Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.
Tageszusammenfassung des 393. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 29.11.2017
Siebter Tag der Plädoyers der Nebenklage.
Am heutigen 393. Prozesstag holte die Nebenklage-Anwältin Antonia von der Behrens zu einem großen Bogen aus, um in zehn Abschnitten chronologisch die Entwicklung der terroristischen Jenaer Neonazi-Szene im Detail aufzufächern und dem jeweils das Wissen und die Aktivitäten der „Sicherheitsbehörden“ gegenüberzustellen. Von der Behrens legte hierbei noch einmal pointiert unter anderem das Wissen dar, das aus einer großen Zahl von durch den Senat zumeist abgelehnten Beweisanträgen der Nebenklage bekannt ist.
Von der Behrens vertritt den jüngsten Sohn der Familie Kubaşık, der zur Tatzeit, als sein Vater Mehmet Kubaşık vom NSU ermordet wurde, sechs Jahre alt war. Für die Familie Kubaşık seien die zentralen Fragen, 1. wer das Netzwerk der für den Mord Verantwortlichen konstituiere und 2. welches staatliche Mitverschulden festgestellt werden könne, so von der Behrens. Beide Punkte hätten im NSU-Prozess behandelt werden müssen. Das, was über das Netzwerk und die Rolle der Sicherheitsbehörden bekannt sei, erklärte sie, wisse man trotz und nicht wegen der Verfassungsschutzämter und trotz der insoweit obstruierenden Ermittlungen des GBA. Das staatliche Mitverschulden bedeute aber nicht, „dass die Neonazi-Szene nicht auch ohne diese Unterstützung radikal und militant gewesen wäre und sie ohne den Verfassungsschutz ihren mörderischen Rassismus und Antisemitismus nicht in die Tat umgesetzt hätte“.
Von der Behrens ging nun chronologisch auf die verschiedenen Entwicklungsabschnitte des NSU ein, zunächst auf die Jahre bis 1996: Der Verfassungsschutz (VS) Thüringen habe Aufbau und Radikalisierung des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS) überwacht, indem er – seinem generellen Konzept für den Umgang mit der rechten Szene folgend –„Gründungs- und Führungspersonen als V-Männer anwarb“. Der VS habe den Strukturaufbau durch Straffreiheit für die V-Leute und deren finanzielle und logistische Ausstattung noch vorangetrieben. Selbst das Bundeskriminalamt habe dieses Vorgehen schon 1997 als „Brandstiftereffekt“ bezeichnet. Im Folgenden ging von der Behrens auf den V-Mann des bayerischen VS und Kader der neonazistischen „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ Kai Dalek ein. Der V-Mann Tino Brandt des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (TLfV), dessen Führungskader Dalek gewesen sei, habe vom VS Computer, Mobiltelefone und rund 200.000 DM Honorar und Spesen erhalten. Dieses Geld habe er zu einem Gutteil wieder in die Szene eingespeist, was dem Landesamt bekannt gewesen sei. Sämtliche der 30 Ermittlungsverfahren gegen Brandt seien eingestellt worden, vor Durchsuchungen sei Brandt gewarnt worden. Von der Behrens: „Das LfV Thüringen steuerte über Brandt faktisch den Aufbau des THS und duldete dessen Bemühungen um Radikalisierung und Militarisierung des THS“, ebenso wie das Landesamt über seinen V-Mann Marcel Degner „faktisch den Aufbau der ‚Blood & Honour‘-Sektion Thüringen steuerte und damit Einfluss nahm auf die B&H-Bundesdivision“.
Und all dies wisse man, obwohl ein Teil der Meldungen der V-Leute vernichtet worden oder nicht zugänglich sei, so von der Behrens. Das gesamte Ausmaß der Steuerung und der bei den Verfassungsschutzbehörden vorhandenen Erkenntnisse über diese Strukturen könne nur erahnt werden. Über Gründung und Aktivitäten der militanten Kameradschaft Jena bzw. der Sektion Jena des THS habe der VS auf Bundes- und Landesebene nicht nur durch Tino Brandt Kenntnis gehabt, sondern auch über den V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) „Corelli“: „Bereits am 21. Februar 1995 meldete Richter seinem V-Mann-Führer telefonisch, was er bei einem persönlichen Treffen von Uwe Mundlos erfahren hatte: Es sei von ca. 30 Personen eine neue Kameradschaft in Jena gegründet worden, die im Wesentlichen sogenannte Anti-Antifa-Arbeit betreibe und die zwei Ansprechpartner habe, die er mit Namen und Telefonnummer nannte.“ Von der Behrens: „Der ideologische Kern für die weitere Radikalisierung der Sektion Jena, die von der Drohung mit Gewalt zur Vorbereitung terroristischer Taten überging, ist ein von Vernichtungswillen getragener völkischer Rassismus und Antisemitismus.“ Die zunehmende Radikalisierung und die terroristischen Tendenzen des THS seien den Sicherheitsbehörden bekannt gewesen, dies habe aber durchaus nicht zu einer Unterbindung der verübten Straftaten geführt.
Nun sprach von der Behrens zur „Garage Nr. 5“, welche Beate Zschäpe angemietet hatte und welche vor dem Untertauchen zu einer Bombenwerkstatt ausgebaut worden war, in der fertige Rohrbomben und Sprengstoff gelagert waren: Die Dichte der Observationen von Mitgliedern, die Nähe von Brandt zur Sektion Jena und die Existenz noch unbekannter V-Männer im oder um den THS würden nur den Schluss zulassen, dass die Garage dem thüringischen VS lange vor dem offiziellem Auffinden bekannt gewesen sei. Die Durchsuchung der Garage am 26.01.1998 sei der Startschuss zum Abtauchen des späteren NSU-Kerntrios gewesen, so von der Behrens. Und weiter: „Das LfV Thüringen, die Staatsanwaltschaft Gera und das LKA Thüringen haben eine Festnahme von Böhnhardt vor oder während der Garagendurchsuchung aktiv behindert. Die Gründe dafür konnten weder unmittelbar nach der fehlgeschlagenen Polizeiaktion noch 15 Jahre später aufgeklärt werden.“ Es sei nach wie vor vollkommen unklar, ob das Handeln der beteiligten Akteure intendiert war, ob es auf denselben Motiven basierte, ob es gar abgesprochen war oder ob es sich einfach nur um ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände gehandelt habe. Die erstaunliche Kumulation der irregulären Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Durchsuchung lege allerdings nahe, dass zumindest das Untertauchen von Böhnhardt einkalkuliert gewesen sei.
Die Nebenklage-Anwältin räumte gründlich mit der Mär von Untertauchen und Untergrund auf: „Die drei führten in Chemnitz kein Leben im Untergrund, sondern waren höchstens abgetaucht; sie hielten sich in einer nur 100 Kilometer entfernten Stadt in einem ihnen ideologisch und freundschaftlich verbundenen und zudem von den Sicherheitsbehörden gut überwachten Neonazi-Netzwerk auf.“ Der Umgang mit relevanten Informationen lasse nur den Schluss zu, dass es nicht im Interesse des TLfV und wohl auch nicht im Interesse des Staatsschutzes des LKA Thüringen gewesen sei, dass die LKA-Zielfahndung die drei Gesuchten wirklich finde bzw. ihr Aufenthaltsort aktenkundig werde. „Da die Informationen, die bereits 1998 vorlagen, durch den Fund der Rohrbomben bestätigt worden waren und somit die Gefahr, die von den dreien ausging, auf der Hand lag, muss auch das Bundesamt für Verfassungsschutz spätestens ab Herbst 1998 eigene operative Maßnahmen zur Aufklärung durchgeführt haben.“ Rechtsanwältin von der Behrens zählte detailliert eine Vielzahl von Situationen auf, in denen die Behörden den Aufenthaltsort der Abgetauchten hätten in Erfahrung bringen und eine Festnahme versuchen müssen. Es sei, so von der Behrens, bei der Fülle von Erkenntnisquellen bzgl. des Unterstützerkreises schlechterdings unvorstellbar, dass keine originären Informationen zu den dreien und ihren Unterstützer_innen im Bundesamt angefallen seien, das sei einfach unglaubhaft. Angesichts dessen, wie offen und aktiv Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sich nach ihrem „Abtauchen“ als Teil der Chemnitzer Szene bewegt hätten und wie groß das Ausmaß der Überwachung ihrer Unterstützer_innen gewesen sei, sei es unter keinen Umständen nachvollziehbar, dass angeblich von keiner Behörde der konkrete Aufenthaltsort der drei festgestellt worden sei.
Fest steht nach von der Behrens, dass das NSU-Kerntrio noch vor der Begehung des ersten Mordes mit den verfügbaren Informationen von den Behörden hätte festgenommen werden können: „Zum Zeitpunkt der Beschaffung der späteren Tatwaffe und der Vorbereitung der Morde im Frühjahr 2000 wurde das gesamte Umfeld dicht und zwar deutlich engmaschiger als im Jahr 1999 überwacht.“ Aufgrund der Dichte der Überwachung müsse darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass die Behörden Kenntnis sowohl von der Beschaffung und/oder Lieferung einer scharfen Schusswaffe, der Ceska 83, gehabt hätten als auch vom Umzug von Chemnitz nach Zwickau. Rechtsanwältin von der Behrens ging hier detailliert u.a. auf das „Landser“-Verfahren, das Blood & Honour-Verbotsverfahren, das THS-Verbotsverfahren und die jeweils damit verbundenen Überwachungsmaßnahmen im NSU-Unterstützer_innen-Netzwerk ein. Dabei erwähnte sie auch, dass das BfV im Jahr 2000 Quellen in Thüringen gehabt habe, so etwa „Teleskop“, der als „Aussteiger“ über die NPD in Jena berichtet und Zugang insbesondere zum heute mitangeklagten Carsten Schultze gehabt habe. Seine Akte sei angeblich seit 2010 im BfV nicht mehr aufzufinden gewesen, gab von der Behrens trocken zu Protokoll.
Von der Behrens ging u.a. auf den sogenannten „Taschenlampenanschlag“ 1999 in der Gaststätte „Sonnenschein“ in der Nürnberger Scheurlstraße ein: „Es ist kein Zufall, dass Nürnberg als Tatort ausgewählt wurde. Vielmehr spricht alles dafür, dass Neonazis aus Nürnberg den NSU auf den konkreten Anschlagsort aufmerksam gemacht haben“, so von der Behrens. Ähnlich wie schon dieser Tatort habe auch der Tatort des ersten Mordes des NSU, des Mordes an Enver Şimşek, an einer Stelle gelegen, an die Ortsunkundige nicht zufällig geraten würden: „Allerdings war Mitgliedern der Nürnberger Neonazi-Szene der Blumenstand bekannt“.
Die Nebenklageanwältin fuhr im Plädoyer damit fort, den Aktivitäten des NSU-Netzwerks und der Unterstützer_innen jeweils das damalige Wissen bzw. die Aktivitäten der Sicherheitsbehörden gegenüberzustellen. Dabei verwies sie darauf, dass nicht abschließend ermittelt sei, wie Mundlos und Böhnhardt zu den ersten vier Mordtatorten gelangt sind, und erwähnt die Möglichkeit, dass die Fahrzeugbeschaffung über den BfV-V-Mann Ralf Marschner gelaufen sein könnte. Die Nähe des Kerntrios zu dieser illustren Gestalt der Zwickauer Nazi-Szene sei auffällig, so von der Behrens: „Nach dem Anschlag in der Probsteigasse und vor den weiteren Morden im Sommer 2001 zogen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in die Polenzstraße 2, die zentral in Zwickau und unweit der damals von Marschner betriebenen Szene-Läden lag.“ Das BfV könne über Marschner von den Taten des NSU erfahren haben. Darüber hinaus habe der V-Mann Thomas Starke dem LKA Berlin über „Personen aus Thüringen, die per Haftbefehl wegen Sprengstoff- und Waffenbesitzes“ gesucht würden, berichtet. Die Akten des Berliner VS zur Band „Landser“, in denen sich vielfältige Erkenntnisse zu Starke und den ehemaligen B&H-Strukturen in Chemnitz und somit potenziell auch Informationen zu denen dreien befunden haben könnten, seien nach dem 04.11.2011 irregulär vernichtet worden – angeblich versehentlich wegen einer Verwechslung. Das LfV Sachsen habe zu jener Zeit u.a. NSU-Unterstützer_innen um André Eminger und Mandy Struck überwacht. André Eminger sei z. B. allein nach Mitteilung des LfV Sachsen in den Jahren 2002 und 2003 mehrfach angeblich oder tatsächlich ohne Ergebnis observiert worden, eine erneute Observation sei später in den Jahren 2006 bis 2007 erfolgt. Inwieweit der Wohnungs- und Identitätsgeber Matthias Dienelt im Fokus des VS stand, wisse man nicht; er sei aber bei der Observation des LfV Sachsen des sogenannten „Konditionsmarsches“ der Weißen Bruderschaft Erzgebirge im Jahre 2000 festgestellt und identifiziert worden, so von der Behrens. Auch eine nur kurzzeitige Observation von Matthias Dienelt hätte „die Observanten zu Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe führen müssen“, so von der Behrens.
Im weiteren kam von der Behrens zurück zur Nichtwahrnehmung der NSU-Aktivitäten durch die Behörden: Ein im Editorial des Neonazifanzines „Der Weisse Wolf“ platzierte und hervorgehobene „Gruß an den NSU“ sagte sie: „Dass die zwei namentlich bekannten der 13 BfV-Mitarbeiter, die die Ausgabe auf ihrem Tisch hatten, den Gruß und seinen Kontext – wie behauptet – nicht wahrgenommen haben, ist vollkommen unglaubhaft“. Antonia von der Behrens verwies am Ende ihres ersten Plädoyerteils auf viele weitere offene Fragen hin: Zu Tatortausspähungen, zum Motiv und zu eventuellen Mittäter_innen des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter und des Mordanschlages auf ihren Kollegen Martin A. im April 2007 in Heilbronn und zum Grund für das Abbrechen der Mordserie in den Jahren 2002 und 2003. Von der Behrens: „Nach den Asservaten zu urteilen, gab es Überlegungen zur Fortführung der Mord- und Anschlagsserie, ob nun in Deutschland oder im Ausland“. Jedenfalls gebe es „erhebliche Hinweise darauf, dass ideologisch dem NSU und dessen Unterstützer_innen nahe stehende Kreise lange vor dem 04. November 2011 von der Existenz des NSU und dessen Gewalttaten wussten“, so von der Behrens. Eines von vielen Beispielen sei der „Dönerkiller“-Song der Naziband „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“, dessen Lesart der Mordserie sei gegenläufig zur herrschenden Berichterstattung gewesen und nur mit exklusivem Wissen denkbar.
Im Anschluss daran zählt Antonia von der Behrens weitere Ereignisse und Vorfälle auf, die auf ein frühzeitiges Wissen unterschiedlicher Verfassungsschutz-Behörden vom NSU hindeuten, u.a. die Geschichte Andreas Temmes und den allzu frühen Verdacht der Polizei, dass es sich bei den toten Bankräubern im Wohnmobil um Mundlos und Böhnhardt gehandelt habe. So kam von der Behrens zu dem Schluss, „dass das Netzwerk des NSU groß und bundesweit war und dass von einem abgeschottet agierenden Trio ebensowenig die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behörden keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU hatten.“ Die Frage nach einem Motiv für das Handeln der Sicherheitsbehörden sei unbeantwortet, so von der Behrens. Die dargestellten Vorgänge zeigten aber deutlich, „dass nichts für Fehler, sondern alles für gezieltes Handeln spricht.“
An dieser Stelle beendete der Vorsitzende Richter Götzl den Prozesstag um 15:35 Uhr. Antonia von der Behrens kann mit ihrem Plädoyer am Dienstag, 05.12.2017, um 09:30 Uhr fortfahren.
Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.