf die Leiden der Betroffenen ein, die nach dem Nagelbombenanschlag „von der deutschen Polizei als Täter, als Kriminelle behandelt, diskriminiert und in ihrer Ehre verletzt wurden“. Mit Blick auf den damaligen Bundesinnenminister Otto Schily beschrieb er die Auswirkungen von dessen, von Rechtsanwalt Fresenius beschriebenen Politik: „Wenn der Innenminister einen terroristischen Anschlag auf uns, die wir als Ausländer gelten, auf die Keupstraße als Zentrum von türkischen und kurdischen Geschäften, als nicht gegeben ausgibt, sondern auf ein ‘kriminelles Milieu’ verweist, war klar, was wir zu erwarten hatten.“ Wäre er gegen die Worte und die Autorität des Ministers auf die Straße gegangen, wäre er als „bekloppt“ bezeichnet worden, so M.A. Er selber sei von den rassistischen Ermittlungen derart eingeschüchtert gewesen, dass er seine körperlichen Verletzungen keinem Arzt gezeigt habe, weil er fürchtete der Polizei gemeldet zu werden. Erst nach dem Auffliegen des NSU sei er zu einem HNO-Arzt gegangen: zu spät. Entscheidend sei es, so schloss er, die Hintergründe aufzuklären – abschreckend wirke nämlich nicht nur die Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung, d. h. die Verhinderung weiterer Taten dieser Neonazis. „Ich will nicht, dass meine Kinder in Deutschland die Ängste haben müssen, die ich haben musste. Ich will auch nicht, dass meine Kinder vor der Polizei Angst haben müssen.“
Ein weiterer Betroffener, Arif S., beschrieb im Folgenden die bedrückenden sozialen und psychischen Zustände, in die er aufgrund des Anschlages und der staatlichen Verfolgung danach geraten war. Doch zunächst begrüßte er die Anwesenden: „Als erstes wünsche ich allen im Saal außer dieser Mörderin, ihren Unterstützern und Verteidigern, also Anwälten, einen guten Morgen.“ Er ging ausführlich auf das rassistische Handeln der Behörden ein. Immer wieder sei er vernommen worden und als er seine Vermutung äußerte, dass hinter dem Abschlag Nazis stecken könnten, sei ihm beschieden worden zu schweigen. Der psychische Druck, der so auf ihn ausgeübt worden sei, habe sein Leben ruiniert. Jahrelange Schlafstörungen, Panikattacken und soziale Einschränkungen bestimmten seinen Alltag über Jahre und bis heute.
Nach der Mittagspause meldete sich Eminger Verteidiger Kaiser zu Wort, dem wohl aufgefallen war, was Rechtsanwalt Fresenius gesagt hatte, nämlich, dass ein Verteidiger Emingers seinen Mandanten einen Idioten genannt habe. Diese Äußerung müsse er zurückweisen und sie sei außerdem in anderem Zusammenhang in einer nicht-öffentlichen Sitzung gefallen, weshalb er für die Klärung des Sachverhalts den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragte. Nach einigem Hin und Her wurde Kaisers Antrag abschlägig beschieden, wogegen er nach einer weiteren Pause mit einem Befangenheitsantrag reagieren wollte. Es nahm wieder einige Zeit und weitere Pausen in Anspruch, bis dieses Ansinnen im Sande verlief, Götzl aber trotzdem den Verhandlungstag bereits um 15:30 Uhr beendete.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 391. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 23.11.2017
Fünfter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Mit Nebenklage-Anwalt Peer Stolle hielt ein weiterer Vertreter eines Mitglieds der Familie Kubaşık an diesem 391. Prozesstag sein Plädoyer. Er erklärte, er habe sich mit seinen Kolleg_innen thematisch abgestimmt und werde sein Augenmerk auf die Entstehung des NSU, das Umfeld legen, in dem die Täter aufwuchsen, wo sie sich der Szene anschlossen und radikalisierten. Seine Kernthese: „Der NSU war kein Trio, keine Vereinigung aus drei Personen, die sich aus sich selbst heraus radikalisierte und daraufhin aus eigenem solitären Entschluss die hier angeklagten Taten beging, wie es der Generalbundesanwalt glauben machen will.“
Der NSU und seine Taten, so Stolle, seien Folge einer spezifischen gesellschaftlichen Situation, wie sie in Ostdeutschland und Thüringen zur Wendezeit vorgeherrscht habe. Es sei eine hochpolitische Zeit gewesen, die einerseits Forderungen nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit gesehen habe, andererseits jedoch „eine nach dem Zweiten Weltkrieg auf deutschem Boden nicht dagewesene rassistische und nationalistische Stimmung“. Stolle sagte, dass trotz des gesellschaftlichen Umbruchs der Wendezeit es nicht die recht unterschiedlichen sozialen Umstände gewesen seien, die die Angeklagten sowie Böhnhardt und Mundlos dazu gebracht hätten, sich der rechten Szene anzuschließen. Der Anschluss an rechte Jugendcliquen habe „viel mit dem damaligen politischen Klima zu tun“, in dem Anfang der 90er Jahre ein rassistischer und nationalistischer Alltagsdiskurs vorgeherrscht habe, der sich etwa in rassistischen Pogromen wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen entladen habe. Dazu seien „Kristallisationspunkte für rechte Jugendliche“ gekommen, z.B. der kommunale „Winzerclub“ in Jena, wo nach dem Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit vorgegangen worden sei: „Hier konnten sich Rechte frei bewegen, Grenzen wurden nicht gesetzt, weder von Sozialarbeitern noch der Polizei.“ Auf diese Weise sei eine vielerorts hegemoniale und gewalttätige Jugendsubkultur entstanden.
Doch Umbruch und entstehende Hegemonie rechter Subkulturen würden noch keinen NSU hervorbringen, meinte Stolle: „Dazu braucht es ideologische Festigkeit und Entschlossenheit. Dazu braucht es weiter ein Netzwerk, auf das man zählen kann, Kontakte, auf die man im Ernstfall zurückgreifen kann. Und man benötigt entsprechende Konzepte, die man vorher in der Szene, mit den Kameraden, diskutiert hat“. Und es seien staatliche Sicherheitsbehörden vonnöten und Ämter für Verfassungsschutz, die ihre „schützende Hand“ über diese Entwicklung gehalten hätten. Die Gründung des NSU sei keineswegs ein Bruch oder Sonderweg, sondern logische Folge der Entwicklungen in Thüringen und Jena gewesen, so Stolle. Ausgehend von ausführlichen Beschreibungen der familiären und politischen Sozialisation der Angeklagten und nachmaligen Kader der Kameradschaft Jena und der lokalen Sektion des THS beschrieb Stolle die Entstehung der ideologisch gefestigten und sich als elitär verstehenden Strukturen, die schon bald über den lokalen Rahmen hinauswuchsen und über die Anti-Antifa Ostthüringen, die Führungsfigur Tino Brandt, der auch Spitzel des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz gewesen ist, und den THS erheblich zur Radikalisierung der Gruppe beitrugen. Kontakte zur „Gesinnungsgemeinschaft der neuen Front“ um Christian Worch, internationale Verbindungen bis nach Südafrika und in die USA und die stetige Zunahme von Gewalt- und Propagandadelikten bei hoher Einsatzmobilität markieren die „Professionalisierung“ einer zunehmend militant und selbstbewusst agierenden Szene. Stolle erinnerte an die Aktivitäten von Kadern, die Neonazistrukturen aufbauten und denen es z. B. 1992 gelang, 2.500 Neonazis zu einem Heß-Marsch in Rudolstadt zu mobilisieren – ohne dass die Polizei eingegriffen hätte. Auf diese Weise kam die Thüringer Nazi-Szene zu (auch internationalen) Kontakten und zu Selbstbewusstsein. Stolle nennt das straffe Kameradschaftsnetzwerk Thüringer Heimatschutz (THS) einen „Katalysator bei der Radikalisierung der Thüringer Neonaziszene“. Mitglieder des THS hätten die Erfahrung gemacht, dass ihnen selten Grenzen gesetzt würden. Mangelnder Fahndungsdruck und die Zustimmung aus der Bevölkerung hätten ein übriges dazu getan: Immerhin hatte ihre Gewalt mit zur Abschaffung des Asylrechts im Mai 1993 beigetragen.
Im folgenden sprach Stolle über die Gewalt, die Terrorkonzepte und Diskussionen über Zellenbildung im THS, schon um der Behauptung der Oberstaatsanwältin Greger im Plädoyer der BAW entgegenzutreten, dass der Thüringer Heimatschutz, THS-Gründer Tino Brandt und der Verfassungsschutz auf die Entstehung des NSU „keinen Einfluss gehabt“ hätten. Tino Brandt habe, so Stolle, bei seiner Vernehmung im Prozess diesen Sprung mit den Worten umschrieben: „Als die Viktimisierungserfahrungen abgeschlossen waren, mussten wir uns nicht mehr um die Linken kümmern, sondern hatten als Thüringer Heimatschutz andere Zielrichtungen, den Kampf um ein besseres Deutschland.“
„Das Zellenkonzept als Mittel, das der NSU auf mörderische Weise in die Praxis umsetzte, war fester Bestandteil der Diskussionen der rechten Szene in den 1990er Jahren“, erklärte Stolle mit Verweis auf die „Turner Tagebücher“, das Nazi-Netzwerk „Blood & Honour“ und u.a. auf das Fanzine des Angeklagten Eminger „Aryan Law and Order“. Insoweit sei auch der Bundesanwaltschaft zu widersprechen: Die terroristische Vereinigung sei nicht erst Mitte des Jahres 1998 gegründet worden und sie habe auch nicht nur aus Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos bestanden, sondern ihre Entstehung lasse sich anhand der eskalierenden Aktionen der Jenaer Neonazis ab 1995 nachzeichnen. Hier zählte Stolle die zahlreichen Gewaltstraftaten wie Angriffe auf Linke oder alternative Jugendliche und Migrant_innen auf und erinnerte an die abgelegten Bombenattrappen, Briefbombenattrappen und etwa die antisemitische Aktion mit einem Puppentorso, der mit Davidstern versehen von einer Autobahnbrücke baumelte. Stolle verwies auch auf die von Beate Zschäpe angemietete Garage, in der der NSU eine Bombenwerkstatt installierte.
Seine verstorbene Kollegin Angelika Lex zitierend, fasste Stolle die Kritik an der BAW zusammen: „Wir haben nur fünf Angeklagte, aber diese Strukturen umfassen natürlich viel mehr Leute. Es gäbe noch jede Menge anderer Leute, die auch auf die Anklagebank gehören würden. Da hat man sich das natürlich relativ einfach gemacht von Seiten der Bundesanwaltschaft: da muss ich jetzt erstens nicht weiter ermitteln in Richtung weitere terroristische Vereinigung; ich habe was getan, um die Bevölkerung zu befrieden, sage also ‚Gefahr des NSU – alles erledigt: zwei sind tot, eine ist im Knast, keine Gefahr mehr!’“
Nach der Mittagspause versuchte einmal mehr Zschäpe-Alt-Verteidiger Stahl in Stolles Plädoyer zu grätschen und ihm die Ausführungen zu der „Bombenwerkstatt“ zu untersagen, zumal die Alt-Verteidigung Zschäpe hier mehrfach einen Verwertungswiderspruch geltend gemacht habe, der eine Erörterung verbiete. Nach dem üblichen Schlagabtausch nicht gerade zugunsten Stahls wies das Gericht das Ansinnen zurück und Stolle konnte fortfahren. Stolle taxierte die Gründung der terroristischen Vereinigung auf spätestens den Zeitpunkt der Anmietung der Garage. Er gehe nicht davon aus, so sagte er, dass zu dem Vorläufer des NSU nur Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe gehört hätten, sondern sich dieser aus den Mitgliedern der Sektion Jena des THS zusammengesetzt habe. Stolle verwies dabei auf das Abtauchen am 26.01.1998, denn zu diesem Zeitpunkt habe auch Ralf Wohlleben mit einer Verhaftung gerechnet, was darauf hindeute, dass er in die beginnenden terroristischen Aktivitäten weit tiefer verstrickt gewesen sei, als er zugebe. Dann wandte sich Stolle der These der BAW zu, der NSU sei eine abgeschottete, isolierte Drei-Personen-Zelle gewesen. Er sagte: „Wie die BAW zu dem Schluss kommen konnte, Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt hätten sich von der Szene abgesondert, weil diese ihr zu umpolitisch gewesen sei, ist anhand der Beweisaufnahme nicht nachvollziehbar.“ Die Möglichkeit, auch in den Untergrund zu gehen, sei Teil der Diskussion innerhalb der Sektion Jena des THS gewesen. Stolle: „Der NSU kann ohne den THS nicht verstanden werden.“ Mehr noch: Das NSU-Motto „Taten statt Worte“ sei keine Abkehr von der Szene gewesen, sondern die Umsetzung des vorher diskutierten Konzepts der Zellenbildung, so Stolle.
Zum Ende seines Schlussvortrages zitierte Stolle noch einmal den menschenverachtenden Leitsatz des THS: „Die Errichtung einer multikulturellen Gesellschaft ist eines der größten Verbrechen, was an der Menschheit verübt wurde und wird. Das ist die systematische Ausrottung kultureller Identitäten und somit ganzer Völker“, und das Motto der Paulchen-Panther-Figur im Bekennervideo: „Jetzt seht ihr, wie ernst es dem Paulchen mit dem Erhalt der Deutschen Nation ist“, um zu dem Fazit zu kommen: „Der THS, der NSU, die Kampagne ‘Volkstod stoppen’ – es ist derselbe völkische, gewalttätige, mörderische Rassismus. Ein Rassismus, dem der Vater meines Mandanten, Ergün Kubaşik, der Vater von Gamze Kubaşik und der Ehemann von Elif Kubaşik, Herr Mehmet Kubaşik, zum Opfer gefallen ist. Der Wahn, eine vermeintliche Identität eines Volkes zu bewahren, die deutsche Nation zu erhalten, zeigte dadurch seine mörderische Konsequenz.“
Da der Angeklagte Eminger gegenüber dem OLG-Arzt Symptome einer Migräne schilderte und der seine Verhandlungsfähigkeit verneinte, beendete der Vorsitzende Richter Götzl den Verhandlungstag schon um 14:37 Uhr, noch ehe, wie eigentlich geplant gewesen, Nebenklage-Anwältin Antonia von der Behrens mit ihrem Plädoyer beginnen konnte.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 390. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 22.11.2017
Vierter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Am 390. Verhandlungstag konnte die Nebenklage der Familie des Dortmunder Mordopfers Mehmet Kubaşık ihr Plädoyer fortsetzen. Als Nebenkläger waren wieder Elif und Gamze Kubaşık und ein weiterer Nebenkläger aus der Keupstraße anwesend. Auf der Empore verfolgten viele Zuschauer_innen die Verhandlung, die Plätze waren weitestgehend gefüllt. Die Nebenklägerinnen und ihre Anwälte zeigten in beeindruckender Stärke, welche Dimension und auch historische Bedeutung der NSU-Prozess hat, indem die grundsätzlichen Fragen thematisiert wurden, die der Prozess nicht beantworten konnte.
Bevor es zur Fortsetzung des Plädoyers von Rechtsanwalt Ilius kam, ging es zunächst um den Antrag der Wohlleben-Verteidigung vom Vortag, der Senat möge auf den Generalbundesanwalt einwirken, dass OStA Weingarten abgelöst wird. Dazu erklärte Bundesanwalt Diemer, bei den Begriffen „völkisch“ und „nationalsozialistisch“ handele es sich nicht um Szenebegriffe der Antifa. Auch sei seine Behörde nicht zur Neutralität verpflichtet, sondern zur Objektivität. Nach kurzer Pause lehnte das Gericht den Antrag erwartungsgemäß ab und nach einer weiteren, von der Wohlleben-Verteidigung eingeforderten, Pause „zur Besprechung weiterer prozessualer Maßnahmen“ konnte gegen 11:15 Uhr das Plädoyer wieder aufgenommen werden.
Rechtsanwalt Ilius legte den Fokus seiner Ausführungen zunächst auf die Dortmunder Neonazi-Szene, ihr extremes Gewaltpotenzial und ihre terroristischen Strukturen. Hätte die Mordkommission in Richtung der Naziszene ermittelt, wäre sie unschwer auf Blood & Honour und Combat 18-Strukturen in Dortmund gestoßen. Er erinnerte an Morde vom Raum Dortmund, die von Neonazis begangen wurden. Im Juni 2000 wurden die drei Polizist_innen Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias Larisch-von-Woitowitz von Michael Berger erschossen, der im Anschluss Selbstmord beging. Im März 2005 wurde Thomas Schulz durch den Neonazi Sven Kahlin ermordet. Nach dem Mord habe es von Seiten Dortmunder Neonazis auf Flyern und Im Internet geheißen „Die Machtfrage wurde von uns befriedigend beantwortet. Dortmund ist unsere Stadt.“ Den gleichen Anspruch, zu bestimmen wer in Dortmund leben dürfe, habe auch der NSU gehabt. Am Beispiel mehrerer Dortmunder Neonazis macht er Verbindungen nach Thüringen und in das Unterstützungsumfeld des NSU deutlich. Zentrale Figuren der Dortmunder Blood & Honour- und Combat 18-Szene seien u.a. Marko Gottschalk, Sebastian Seemann und Robin Schmiemann, der Brieffreund Beate Zschäpes, gewesen sowie die militante „Oidoxie Streetfighting Crew“. Ideologisch sei die Dortmunder Combat 18-Zelle dem NSU sehr ähnlich gewesen. Grundlage für den anvisierten Kampf im Untergrund seien die „Turner Diaries“ gewesen, die auf Initiative der Nebenklage in die Prozess eingeführt wurden. Auf dieses Material habe sich zuletzt auch die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer bezogen. Die Taten der US-amerikanischen Neonazi-Gruppe „The Order – Brüder schweigen“ habe als unmittelbare Umsetzung des Konzeptes gegolten. Die Tatbegehung dieser Gruppe habe viele Gemeinsamkeiten mit dem NSU aufgewiesen: Bombenanschläge, Bankraube, gezielte Hinrichtungen mit einem Schalldämpfer.
Der Verfassungsschutz NRW überwachte die Dortmunder Combat 18-Zelle intensiv. Diese habe im Jahr 2006, dem Jahr des Mordes an Mehmet Kubaşık, überraschend ihre Aktivitäten eingestellt. Ilius: „Das spricht dafür, dass die Gruppenmitglieder vom Verfassungsschutz NRW unter deren engmaschiger Beobachtung sie agierten, möglicherweise entsprechend unter Druck gesetzt wurden.“ Trotz dieses Wissens um die radikale Naziszene in Dortmund hätten die Ermittler in Dortmund es nicht für nötig befunden, diese Erkenntnisse zusammenzuführen und nach dem Mord an Mehmet Kubaşık auch nur eine einzige Ermittlungsmaßnahme gegen Nazis in Dortmund zu führen.
Dann schlug Ilius den Bogen zu den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft nach der Selbstenttarnung des NSU. Er widerspricht Bundesanwalt Diemers Vorwurf, die Nebenklage verunsichere die Betroffenen: „Das ist – und das wissen Sie auch – falsch.“ Das Verfahren leide doch gerade in Bezug auf die Aufklärung der Größe des NSU, die Anzahl der Unterstützer_innen an Tatorten sowie das Wissen, das über den NSU in der Naziszene und bei Sicherheitsbehörden vorhanden war, an der Konzentration auf die „hochgehaltene Trio-Theorie“. Ilius kritisierte die Art, wie die BAW das Ermittlungsverfahren führe. Als Beispiel beschrieb er die Vorgänge um die Dortmunder Neonazis Seemann und Gottschalk. Nachdem die Bundesanwaltschaft Anträgen der Nebenklage, die Neonazis vor Gericht zu laden, entgegengetreten war, habe sie diese kurze Zeit später selbst erneut vernommen. Dies wurde den Verfahrensbeteiligten allerdings vorenthalten und nur durch den NSU-Untersuchungsausschuss in NRW bekannt. Die Frage, ob und wie weit Dortmunder Nazis den NSU bei der Vorbereitung und Ausführung des Mordes an Mehmet Kubaşık unterstützt hätten, bleibe damit hier unbeantwortet. Die meisten wichtigen Protagonisten seien entweder nicht befragt worden oder schwiegen zu wichtigen Fragen. An dieser Stelle sprach Ilius Bundesanwalt Diemer persönlich an: „Sie selbst und Ihre Behörde hätten die Unsicherheit und die Ängste von Elif Kubaşık vermindern können – und zwar durch konkrete Ermittlungen in die militanten und terroristischen Combat 18-Strukturen, die zur Tatzeit in Dortmund existierten.“ Er kritisierte aber auch das Gericht, dessen Aufgabe es gewesen wäre, die nicht erfolgten Ermittlungen nach dem Mord in Dortmund auszugleichen zu versuchen. Der Senat habe zur Aufklärung der Nazi-Szene aber tatsächlich nichts beigetragen.
Zum Abschluss seines Plädoyers schlug Ilius dann noch den Bogen hin zur internationalen Perspektive. Hierzu führte er den Begriff der „Verleugnung“, speziell durch staatliche Strukturen, ein, der sich auf eine Studie des Kriminologen Stanley Cohen bezieht. Darin beschreibe dieser, dass Staaten sich oft der Kontrolle im Hinblick auf staatliche Verantwortung zu entziehen versuchten, indem die Erzählung verändert werde. Die Leiterin des Londoner Institute for Race Relations, Liz Fekete, habe mehrfach den Prozess besucht und dieses Konzept auf den NSU angewendet. Sie spreche von einer „wörtlichen Verleugnung“ der Täterschaft von Nazis an den sogenannten Ceska-Morden und Anschlägen vor dem 4. November 2011 durch staatliche Institutionen. In Cohens Konzept sei dies die direkte Verleugnung bestimmter Tatsachen, während die „interpretativen Verleugnung“ eine Veränderung einer Erzählung bei grundsätzlicher Anerkennung der nicht mehr zu verleugnenden Tatsachen sei. Nach November 2011 seien staatliche Institutionen dann zu dieser „interpretativen Verleugnung“ übergegangen. Die offensichtliche Tatsache, dass die Taten durch Nazis begangen worden waren, sei eingestanden worden; dass dies nicht früher aufgedeckt worden sei, habe allerdings nur an „Pannen“ gelegen. Verantwortung zu übernehmen wäre aber das wenigste gewesen, sagte Ilius. Auch das gesamte Verhalten der Bundesanwaltschaft stelle eine „interpretative Verleugnung“ dar, um die Verantwortung staatlicher Stellen an der Entstehung und den Taten des NSU zu leugnen. Das Narrativ der Bundesanwaltschaft diene „auch der Verteidigung des schönen Bildes eines postnazistischen ‚freien und freundlichen Deutschland’“. In ein solches Bild passe ein Trio, das am Rande des Wahnsinns agiert, besser als ein Netzwerk, das durch staatliche Stellen mitfinanziert über Jahre in Ruhe morden und bomben kann.
Rechtsanwalt Ilius schloss sein Plädoyer mit den Worten, die Verleugnung staatlicher Verantwortung nehme Elif Kubaşık als Nebenklägerin das Gefühl, gerade auch in diesem Verfahren in ihrem Leid als Mensch und als Rechtssubjekt ernst genommen zu werden.
Nach der Mittagspause begann dann das Plädoyer von Rechtsanwalt Scharmer. Er betonte, er spreche für Gamze Kubaşık, die Tochter von Mehmet Kubaşık. Er sitze hier, weil seine Mandantin wissen wolle, wer für den Mord an ihrem Vater verantwortlich ist und warum dies geschehen ist. Nach der Beweisaufnahme sei klar, dass die fünf Angeklagten mitverantwortlich seien. Die Frage, wer insbesondere für den Mord an Mehmet Kubaşık verantwortlich sei, könne nicht alleine dadurch geklärt werden, dass die fünf Angeklagten verurteilt werden. Es sage nichts darüber aus, wer noch beteiligt war und mit welcher Motivation.
Gamze Kubaşık habe ihren Vater verloren, mit dem sie über alles habe sprechen können, sie sei ein „Vaterkind“ gewesen, wie sie selbst vor Gericht ausgesagt habe. Mehmet Kubaşık sei im ganzen Kiez beliebt gewesen. Dann ging Scharmer auf die Folgen der Tat ein. Nach dem Mord sei die Familie nach und nach ausgegrenzt worden. Legenden von angeblich organisierter Kriminalität, Drogenhandel, Geldschulden hätten sich gebildet – nichts davon habe gestimmt. Für Gamze Kubaşık sei ihr Vater dadurch ein zweites Mal ermordet worden. Diese Folgen seien zwar maßgeblich, aber nicht alleine den strukturell rassistischen Ermittlungen zuzuordnen, sondern auch, spätestens ab dem zweiten Mord, dem NSU selbst. Der NSU habe die strukturell rassistischen Ermittlungsmethoden der Behörden für seine Zwecke genutzt. Heute sei Mehmet Kubaşık rehabilitiert, wer immer noch behaupte, dass die These eines Drogenhintergrundes oder Organisierte Kriminalität ja nicht ‚völlig abwegig‘ gewesen sei, habe nichts verstanden und zähle vielmehr zu den ewig Gestrigen, die die Hinterbliebenen und Verletzten des NSU-Terrors weiter diffamierten. Scharmer kritisierte OStAin Greger wegen ihres Ausspruchs, Nebenklagevertreter hätten Mandanten wohl „Hintermänner“ versprochen. Dies spreche auch Gamze Kubaşık ab, „dass sie selbst über ihre Interessen entscheiden kann und einen Anwalt damit beauftragt, diese durchzusetzen.“ Das Versprechen, „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner [!] aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“ habe kein Anwalt oder Anwältin gegeben, sondern am 23. Februar 2012 die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Scharmer zur Bundesanwaltschaft: „Wenn schon nicht Sie als oberste deutsche Anklagebehörde, dann haben zumindest wir Vertreter der Verletzten, die diese, dem Versprechen der Kanzlerin entsprechende Forderung unserer Mandant_innen ernst nehmen, hier nicht locker gelassen, um Licht ins Dunkel zu bringen.“
Scharmer hob die historische Bedeutung des Verfahrens hervor und zitierte, wie schon Rechtsanwalt Ilius, seine verstorbene Kollegin Angelika Lex. Scharmer: „Sie vertrat Yvonne Boulgarides in diesem Verfahren. Sie hätte in dieser Gruppe sehr wahrscheinlich mit uns plädiert. Angelika Lex ist am 9. Dezember 2015 gestorben. Sie kann das Ende dieses Prozesses nicht miterleben.“ Bei einer Demonstration zu Beginn des Prozesses im Frühjahr 2013 sagte Angelika Lex: „Es wird unsere Aufgabe sein, die Aufgabe der Anwältinnen und Anwälte der Opfer und Angehörigen, in diesem Verfahren transparent zu machen und aufzuarbeiten, was in diesem Staat alles schief gelaufen ist, was versäumt worden ist und in welchem Maß sich der Staat mitschuldig gemacht hat.“ Der Mord an Mehmet Kubaşık sei mit hoher Wahrscheinlichkeit durch weitere bislang nicht ermittelte Personen unterstützt worden, so Scharmer. Seine Mandantin gehe davon aus, dass sie jeden Tag in Dortmund, ohne es zu wissen, auf Personen treffen kann, die an dem Mord beteiligt waren.
Anschließend ging Scharmer auf das Instrument der Nebenklage ein und argumentierte prozessrechtlich, warum Gamze Kubaşık umfassende Aufklärung in diesem Verfahren verlangen kann. Sie sei nach dem Willen des Gesetzgebers und den Regelungen zur Nebenklage aus der StPO im Recht. Zusammen mit seinen Kolleg_innen habe er für seine Mandantin mit einer Vielzahl von Beweisanträgen, Stellungnahmen und Fragen versucht, die für sie ganz wesentlichen Fragen aufzuklären:
- Warum wurde gerade Mehmet Kubaşık Opfer des rassistischen Mordanschlags des NSU? Wie wurde er konkret ausgewählt?
- Wie konnte der NSU überhaupt entstehen, wer waren Helfer und Unterstützer?
- Wie und ggf. wann und durch wen wurde der Tatort ausspioniert? Wer wusste im Vorfeld von der Tat?
- Waren darunter V-Personen von Polizei oder eines Verfassungsschutzamtes?
- Hätte die Tat bei einem rechtzeitigen Einschreiten gegen die vermeintlich untergetauchten Mitglieder des NSU – Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe – sicher verhindert werden können?
- Warum werden bis heute dazu effektive Ermittlungen verweigert?
- Warum wurden dazu wahrscheinlich auskunftsfähige Akten rechtswidrig vernichtet?
Warum wurde letztlich vertuscht, geschreddert, gelogen?
Die Bundesanwaltschaft sehe die Rolle der Nebenklage hingegen nur als eine passive, in der Opferrolle verbleibende und die Anklage unterstützende – „eine Art betroffenes Händchenhalten“, „Abnicken des Prozessstoffes, soweit er die Anklageschrift trägt“, doch genau das wolle Gamze Kubaşık nicht. Es sei ihr wichtig, sich nicht mit den vermeintlichen Ergebnissen der Ermittlungsbehörden abspeisen zu lassen. Sie nehme ihre Rolle im Prozess aktiv wahr, stelle Dinge in Frage und wolle die vollständige Aufklärung über den Mord an ihrem Vater.
Scharmer: „Gamze Kubaşık ist nicht hier, um ihre Betroffenheit zu zeigen. Sie will kein Mitleid, sie will Antworten auf ihre berechtigten Fragen!“
Im Prozess seien zahlreiche Beweisanträge zu Erkenntnissen von VS-Behörden abgelehnt worden. Doch man hätte den Spuren nachgehen sollen, gerade weil es die Hinterbliebenen und Verletzten des NSU-Terrors nicht selbst können und es nirgendwo anders geschehen werde. Scharmer: „Dass die Sache stinkt, kann jeder riechen, auch wenn man nicht genau sagen kann, woher und warum. Wir wollten es herausfinden und sind dabei an vielen Punkten gescheitert. Der Gestank indes bleibt.“
Nach einer Pause ging Scharmer auf die zahlreichen V-Personen ein. Dazu zeigte er eindrückliche Schaubilder, um zu verdeutlichen, welches Netzwerk allein an V-Personen im Umfeld des NSU tätig war, was die Beweisaufnahme zum einen ergeben hat und was zum anderen durch Beweisanträge letztlich erfolglos versucht worden sei, in dieses Verfahren einzuführen. Die Beweisaufnahme und die Beweisanträge legten mehr als nahe, dass V-Personen von Aktivitäten des Terrornetzwerkes gewusst hätten und dies entweder konsequent nicht weitergemeldet hätten oder Meldungen bei der Fahndung und der Frage der Verhinderung von Morden nicht berücksichtigt worden seien.
Wenn man die starke Position der Nebenklägerin Gamze Kubaşık in dem Verfahren berücksichtige, so sei das Ergebnis der Beweisaufnahme mehr als enttäuschend. Zwar sei festgestellt worden, dass die Angeklagten im Rahmen der Anklage schuldig seien, doch bleibe eine ganze Reihe von Fragen offen. Es sei daher zumindest ehrlich, wenn der Senat in seinem Urteil einräumen würde, dem Aufklärungsanspruch der Nebenklägerin nicht gerecht geworden zu sein. Es wäre ehrlich zu sagen, so Scharmer, dass man zwar die Verantwortung der Angeklagten feststellen konnte, aber nicht weiß, ob es weitere Mittäter, Beihelfer oder Unterstützer gegeben hat. Scharmer sagte weiter, dass es auch ehrlich wäre zu sagen, dass es massive Anhaltspunkte dafür gebe, dass es im Unterstützungsnetzwerk des NSU eine ganze Reihe von V-Personen gegeben hat, es für das Gericht aber nicht darauf angekommen sei, ob diese Informationen über Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gesammelt und weitergegeben hätten.
Zum Abschluss sagte Scharmer, dass Gamze Kubaşık ein Appell und zwei Hoffnungen bleiben würden. Der Appell richte sich an die Ehrlichkeit des Gerichts in der Begründung des Urteils. Das Verfahren könne keinen Schlussstrich unter den gesamten NSU-Komplex bedeuten. Alleine zur eng Frage der eng umgrenzten Schuld dieser fünf Angeklagten könne eine Entscheidung ergehen. Eine Geschichtsschreibung, wie sie die Bundesanwaltschaft wünsche – mit Persilschein für Polizei, VS und die Bundesanwaltschaft selbst – könne es nicht geben.
Die Hoffnung richte sich auf weitere Aufklärung, dass ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin mit Gewissen, etwa beim BfV, aufdeckt, warum geschreddert, warum vertuscht, warum gelogen wurde. Eine letzte Hoffnung richte sich an Zschäpe, die sagen könne, wer involviert war, wer Bescheid wusste, geholfen und unterstützt hat. Gamze Kubaşık mache Zschäpe ein Angebot, so Scharmer: Nach 13 Jahren Vollzug der erwartbaren lebenslangen Freiheitsstrafe werde es ein weiteres Verfahren geben, in dem es dann um die Frage der Mindestverbüßungsdauer gehe. Gamze Kubaşık würde sich dann bei Gericht dafür einsetzen, dass Zschäpe weniger von ihrer Strafe verbüßen muss, falls sie alle weiteren Unterstützer, Beihelfer oder gar Mittäter offenbart und sie sich ernsthaft von den Taten distanziert.
Dann übergab Scharmer das Wort an seine Mandantin. Sie habe vor über 4 Jahren gehofft, dass alle, die mit dem Mord an ihrem Vater zu tun haben, verurteilt werden und eine gerechte Strafe bekommen, so Gamze Kubaşık. Heute wisse sie immer noch nicht, wer außer den Angeklagten noch beteiligt war. Dann sprach sie kurz über die fünf Angeklagten. Zum Schluss ihrer Ausführungen richtete sie sich an die Bundesanwaltschaft: „Sie haben vielleicht viel dafür getan, dass diese fünf hier verurteilt werden. Aber was ist mit den ganzen anderen? Ich glaube nicht daran, dass Sie noch irgendwann jemanden anderes anklagen. Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen. […] Sie haben das Versprechen gebrochen!“ Danach beendet Götzl den Prozesstag.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 389. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 21.11.2017
Dritter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Erwartungsgemäß konnte zunächst Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler, der Angehörige der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar im NSU-Prozess vertritt, sein Plädoyer fortsetzen und ging ein weiteres Mal ausführlich auf die haltlosen Verdächtigungen der ermittelnden Polizeibeamt_innen gegen die Ermordeten und ihre Angehörigen ein: „Tatsächliche Hinweise auf die Täter wurden übersehen, stattdessen Mutmaßung über Mutmaßung, die dann die Richtung der Ermittlungen vorgeben.“ Nach der von Özüdoğru getrennt lebenden Ehefrau seien dann „aufgrund aberwitziger Annahmen“ ein völlig unbeteiligter Mann und eine Frau verdächtigt worden, so Daimagüler.
Daimagüler ging auch noch einmal auf die rassistischen Äußerungen eines Tatortfotografen der Polizei ein, dem es besonders wichtig gewesen sei, dass in der Schneiderei und der Wohnung des ermordeten Özüdoğru eine „gewachsene Unordnung“ geherrscht habe. Dieser Beamte bezeichnete die Zustände in der Wohnung des Mordopfers beispielsweise als „wahllos“ und „chaotisch“, es ist die Rede von „für Wohnungen von Türken nicht unüblichem Nippes“. Ganz so, kommentierte Daimagüler, „als ob ‚Deutsche‘ keinen Nippes in ihren Wohnzimmern herumstehen hätten“. Das Gericht hätte hier einschreiten müssen, meint Daimagüler: „Es hätte die postmortalen Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen schützen müssen – und hat es dennoch nicht getan.“ Daimagüler schilderte die Anreise von BKA-Beamt_innen in das beschauliche türkische Herkunftsdörfchen Özüdoğrus, wo sie die Bewohner_innen mit Fragen danach überzogen hätten, ob der Ermordete mit Drogen gehandelt habe und welche Besitztümer er im Dorf habe. Deutsche Polizisten habe man in dem Dorf für absolut objektiv, akribisch und unbestechlich gehalten. Auf diese Weise sei aus den Fragen der Polizisten nach Drogen bereits ein Urteil über den Verstorbenen, aber auch über seine Verwandten, geworden. „Niemand in diesem Saal kann sich wahrscheinlich vorstellen, was ein solches Urteil in einer so engen Dorfgemeinschaft bedeutet“, sagte Daimagüler.
Ausführlich ging Daimagüler auf den Mord an İsmail Yaşar ein, um ein weiteres Mal auf vorgefertigte Meinungen, rassistische Vorannahmen und unterlassene Ermittlungsschritte hinzuweisen. So sei bei Yaşar sofort von einem Zusammenhang mit Drogen ausgegangen worden: „Hätte bei einem Gastronomen namens Müller unmittelbar nach dessen Erschießung ‚eine Rauschgiftsache‘ im Raum gestanden?“, fragte er rhetorisch. Die Vielzahl dieser kleinen rassistischen Ermittlungsmaßnahmen, die den Tod einer als migrantisch angesehenen Person stets mit Organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht hätten, habe dann eben zu dem Staatsversagen geführt, das es den Terroristen des NSU erst ermöglicht habe, immer weiter Menschen zu töten. Mehrere Zeugen hätten die Rad fahrenden Täter in der Nürnberger Scharrerstraße gesehen und eine Zeugin sie gar beim Umpacken einer Plastiktüte mit einem schweren Gegenstand, mutmaßlich der Tatwaffe, beobachtet. Die sehr genauen Angaben der Zeugin hätten, wie die weiterer drei, zu genauen Phantombildern geführt. Der einen Zeugin seien dann nach dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße Überwachungsvideos mit den Tätern vorgespielt worden und sie habe sie zweifelsfrei erkannt. Für Daimagüler und seine Mandantschaft sei es „eins der größten Rätsel“ des NSU-Komplexes, warum man einer Zeugin im Mordfall Yaşar eigentlich dieses Video gezeigt habe. Und wenn es dafür einen Grund gegeben habe, warum es nicht allen Nürnberger Zeugen gezeigt worden sei. Bei der Bewertung der Straf- und Schuldfrage im Falle von Beate Zschäpe erklärte Daimagüler, dass er davon ausgehe, dass die Angeklagte Zschäpe auch an der Begehung des Mordes im Fall Yaşar ganz unmittelbar beteiligt gewesen sei. Sie sei in einem Supermarkt nahe dem späteren Tatort von einer Zeugin identifiziert worden.
Im Namen und im Auftrag der fünf Geschwister von Abdurrahim Özüdoğru und der einzigen Tochter von İsmail Yaşar erklärte ihr Anwalt Mehmet Daimagüler: „Wir nehmen Ihre Entschuldigung nicht an. Wir verzeihen Ihnen nicht. Wir verzeihen Ihnen nicht den Mord an unserem Bruder. Wir verzeihen Ihnen nicht den Mord an meinem Vater. Wir verzeihen Ihnen nicht die Lügen, die Sie uns hier aufgetischt haben.“
Als Daimagüler – nachdem er die Schuld der Hauptangeklagten Zschäpe erörtert und lebenslange Haft bei besonderer Schwere der Schuld verlangt hatte – sich der Bewertung des Angeklagten André Eminger zuwenden wollte, beanstandete dessen Verteidigung dieses Ansinnen. Daimagüler sei nicht dazu befugt, meinte Eminger-Verteidiger Kaiser, sich zu seinem Mandanten zu äußern, da diesem im Zusammenhang mit den Morden an Özüdoğru und Yaşar nichts vorgeworfen werde. Stellungnahmen zu dieser Frage fielen überwiegend zugunsten Daimagülers und einer weiten Auslegung des Schlussvortragsrechts aus. Selbst Bundesanwalt Diemer sah es als vom Recht gedeckt an, dass der Vortragende sich zu Eminger äußert, zumal die Unterstützung der angeklagten terroristischen Vereinigung unerlässliche Voraussetzung für die Morde gewesen sei. Nach einer kurzen Pause, die sich Daimagüler erbeten hatte, um sich mit Kolleg_innen zu beraten, blieb er bei seiner Auffassung und begrüßte eine grundsätzliche Entscheidung des Senats, da die Frage ja Thema auch bei den folgenden Nebenklage-Plädoyers bleiben werde. Als jedoch der Vorsitzende Richter Götzl erklärte, dass, wenn es um Ausführungen zu Eminger im Hinblick auf die terroristische Vereinigung gehe, seines Erachtens ein mittelbarer Zusammenhang mit dem Nebenklagedelikt gegeben wäre, eskalierte die Diskussion. Es folgten Interventionen von Zschäpe-Alt-Verteidigerin Sturm und Wohlleben-Verteidigerin Schneiders. Diese berief sich auf das Beschleunigungsgebot und schloss ihre Stellungnahme mit den Worten „Wehret den Anfängen“. Dagegen verwahrte sich Nebenklage-Anwalt Hoffmann und forderte die Zurückweisung dieser Worte aus dem Munde einer „ehemals aktiven Neonazistin“. Schneiders forderte die Protokollierung dieser „Straftat in der Hauptverhandlung“. Im Fortgang wurden beide Themen – Rederecht Daimagülers und Protokollierung – parallel diskutiert und Oberstaatsanwalt Weingarten empfahl Rechtsanwalt Hoffmann, seine Äußerung gegenüber Rechtsanwältin Schneiders zu konkretisieren, wodurch sich die Protokollierung vielleicht erübrige. Nebenklage-Anwalt Hoffmann meinte, die Protokollierung sei zwar abzulehnen, er habe aber nichts dagegen, wenn seine Äußerung, Frau Schneiders sei eine „ehemals aktive Neonazistin“ protokolliert werde, da es sich um eine zulässige Meinungsäußerung mit Tatsachenkern handele, was er mit Vergnügen und mit Freude vor dem Strafgericht belegen werde.
Nach der Mittagspause ließ Götzl die Äußerung Hoffmanns tatsächlich im Kontext des Wortwechsels protokollieren. Außerdem lehnte der Senat das Ansinnen ab, Daimagüler das Wort zu entziehen, was Rechtsanwalt Kaiser zum Anlass nahm, erneut eine Beratungspause zu fordern, um diesen Gerichtsbeschluss „in Ruhe“ zu lesen und mit seinem Mandanten eventuelle Schritte zu beraten. Prozessbeobachter_innen befürchteten nach dieser Ankündigung einen weiteren Befangenheitsantrag. Doch nach der Pause konnte Rechtsanwalt Daimagüler sein Plädoyer endlich fortsetzen, nicht ohne sein Unverständnis darüber auszudrücken, dass angesichts der Anwesenheit zweier Betroffener der NSU-Verbrechen, nämlich Ehefrau und Tochter des ermordeten Mehmet Kubaşık, an Dingen weiterdiskutiert werde, die seit zwei Stunden ausgeräumt seien. Mit zwei dürren Sätzen ging er auf den Angeklagten Eminger ein, forderte für den Angeklagten Wohlleben 14,5 Jahre Haft, für den Mitangeklagten Schultze eine milde Bewährungsstrafe.
Zum Schluss ging er noch einmal auf die nach wie vor offenen Fragen im NSU-Kontext ein und erwähnte auch die ungeklärte Verstrickung von Verfassungsschutzbehörden, die etwa durch Aktenvernichtung vertuscht werden sollte und als Vermeidungsstrategie einen tiefen Schatten auf das ganze Verfahren geworfen habe. „Das sind alles Fragen, die nicht nur die Opferangehörigen interessieren sollten. Im Gegenteil: Gerade in diesen Tagen sind dies Fragen, die für uns alle in diesem Land wichtig sind“, erklärte Daimagüler und schloss mit einem Zitat aus Brechts „Guten Menschen von Sezuan“: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Daimagüler: „Hier müsste es heißen: viele Fragen offen. Der Vorhang in diesem Verfahren wird fallen, aber die Suche nach Antworten im NSU-Komplex wird weitergehen.“
Nach einer kurzen Umbaupause ergriff die Nebenklägerin Elif Kubaşık das Wort und gab eine bewegende Erklärung zu ihrem und dem Schicksal ihrer Familie nach der Ermordung des geliebten Familienvaters ab. Sie erzählte von ihrer Liebe, der Hochzeit und der „Schönheit“ ihres Mannes als Mann, Vater und Mensch. Frau Kubaşık: „Jeder Mensch, ob klein oder groß, jung oder alt, mochte ihn. (…) Ich glaube, die Stärke, die ich heute zeigen kann, kommt einfach von der Beziehung mit ihm“. Ihr Herz, so sagte sie, sei mit Mehmet begraben worden. Es sei schwer für sie, in diesen Prozess zu kommen und – mit Blick auf die Angeklagten – diese Leute zu sehen. Besonders schwer sei ihr der Anblick „dieser Frau“ gewesen, sagte Kubaşık in Bezug auf die Hauptangeklagte Beate Zschäpe: „Ekelhaft, einfach ekelhaft aber war ihre Aussage. Es ist alles Lüge, was sie sagte. Sogar die Form, wie sie sich entschuldigt hat, war verletzend. Das war so, als würde sie uns beleidigen.“ In diesem Prozess seien ihre Fragen nicht beantwortet worden: „Warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute vielleicht immer noch? Es gibt so viele Nazis in Dortmund. Und für mich ist es so wichtig: Was wusste der Staat?“ Bundeskanzlerin Merkel habe ihr Versprechen der „lückenlosen Aufklärung“ nicht gehalten. Kämpferisch klangen ihre abschließenden Worte: „Die, die das gemacht haben, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, weil sie neun Leben ausgelöscht haben, dass wir dieses Land verlassen werden. Ich lebe in diesem Land und gehöre zu diesem Land. Ich habe zwei Kinder in diesem Land zur Welt gebracht. Mein Enkel Mehmet ist hier in diesem Land zur Welt gekommen. Wir sind ein Teil dieses Landes und wir werden hier weiter leben.“
Danach ergriff ihr Anwalt Carsten Ilius das Wort für seinen Schlussvortrag. Er wurde zunächst noch kurz von den Zschäpe-Alt-Verteidigern Stahl und Heer gestört. Doch dann führte er ausführlich seine Sicht zu den Ermittlungen im Mordfall Mehmet Kubaşık aus: Mit der Art der Ermittlungen sei „die vom NSU beabsichtigte Tatwirkung der Verunsicherung der migrantischstämmigen Bevölkerung verstärkt“ worden. Es habe den Zielen des NSU entsprochen, dass die Opfer der Anschläge und ihr Umfeld auch noch Opfer der Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft würden und mit der Stigmatisierung zu leben hätten, so Ilius. Es sei als „normale Polizeiarbeit“ bezeichnet worden, dass im Umfeld der Opfer ermittelt worden sei. Dass die Ermittlungen diskriminierend und von falschen Vorannahmen geprägt gewesen seien, so Ilius, zeige die Tatsache, dass nicht nur im Falle der NSU-Mordopfer, sondern auch vielen anderen Fällen nie in Richtung neonazistischer Täter ermittelt worden sei. Namentlich nannte Ilius die Anschläge von Hattingen, Erbendorf, Stuttgart, Herford oder Lübeck: „In all diesen Fällen wurden Nazis als Täter ausgeschlossen und die Betroffenen festgenommen oder sogar angeklagt – wobei am Ende stets deren Freispruch stand.“ An dieser Stelle grätschten erneut die beiden Zschäpe-Verteidiger Heer und Stahl in Ilius‘ Plädoyer und ernteten dafür die Zurückweisung von Nebenklagevertreter Scharmer: „Lassen Sie es! Sie stören das Plädoyer doch, weil ihnen das Plädoyer nicht gefällt.“
Carsten Ilius setzte im Plädoyer fort und zitierte aus einer Rede der 2015 verstorbenen Nebenklageanwältin Angelika Lex: „Rassistische Taten werden nicht als das wahrgenommen, was sie sind, nämlich rassistische Taten straff organisierter Rechtsradikaler und rechtsterroristischer Strukturen.“ Obwohl schnell klar gewesen sei, so Ilius, dass es keine Anhaltspunkte für ein an der Person Mehmet Kubaşık anknüpfendes Motiv gab, hätten sich die Ermittlungen der Dortmunder Polizei mit fatalen Folgen für Elif Kubaşık und die drei Kinder über Monate hinweg gegen die Familie gerichtet. Die Ermittler hätten nicht nur von einer „Mauer des Schweigens“ gesprochen, sondern die Opfer der Taten auch immer wieder mit demselben Potpourri des Verdachts überzogen und öffentlich gebrandmarkt, indem etwa die Wohnung der Familie und das Auto für das ganze Umfeld sichtbar mit Drogenhunden untersucht worden sei. Bei der Beerdigung Kubaşıks seien Autokennzeichen notiert, in der Wohnstraße der Familie mit Bildern von dem Mordopfer dessen vermeintliche Drogendealer-Tätigkeit durch Befragung von Jugendlichen recherchiert worden. Es sei den Ermittlern nicht gelungen sich von ihren gewohnten, rassistischen Deutungsmustern zu lösen, trotz entsprechender Hinweise und Fallanalysen, die durchaus andere Ergebnisse nahegelegt hätten, so Ilius. So hätten sich Ermittlungen gegen Nazis als mögliche Täter aufgrund der 2. Operativen Fallanalyse nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat bundesweit aufgedrängt. Mehr noch: Es habe in Dortmund selbst Hinweise auf Nazi-Täter gegeben. Eine Zeugin etwa habe angegeben, am Tatort zwei „Deutsche“ gesehen zu haben, die ihr wie „Junkies oder Nazis“ vorgekommen seien.
Trotz aller Hinweise und auch trotz zweier Demonstrationen einiger Betroffenenfamilien unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ in Kassel und Dortmund kurz nach den beiden Morden hätten, so Ilius, „weder die dem Gericht vorgelegten Akten aus Dortmund, noch die beim GBA liegenden Dortmunder Spurenakten auch nur eine einzige Ermittlungsmaßnahme in Richtung auf ein rassistisches Motiv und rechte Täter“ enthalten. Er glaube, sagte Ilius abschließend, dass dieses bewusste Heraushalten einer solchen Möglichkeit aus den Ermittlungsberichten mit der bevorstehenden Fußball-WM im Zusammenhang zu sehen sei: Attentate wie die Ermordungen Kubaşıks und Yozgats hätten weltöffentlich vielleicht ein anderes als das von Bundesanwalt Diemer beschworene Bild eines „friedlichen und freundlichen Deutschlands“ ergeben.
Zum Schluss versuchte Wohlleben-Verteidigerin Schneiders dann doch noch andere Schlagzeilen zu produzieren, indem sie beantragte, der Senat möge darauf hinwirken, dass Oberstaatsanwalt Weingarten ersetzt werde. Dieser habe in der Auseinandersetzung über Nebenklage-Anwalt Hoffmanns Bemerkung über sie als „ehemals aktive Neonazistin“ seine Neutralitätspflicht verletzt und mehrfach Jargon der „so genannten Antifa“ verwendet (u.a. betrachtet Schneiders offenbar die Begriffe „völkisch“ und „nazistisch“ als ‚Antifa-Jargon‘). Der Verhandlungstag endete um 16:21 Uhr.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 388. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 16.11.2017
Zweiter Tag des Plädoyers der Nebenklage
„Die Hauptverhandlung findet nicht im gesellschaftlichen Vakuum statt“, setzte der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler zum zweiten Teil seines Plädoyer im Namen von Angehörigen der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar an. Die Altverteidigung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe ließ ihm genau drei Minuten Zeit, ehe sie erneut mit Beanstandungen in den Vortrag Daimagülers hineingrätschte. Denn gerade war Daimagüler auf das Thema Rassismus gekommen und hatte festgestellt, dass nicht jeder Rassist auch gleich ein Nazi sein müsse. Wenn er von institutionellem Rassismus rede, wolle er damit nicht sagen, dass es Nazis bei der Polizei gebe – das sei sicher auch nicht auszuschließen. Sondern, dass dieser institutionelle Rassismus dafür verantwortlich gewesen sei, dass die NSU-Morde bis zum Schluss nicht hätten aufgeklärt werden können. Allein das Wort Rassismus löse Abwehr aus, werde als Provokation empfunden, erklärte Daimagüler, es sei also für viele nicht der Rassismus das Problem, sondern seine Thematisierung. Noch größer scheine die Provokation nur zu sein, wenn das Thema angesprochen werde von Menschen, „die nicht in das homogene Bild deutscher Identität“ passten.
Ausgerechnet an dieser Stelle unterbrach Zschäpe-Verteidiger Heer und meinte, das sei eine weitschweifige politische Rede, die nichts in diesem Verfahren zu suchen habe. Sein Kollege Stahl bezog einen von ihm herausgehörten Rassismusvorwurf gar auf sich selbst und die Verteidigung Zschäpe, weil Daimagüler ihn angeblickt und gelächelt habe. Die Nebenklageanwälte Scharmer und Hoffmann sprangen ihrem Kollegen mit geharnischten Zurückweisungen bei. Scharmer: „Was Sie versuchen, ist, Ihre Sicht in das Plädoyer des Kollegen hineinzureden. Das ist nicht nur rechtsmissbräuchlich, das ist respektlos!“ Scharmer später: „Wenn mir jemand in mein Plädoyer so reinquatschen würde, würde ich mich mit allen zulässigen Mittel wehren, das ist unzulässig und hat reinen Störcharakter!“ Selbst Oberstaatsanwalt Weingarten erklärte, es sei zulässig, dass Daimagüler an eine Aufklärungspflicht des Senats appelliere, und den Inbegriff des Prozesses zu erläutern sei sein gutes Recht. Er dürfe auch die Ermittlungsbehörden scharf kritisieren. Die BAW habe keinen Zweifel, dass sich Daimagülers Ausführungen im Rahmen des Zulässigen bewegen. Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann nannte die Interventionen der Zschäpe-Verteidiger missbräuchlich, denn wenn ein Plädoyer so oft unterbrochen werde, könne es keine Wirkung entfalten, Bezüge gingen verloren. Die Störungen seien offensichtlich darauf gerichtet, „die Wirkung des Plädoyers zu zerstören, indem Sie es zerstückeln“. An Scharmer gewandt sagte Verteidiger Stahl: „Wenn Ihnen [Scharmer] niemand ins Plädoyer reingrätscht, dann liegt das vielleicht daran, dass Sie ordentlich plädieren können.“ Daimagüler wies diesen Affront brüsk zurück: „Sie bitten hier um Sachlichkeit, und dass niemand herabgesetzt werden darf, sagen aber, dass ich nicht plädieren könne. Das gehört sich nicht, das gehört sich wirklich nicht!“ Als Götzl signalisierte, dass er hier keine missbräuchliche Nutzung des Rederechts sehe, beantragte Heer einen Gerichtsbeschluss, der der Auftakt zu insgesamt fast vier Stunden Unterbrechungsgeplänkel werden sollte.
Nachdem der Senat nach einer Pause die Beanstandung und das Begehren der Altverteidigung Zschäpe, Daimagüler das Wort zu entziehen, zurückgewiesen hatte, forderte Heer erneut eine Unterbrechung, um eine Gegenvorstellung gegen den Gerichtsbeschluss zu formulieren. BAW-Vertreter Weingarten gab in einer Stellungnahme zu bedenken, dass der relativ informelle Rechtsbehelf der Gegenvorstellung keinen Anspruch auf Unterbrechung konstituiere. „Dem Versuch, den Schlussvortrag weiter zu torpedieren, muss entgegen getreten werden“, erklärte Weingarten. Um das weitere Vorgehen grundsätzlich zu klären und um zu verhindern, dass, wie Oberstaatsanwältin Greger „besorgte“, das „Spiel“ mit Unterbrechungen entgegen dem Recht auf einen ungestörten Schlussvortrag so weitergetrieben werden könnte, ging der Prozess in eine am Ende gut zweistündige Pause.
In der Gegenvorstellung konstatierte Zschäpe-Verteidigerin Sturm, Schlussvorträge seien nur mit Bezug zu Inhalt und Ergebnis der Hauptverhandlung zulässig. Sie qualifizierte Daimagülers Ausführungen als sachfremd, wodurch er sich seiner Aufgabe entziehe und der Vorsitzende Richter seiner Sachleitungsaufgabe. Nach weiteren Stellungnahmen kam der ersehnte Beschluss des Senats, dass es bei der Ablehnung des Begehrens der Zschäpe-Altverteidigung sein Bewenden habe – übrigens mit Berufung einer Entscheidung des Reichsgerichts von 1884. Nun konnte Mehmet Daimagüler noch zwei Sinnabschnitte seines Plädoyers – ungestört – vortragen.
Mit Bezug auf den Mythos der Entstehung der Bundesrepublik, die „Freiheitlich-demokratische Grundordnung“ und die Tabuisierung von Rassismus und Nationalsozialismus schilderte Daimagüler das Überdauern von entsprechenden Ideologieversatzstücke in den Köpfen von Menschen, auch von Ermittlern. Noch „der dümmste Rassist“ habe verstanden, dass er den Rassebegriff nicht verwenden dürfe und ersetze ihn schlicht etwa durch einen Kulturbegriff. Für die Gesellschaft sei es wesentlich angenehmer, den Rassismus an den Rand der Gesellschaft zu verschieben, zu glatzköpfigen Skinheads und Neonazis. Es herrsche aber eine mangelnde Bereitschaft den eigenen Rassismus zu thematisieren, der nicht geleugnet werden könne. Daimagüler: „Rassismus strukturiert unsere Gesellschaft, prägt uns, die wir in ihr aufwachsen. Jeder, bis auf Kinder vielleicht, trägt Rassismus in sich.“ Und dann finde Ein- und Ausgrenzung statt: Wer nicht dazu gehöre, sei stets gefährdet, werde aus dem „deutschen Wir“ ausgeschlossen. Das sei genau das, was Opfern des NSU angetan worden sei, so Daimagüler, sie seien nicht als Teil unserer Gesellschaft angesehen worden. Dieses Thema gehöre in dieses Verfahren. „Meine Mandanten möchten, dass ich das anspreche“, rechtfertigte Daimagüler seine grundsätzlichen Überlegungen, um dann zu den Betroffenen der NSU-Verbrechen zurückzukommen: Sie hätten im Mai 2006 Demonstrationen unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ abgehalten, die komplett ungehört verhallt seien, weil es „sich ja nur um türkische Menschen“ gehandelt habe. Dabei seien es ja genau diese Menschen, die aus eigener Erfahrung als Experten für die Funktionsweise von Ausgrenzung anzusehen seien: „Stellen sie sich vor, man hätte auf sie gehört.“ Dies spezifische Wissen habe den Polizeibehörden gefehlt, sonst hätten die Morde möglicherweise verhindert werden können, sagte Daimagüler. Der Rassismus, insbesondere der institutionelle Rassismus stecke in den Routinen, im Verhalten und in Regelungen der Behörden. Dabei nahm Daimagüler Bezug auf die „berühmte“ Operative Fallanalyse des LKA Baden-Württemberg aus dem Jahr 2007, in der hinter den NSU-Morden ein „Häuptling“ vermutet worden sei, dessen Ehre gekränkt worden sei. Das berühmte Zitat daraus lautet: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Werte- und Normensystems verortet ist.“ Daimagüler bezeichnete solche rassistischen Grundannahmen als „Kernschmelze unseres Rechtsstaats“, welche die jahrelange Verfolgung der Opfer des NSU als Verdächtige und Angehörige der Organisierten Kriminalität ermöglicht habe. Es wäre wichtig, wandte sich Daimagüler an den Senat, dass diese Themen – der Rassismus, der hinter den Morden steckt, und der behördliche Rassismus – in die Urteilsbegründung einfließen, denn: „Wenn das nicht rassistisch ist, dann gibt es keinen Rassismus!“
Im nächsten Abschnitt ging Daimagüler auf die „ungeklärte Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex“ ein und kam zu dem Schluss: Die Behörde sei keineswegs „auf dem rechten Auge blind“, wie gerne behauptet werde: Die gesamte Zeit hätten die Ämter V-Leute in den Szenen gehabt und diese so mit aufgebaut. Einige dieser Strukturen hätte es ohne den VS nicht gegeben, was er ausführlich entlang der Geschichte des V-Mannes Tino Brandt, Deckname „Otto“, erläuterte und belegte. Dabei sei vor allem die Führungsebene von Parteien und Kameradschaften mit V-Leuten infiltriert worden. Das Führungspersonal der Szene habe auf staatlichen Lohnlisten gestanden: „Angeworben wurden die Anführer, nicht die Lemminge, die diesen folgten.“ Die hohe Schule der V-Mann-Führung sei das Hochspielen der V-Leute, zitierte Daimagüler den VS-Vordenker Schwaegerl aus dessen Handbuch. Grundlage dieses Hochspielens sei der sakrosankte umfassende Quellenschutz, der zur Vertuschung zum Teil schwerster Straftaten führe. Allein 35 Ermittlungsverfahren gegen Brandt seien auf diese Weise eingestellt worden. Aber, so Daimagüler, dieser Quellenschutz bedeute Opfergefährdung. Wenn die Quelle um jeden Preis zu schützen sei, hätten die Opfer die Rechnung zu bezahlen. Durch die Alimentierung führender Neonazis durch den Staat, hätten diese sich mit aller Energie dem Aufbau der Szene widmen können: „Ohne dieses Geld hätte es viele Neonazigruppen nicht gegeben“, stellte Daimagüler fest. Im NSU-Komplex seien viele Fragen offen geblieben: Wie viele V-Leute seien in der Szene gewesen, welche Rolle hätten sie gespielt, und ob sich etwas an dieser Rolle geändert habe. Daimagüler: „Das ist sicherlich einer der Schatten dieses Verfahrens, dass wir dieser Frage hier nicht intensiver, entschlossener nachgegangen sind!“
Mehmet Daimagüler konnte wegen angeblicher Kopfschmerzen des Angeklagten Wohlleben seinen Vortrag erneut nicht beenden. Er wird sein Plädoyer am kommenden Dienstag, 21.11.2017, um 09:30 Uhr fortsetzen, ehe weitere Nebenkläger_innen und ihre Vertreter_innen zu Wort kommen sollen.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 387. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 15.11.2017
Erster Tag des Plädoyers der Nebenklage
Noch zu Beginn dieses 387. Verhandlungstag war unklar, ob die lang aufgeschobenen Plädoyers der Nebenklage nun beginnen würden. Zunächst sah es nach weiteren Verzögerungen durch die Verteidiger*innen von Beate Zschäpe aus. Zschäpe-Verteidigerin Sturm beanstandete die „nicht erschöpfende“ Behandlung des Antrags von Heer, Sturm und Stahl in den rechtlichen Hinweisen vom letzten Verhandlungstag. Es folgte eine Unterbrechung. Götzl verkündete dann einen Beschluss zu den rechtlichen Hinweisen, dies wurde durch einen kurzen Vortrag der BAW ergänzt.
Damit hatte aber die Aufschub-Taktik von der Angeklage-Bank ihr Ende gefunden und Götzl verkündete, dass nun die Nebenklage mit ihren Schlussvorträgen beginnen solle. Die NK-Anwältin Edith Lunnebach machte den Anfang. Sie vertritt die Betroffenen des Anschlags in der Kölner Probsteigasse im Jahr 2001. Lunnebach wandte sich zunächst an den Senat: „Wir als Nebenklagevertreter, die wir unsere Rolle nicht nur als singuläre Vertretung unserer jeweiligen Mandanten, sondern als allgemeineren Ausdruck der Notwendigkeit, das Entstehen dieser hier verhandelten Verbrechen aufzuklären, verstanden haben, waren immer ein wenig Störenfried oder sogar Menetekel mit dem moralischen Anspruch, für Genugtuung zu sorgen. Gefühlt stand dann durchaus die gesamte Nebenklageriege am Pranger, nach dem Motto ‘ach die schon wieder’. Nicht nur verbal, sondern auch durch optische Einvernehmensgesten zwischen Verteidigung und den Vertretern der Bundesanwaltschaft fand teilweise eine Verbrüderung statt“.
Sodann ging Lunnebach hart mit der BAW ins Gericht. Zum Begriff „Fliegengesumme“, den Bundesanwalt Diemer in Bezug auf Aufklärungsbemühungen der Nebenklage benutzt hatte, sagte sie, dieser sei unverschämt, er zeige die Denkweise, „die ehrlichen Bemühungen der Geschädigten und ihrer Vertreter zu diskreditieren“. Lunnebach fügte an: „Dafür habe ich kein Verständnis.“ Gegen die „Trio-These“ der BAW wandte Lunnebach ein: „Ich weiß nicht, warum sich die BAW mit der einfachen Antwort und der Zuschreibung aller Taten in die Isoliertheit des Trios zufrieden gibt, zumal ich nicht davon ausgehen kann, dass es den Anklagevertretern an Urteilsfähigkeit oder gar an Intelligenz fehlt.“ Der BAW hätte es vielmehr, so Lunnebach, „zur Ehre gereicht, wenn sie offen und interessiert mit den Aufklärungsbemühungen der Nebenklage umgegangen wäre“. Im Gegensatz dazu hob Lunnebach die Arbeit von „vielen antifaschistischen NGOs“, Anti-Nazi-Gruppen und „tapferen Einzelkämpfern gegen rechts“ hervor. Die BAW habe versäumt, die „Ermittlungsübermacht des BKA“ mit deren Aufklärungshintergrund zu verbinden: „Sie haben die Chance vertan, sich im Interesse der Aufklärung genau das zunutze zu machen, was aufgrund der unterschiedlichen Erkenntniswege in den Reihen der Nebenklage und der Öffentlichkeit als zusätzliches Wissen vorhanden war und ist.“
Lunnebach kam dann konkret auf den Sprengstoffanschlag in der Probsteigasse zu sprechen. Sie führte ins Feld, dass es überwältigende Fakten dafür gebe, dass der Anschlag in der Probsteigasse nicht alleine von den angeblich nur drei Mitgliedern der Zelle NSU und dem Gehilfen Eminger begangen worden ist. Lunnebach erinnerte eindrücklich an den Tathergang des Anschlags in der Probsteigasse am 19.01.2001, die Narben der Verletzten „sind sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht bis heute nicht verheilt“. Lunnebach fügte zum Tatverlauf an: „Objektive Erkenntnisse dazu, wer den Geschenkkorb vor Weihnachten im Jahre 2000 abgestellt hat, gibt es demnach meines Erachtens nicht.“ Dass der Tatort von Nicht-Ortskundigen ausspioniert worden sein könnte, sei völlig ausgeschlossen, so Lunnebach. Dennoch gehe sie von einer Täterschaft des NSU aus. Lunnebach ging auch auf Fehler bei den Ermittlungen zum Anschlag in der Probsteigasse ein. So hätte das Verfahren an das für Tötungsdelikte zuständige Kommissariat abgegeben werden müssen. Eine weiterer schwerwiegende Unterlassung habe darin gelegen, dass sich nicht mit der Frage beschäftigt worden sei, „ob die Tat durch einen ausländerfeindlichen, rechtsextremistischen Hintergrund geprägt sein könnte“. Fatales Ergebnis der Ermittlungsfehler sei gewesen, dass kein Anhaltspunkt dafür gefunden worden sei, dass V-Leute des LfV NRW oder des BfV zeitnah gefragt worden seien, welche Erkenntnisse aus der rechten Szene zu dem Anschlag in der Probsteigasse vorhanden waren. Lunnebach sagte dazu: „Die Vorstellung, dass die Chance bestanden hätte, weitere Anschläge oder gar die ganze weitere NSU-Serie zu verhindern, und dass diese Chance durch die leichtfertige Borniertheit der mit dem Anschlag befassten Ermittler vertan wurde, ist für die Familie […], die Kollegin Clemm und mich unerträglich.“
Lunnebach sagte abschließend zu den Ermittlungsfehlern: „Kann denn jemand ernsthaft diese Anzahl von Fehlleistungen als zufallsbedingt ansehen? Wir sehen uns dazu außer Stande.“ Der Netzwerk-Charakter des NSU mit Unterstützer*innen an allen Tatorten lasse sich beim Anschlag in der Probsteigasse deutlich nachzeichnen: „Wie, wenn nicht mit Hilfe von in die tödliche Gedankenwelt des NSU eingeweihten Mittätern aus dem Kölner Raum, soll denn die Tatortauswahl Probsteigasse stattgefunden haben?“ Lunnebach geht im Folgenden u.a. auf eine V-Person des LfV NRW ein und fordert in diesem Zusammenhang die Abschaffung des V-Mann-Wesens „mit seiner unsäglichen Nähe zu den auszuspähenden Tätern“.
Die These, wonach sich der NSU als „Trittbrettfahrer“ des Anschlags in der Probsteigasse nur gerühmt hätte, lasse sich allerdings angesichts des betriebenen Aufwands für die Bekenner-DVD und deren verschiedenen Erstellungszeiten klar zurückweisen. Aufgrund dieser Tatsache sowie den Punkten „Kenntnis im Experimentieren von Rohrbomben, Absetzen des Taschenlampensprengsatzes in Nürnberg, Auffindung von Schwarzpulver in der Garage und später noch in der Frühlingsstraße“ gehe sie davon aus, dass es tatsächlich der NSU gewesen ist, der den Anschlag verübt hat. Lunnebach: „Aus unserer Sicht gibt es nur eine Erklärung: Ein in den Tatplan eingeweihter und mit Ortskenntnissen in Köln versehener unerkannter Mittäter aus den Reihen des NSU muss den Anschlagsort ausgesucht haben und die Sprengfalle deponiert haben.“
Daran anschließend warf Lunnebach einige Schlaglichter auf den Prozessverlauf und kam auch auf die Einlassungen von Beate Zschäpe zu sprechen, als juristische Bewertung könne man es als Fazit einfach so zusammenfassen: „Si tacuisses“ (Wenn du nur geschwiegen hättest.). Die Einlassungen seien ein „menschenverachtendes Rührstück“, es handele sich um „selbstbespiegelnde Weinerlichkeit“ und „schillernde Aussagevariationen“.
Abschließend wandte sich Lunnebach an den Senat, ohne aber eigene Strafanträge zu stellen: „Seien Sie unbequem, lassen Sie in die Urteilsbegründung die Tatsache der Vertuschung und Geheimniskrämerei der Verfassungsschutzbehörden genauso einfließen wie das Entsetzen darüber, dass aufgrund der Fehler in den damaligen Ermittlungen eine Verbrechensserie entstehen konnte und zugelassen wurde, die das Erstarken der neonazistischen Angriffe in den 90er Jahren fortsetzte; machen Sie deutlich, dass die organisierte Unterstützer- und/oder Mittäterszene im Umfeld der hier Angeklagten deren verbrecherisches Tun zugelassen und befördert hat. “
Es ging im Anschluss weiter mit dem Plädoyer von Mehmet Daimagüler, der Angehörige der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar vertritt. Daimagüler begann mit der Sicht der Angehörigen: „Was meine Mandanten beschäftigt, bewegt und ihnen den Schlaf raubt, ist die Frage nach dem Warum.“ Und weiter: „Meine Mandanten werden Opferangehörige genannt, das beschreibt nicht ihre Situation, sie sind Überlebende des NSU„.
Daimagüler griff dann ebenfalls die Bundesanwaltschaft, insbesondere Bundesanwalt Diemer, an. Die BAW versuche mit aller Macht, ihre These von der isolierten Zelle NSU durchzusetzen.
Mit Bezug auf Merkels Aufklärungsversprechen vom Februar 2012, fragte Daimagüler: „Sehen so Behörden aus, die mit Hochdruck an Aufklärung arbeiten? Daran habe ich große Zweifel.“ Daimagüler nannte als Beispiel für mangelnde Aufklärung, dass Adresslisten des NSU nicht analysiert worden seien. So werde etwa ein Staatsanwalt aus Siegen in einer Liste aufgeführt. Er selbst sei an der Staatsanwaltschaft Siegen ausgebildet worden, kenne diesen Staatsanwalt aber nicht, so Daimagüler. Es stelle sich die Frage, wie der NSU auf diese Person gekommen sei. Hierzu sei aber nicht ermittelt worden, es sei z. B. nicht die Frage gestellt worden, ob dieser Staatsanwalt beruflich mit Neonazis zu tun gehabt habe. Daimagüler: „Hunderte Steine, die nicht einmal angefasst, geschweige denn umgedreht wurden.“
Daimagüler ging auf Rechtsprechung u.a. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Reichweite der gerichtlichen Aufklärungspflicht ein. Als er zu Parallelen zwischen den Ermittlungen zum NSU und zum Oktoberfestattentat kommt, unterbrach ihn Zschäpe-RA Heer mit dem Vorwurf, eine „Anklage gegen die Anklagebehörde oder den Staat“ gehöre nicht ins Plädoyer. Nebenklagevertreter RA Scharmer entgegnete, in der folgenden Auseinandersetzung, es sei der „Gipfel an Respektlosigkeit dem Kollegen Daimagüler gegenüber“, dessen Schlussvortrag mit derartigen Anmerkungen zu unterbrechen. Nach der folgenden Pause wies Daimagüler auf den Umstand hin, „dass, wo immer Rechtsradikale, Rassisten, Nazis ihre Morde verübt haben, gab es die Tendenz bei der BAW, die Tatmotive und die politischen Hintergründe herunterzuspielen bzw. den Täterkreis zu begrenzen“. Daimagüler wollte erneut auf Parallelen u.a. zum Oktoberfestattentat eingehen, wurde aber erneut von RA Heer unterbrochen. Richter Götzl wollte fortsetzen, aber Heer verlangte einen Senatsbeschluss. Nebenklagevertreter RA Hoffmann kommentierte das Verhalten Heers verständnislos: „Es ist tatsächlich ein Unding und es grenzt an das, was hier überhaupt noch zulässig ist, eine solche Zeitverschwendung jetzt an dieser Stelle zu provozieren.“ Es folgte eine weitere Unterbrechung und dann der Beschluss, dass der Antrag Heers abgelehnt wird. Daimagüler ging anschließend daran auf Parallelen zu den Ermittlungen zu einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße 1996 mit zehn Toten und Parallelen zum Massenmord am Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016 ein.
Zur Blockade von Akteneinsicht durch die BAW sagte Daimagüler: „Um die Deutungshoheit über das Narrativ des NSU-Komplexes zu behalten, kam es der BAW darauf an, alle Aspekte einer strukturellen Einbettung von Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe aus dem Prozess herauszuhalten.“
Auch die Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex sei durch die BAW entthematisiert worden: Hier schütze der Staat den Staat, „Staatsschutz in einem ganz anderen, in einem erschreckenden Sinne.“ Rassismus sei im Prozess nur dann zur Sprache gekommen, wenn die Nebenklage es zur Sprache brachte.
Daimagüler wies jedoch darauf hin, dass die Tatsache, dass sich andere mitschuldig gemacht hätten, keinen der Angeklagten entschuldige. Die Neonaziszene habe die Tendenz, sich selber als Opfer zu sehen: „Sie sind keine Opfer, sie sind Täter.“ Daimagüler sagte, es gebe im NSU-Prozess aber einen sechsten, unsichtbaren Angeklagten, den Staat.
Mit Blick auf die Ermittlungen fragte Daimagüler, wie es zu der „synchronen Ignoranz“ in allen Polizeidienststellen kommen konnte, es müsse hier ein System gegeben haben: „Und dieses System heißt institutioneller Rassismus.“ Daimagüler wurde dann erneut unterbrochen, diesmal von Zschäpe-Verteidiger Stahl. Nebenklagevertreter RA Scharmer dazu: „Es ist ein historisch einmaliger Vorgang, dass Verteidiger einen Schlussvortrag unterbrechen, weil dieser die Anklagebehörde kritisiert. Das ist einmalig. Tut mir leid, da fehlen mir die Worte.“ Der Verhandlungstag endete danach um 15:45 Uhr. Das Plädoyer von Mehmet Daimagüler soll am darauffolgenden Prozesstag fortgesetzt werden.
http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/11/16/15-11-2017/