Zusammenfassung des 392. Verhandlungstag – 28. November 2017

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.

Tageszusammenfassung des 392. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 28.11.2017

Sechster Tag der Plädoyers der Nebenklage

Nebenklageanwalt Stephan Kuhn, der ein Opfer des Nagelbombenanschlages in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 im NSU-Prozess vertritt, stieg in sein Plädoyer mit der Beschreibung der Beschaffenheit der dort vor einem Friseursalon abgestellten Nagelbombe mit den 800 Zimmermannsnägeln ein: „Neun Kilogramm Stahl, die dazu bestimmt waren, Fleisch zu durchbohren, wie das NSU-Bekennervideo mit seiner Bezeichnung ‘Aktion Dönerspieß’ für den Anschlag auf der Keupstraße noch einmal mit dem das eigene Menschenbild treffend ausdrückenden ‘Humor’ verdeutlicht.“ In Sekundenbruchteilen sei an diesem wunderschönen Sommertag ein Inferno über die belebte Straße hereingebrochen, so Kuhn. Mindestens 23 Menschen seien teilweise schwer verletzt worden und es sei ganz allein dem Zufall geschuldet gewesen, dass keine Todesopfer zu beklagen waren. Schwere Anschuldigungen erhob Kuhn dann gegen die beiden im Kontext der Nagelbombe nicht beschuldigten Angeklagten Eminger und Wohlleben: „Ich persönlich glaube, dass auch der Angeklagte Eminger vor dem Anschlag in die Tatplanung eingeweiht war und der Angeklagte Wohlleben zumindest in den Monaten nach der Tat von diesem Werk des NSU erfuhr.“ Eminger sei am Tattag in der Nähe des Tatortes, in Euskirchen, gewesen, Wohlleben habe Monate nach der Tat auf Ebay „nagelneue“ Teile eines Flugzeugmodells feilgeboten, wie sie auch in der Bombe verbaut gewesen seien.

Ausgehend von seinem Mandanten schilderte Kuhn sodann die Folgen des Anschlages für die Betroffenen, die außer mit den unmittelbaren körperlichen Verletzungen mit lebenslangen Traumata, paranoiden Angstzuständen, mit Berufsunfähigkeit und weiteren Zerrüttungen zu kämpfen haben. Ausführlich ging er auf die zunächst zutreffende Analyse des LKA NRW ein, dass zu dem Schluss kam, es sei den Tätern bei dem Anschlag darauf angekommen, durch die Verwendung einer relativ großen Menge Schwarzpulver, deren Wirkung durch etwa 800 Nägel noch erhöht wurde, eine möglichst breite, aufsehenerregende Wirkung zu erzielen. „Es sollten so viele türkische Personen wie möglich getroffen werden, ob diese Personen dabei verletzt oder getötet werden, bzw. um welche Personen es sich dabei im Einzelnen handelte, war den Tätern gleichgültig.“ Die Botschaft sei gewesen, zitiert Kuhn das LKA weiter: „Wir zünden die ‚Bombe‘ mitten in eurem ‚Wohnzimmer‘ – Ihr werdet euch dort nie mehr so wohl, so sicher wie früher fühlen und besorgt sein, dass das noch mal passiert.“ Die Botschaft sei bei den betroffenen türkisch- und kurdischstämmigen Menschen angekommen, der Anschlag aus Sicht der Täter_innen erfolgreich gewesen. Später hätten die Beamt_innen der Kriminalämter mit hanebüchenen Schlussfolgerungen alles eingerissen, was sie zuvor analytisch aufgebaut hätten, so Kuhn, obwohl Tatmittel,-ort und -zeit geradezu prototypisch den terroristischen Charakter der Tat und des NSU sowie die Menschenverachtung der von ihm verkörperten Ideologie ausdrückten.

Obwohl diese kriminalistischen Analysen richtig waren und auch etliche der Betroffenen zu Protokoll gaben, dass es sich um Nazis oder „Ausländerhasser“ gehandelt haben müsse, obwohl ein Zeuge den Täter, der die Bombe abstellte, als „blonden Deutschen bezeichnete“ und das LKA eine Stunde nach der Tat alle relevanten Stellen über diesen Fall „terroristischer Gewaltkriminalität“ informierte, richteten sich die Ermittlungen der Behörden ausschließlich gegen die Betroffenen, Bewohner_innen der Keupstraße und die Inhaber des Friseursalons. Selbst der Verfassungsschutz muss zunächst den richtigen Impuls gehabt haben, mutmaßte Kuhn, denn es habe noch am Tatabend der Beschaffungsleiter „Rechtsextremismus“ des Bundesamtes (BfV) versucht, Kontakt mit seinem Pendant in NRW aufzunehmen. Also werde, so Kuhn weiter, durch einen hochrangigen Mitarbeiter des Bereiches „Rechtsextremismus“ im BfV, der dienstlich u.a. mit den in diesem Verfahren relevanten V-Leuten „Corelli“, „Tarif“ und „Primus“ zu tun gehabt habe, veranschaulicht, dass auch von Seiten des Inlandsgeheimdienstes zu einem sehr frühen Zeitpunkt die richtigen Schlüsse aus dem objektiven Tatbild gezogen worden seien. Es seien sogar Parallelen zum Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse 2001 und auch zu der nazistischen Nagelbombenserie in London Ende der 90er Jahre gezogen worden.

Entgegen diesen richtigen Einschätzung wurde die Lagemeldung noch am selben Abend um das Wort „terroristisch“ entschärft und tags darauf widerrief der Bundesinnenminister Otto Schily selbst den terroristischen Charakter der Tat, brachte erstmals eine Tat im „kriminellen Milieu“ ins Spiel und immunisierte diese Wende mit den unterdessen berühmten Worten: „… aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, so dass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann.“ Anhand dieser Formel geht Schily bis heute gegen Kritiker_innen seines damaligen Verhaltens gerichtlich vor, wie zuletzt gegen Cem Özdemir. Für Stephan Kuhn ein Skandal: „Das war nicht nur objektiv falsch, es war – von wem auch immer – gelogen: Es gab keinerlei Erkenntnisse, die auf ein kriminelles Milieu hindeuteten und alle Erkenntnisse sprachen schon zu diesem Zeitpunkt für einen terroristischen Hintergrund.“ Die Folgen dieses abgestimmten Verhaltens sind bekannt: „Diese durch Politik und Behörden aktiv betriebene Verschleierung des Offensichtlichen hat das Feld bestellt, auf welchem die Saat des polizeilichen und medialen Alltagsrassismus gedeihen konnte.“ Zum Teil über Jahre wurde nun gegen die Betroffenen ermittelt, sie wurden observiert, es wurden fünf V-Leute und weitere verdeckte Ermittler im Keupstraßen-Umfeld platziert, Jahre zurückliegende Ermittlungen gegen Einzelne reaktiviert und die nun zu Beschuldigten gewendeten stundenlangen Verhören unterzogen und mit haltlosen und ehrenrührigen Verdächtigungen konfrontiert. Die Betroffenen nennen dieses Geschehen den „Anschlag nach dem Anschlag“ oder die „Bombe nach der Bombe“ und selbst der NSU-Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages spricht in seinem Abschlussbericht von der Opfer-Täter-Umkehr und „einer erneuten Viktimisierung der Opfer“. Zusammenfassend bezeichnete Kuhn diese Ermittlungen als Paradebeispiel institutionellen Rassismus’, wie ihn die MacPherson-Kommission in Großbritannien definiert, nämlich als „kollektives Versagen einer Organisation, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft eine angemessene und professionelle Dienstleistung zu bieten“. Die Kommunikationspolitik der Behördenleitungen und der (bewusste oder unbewusste) Alltagsrassismus ihrer Untergebenen hätten objektiv mitgeholfen, dass der Anschlag in der Keupstraße für den NSU zum Erfolg habe werden können, so Kuhn abschließend. Sein Plädoyer: „Hieran etwas zu ändern, eine Form von Rechtsfrieden wiederherzustellen, erfordert, dass man beides benennt: Es ist unredlich, den plumpen, mörderischen Rassismus der Emingers, Wohllebens, Gerlachs und Zschäpes zu geißeln, institutionellen Rassismus jedoch zu verschweigen.“

Ebenfalls ein Opfer des Nagelbombenanschlags vertritt Rechtsanwalt Berthold Fresenius, der in seinem Plädoyer an die Feststellungen seines Kollegen Kuhn anschloss, jedoch mit einer rasanten und folgenreichen Spitze gegen die Angeklagten und ihre Verteidigung startete, deren Gebaren er als „Beleidigung der Intelligenz der anderen Verfahrensbeteiligten“ bezeichnete. Insbesondere über Eminger sagte er, sein Anwalt würde ihn als einen Idioten bezeichnen, „als sei sonst Intelligenz ein konstituierendes Merkmal für die Begehung rechter Straftaten“. Ausgehend von der Herleitung seines Kollegen Kuhn zur Rolle Otto Schilys im Falle des Keupstraßen-Anschlags, warf er diesem die politische Orchestrierung gegen Menschen in der Keupstraße und ein staatlich geschaffenes Klima der Verdächtigung vor. Oberstaatsanwältin Greger habe sinngemäß im BAW-Plädoyer gesagt, die Keupstraße sei durch den Anschlag entseelt worden. Damit habe sie nur das Bombenattentat am 09.06.2014 gemeint, nicht jedoch staatliches Handeln, das sie nicht einmal thematisiert habe, so Fresenius. Das liege ganz auf Linie des Generalbundesanwalts, der als politischer Beamter weisungsgebunden sei und „darauf Bedacht zu nehmen“ habe, dass die bestimmten sicherheitspolitischen Ansichten der Regierung nicht gefährdet würden. Fresenius betonte dann, dass die Äußerung des damaligen Bundesinnenministers Schily bereits wenige Stunden nach dem Anschlag, die Tat deute auf ein „kriminelles Milieu“ hin, für viele Nebenkläger unmittelbar als Angriff auf die Opfer empfunden wurde. Sie hätten sich als potentielle Täter_innen gebrandmarkt gesehen und immer in der Angst gelebt, von der Polizei als Täter_innen verdächtigt zu werden. Schily habe so die „an rassistischen Vorstellungen und Mythen orientierte Vorgehensweise staatlicher Strafverfolgungsbehörden“ legitimiert. Damit „perpetuiert Otto Schily jenen Rassismus, unter dem die Opfer des NSU schon viel zu lange gelitten haben, nur um sich selbst und die deutschen Sicherheitsbehörden von jedem Fehlverhalten reinzuwaschen“, erklärte Fresenius.

Fresenius’ Mandant M.A. beschrieb in einer persönliche Erklärung, was ihm während des Anschlags zugestoßen ist: „Ich hatte Glück – ein Nagel schoss knapp an meinem Kopf vorbei in ein Regenrohr, durch die Wirkung der Bombe bin ich zu Boden gefallen und mein Trommelfell ist geplatzt.“ Ausführlich ging er auf die Leiden der Betroffenen ein, die nach dem Nagelbombenanschlag „von der deutschen Polizei als Täter, als Kriminelle behandelt, diskriminiert und in ihrer Ehre verletzt wurden“. Mit Blick auf den damaligen Bundesinnenminister Otto Schily beschrieb er die Auswirkungen von dessen, von Rechtsanwalt Fresenius beschriebenen Politik: „Wenn der Innenminister einen terroristischen Anschlag auf uns, die wir als Ausländer gelten, auf die Keupstraße als Zentrum von türkischen und kurdischen Geschäften, als nicht gegeben ausgibt, sondern auf ein ‘kriminelles Milieu’ verweist, war klar, was wir zu erwarten hatten.“ Wäre er gegen die Worte und die Autorität des Ministers auf die Straße gegangen, wäre er als „bekloppt“ bezeichnet worden, so M.A. Er selber sei von den rassistischen Ermittlungen derart eingeschüchtert gewesen, dass er seine körperlichen Verletzungen keinem Arzt gezeigt habe, weil er fürchtete der Polizei gemeldet zu werden. Erst nach dem Auffliegen des NSU sei er zu einem HNO-Arzt gegangen: zu spät. Entscheidend sei es, so schloss er, die Hintergründe aufzuklären – abschreckend wirke nämlich nicht nur die Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung, d. h. die Verhinderung weiterer Taten dieser Neonazis. „Ich will nicht, dass meine Kinder in Deutschland die Ängste haben müssen, die ich haben musste. Ich will auch nicht, dass meine Kinder vor der Polizei Angst haben müssen.“

Ein weiterer Betroffener, Arif S., beschrieb im Folgenden die bedrückenden sozialen und psychischen Zustände, in die er aufgrund des Anschlages und der staatlichen Verfolgung danach geraten war. Doch zunächst begrüßte er die Anwesenden: „Als erstes wünsche ich allen im Saal außer dieser Mörderin, ihren Unterstützern und Verteidigern, also Anwälten, einen guten Morgen.“ Er ging ausführlich auf das rassistische Handeln der Behörden ein. Immer wieder sei er vernommen worden und als er seine Vermutung äußerte, dass hinter dem Abschlag Nazis stecken könnten, sei ihm beschieden worden zu schweigen. Der psychische Druck, der so auf ihn ausgeübt worden sei, habe sein Leben ruiniert. Jahrelange Schlafstörungen, Panikattacken und soziale Einschränkungen bestimmten seinen Alltag über Jahre und bis heute.

Nach der Mittagspause meldete sich Eminger Verteidiger Kaiser zu Wort, dem wohl aufgefallen war, was Rechtsanwalt Fresenius gesagt hatte, nämlich, dass ein Verteidiger Emingers seinen Mandanten einen Idioten genannt habe. Diese Äußerung müsse er zurückweisen und sie sei außerdem in anderem Zusammenhang in einer nicht-öffentlichen Sitzung gefallen, weshalb er für die Klärung des Sachverhalts den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragte. Nach einigem Hin und Her wurde Kaisers Antrag abschlägig beschieden, wogegen er nach einer weiteren Pause mit einem Befangenheitsantrag reagieren wollte. Es nahm wieder einige Zeit und weitere Pausen in Anspruch, bis dieses Ansinnen im Sande verlief, Götzl aber trotzdem den Verhandlungstag bereits um 15:30 Uhr beendete.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.