von Lisa Wolf
Dienstag, 28., und Mittwoch, 29. November 2017
Die Zugfahrt Berlin-München hat nochmal Zeit gegeben, sich auf den Prozess vorzubereiten, weiter zu lesen, sich auszutauschen über Fragen und Gedanken. Ein Tag vor Verhandlungsbeginn habe ich mich noch mit einer Familie getroffen. Wir hatten uns seit zwei Jahren, als wir uns auf Lesvos kennengelernt hatten, nicht mehr gesehen. Sie haben 2015, nach fünf Wochen Flucht, München erreicht, um ihrem Sohn eine ärztliche Behandlung zu ermöglichen. Die Gleichzeitigkeit ist bedrückend. Weshalb ich auch gekommen bin, und wo in der Stadt ich die nächsten Tage sein werde, habe ich an dem Abend nicht angesprochen. Sie erzählen von den letzten Jahren, Stationen ihrer Flucht und den bis heute quälenden Bildern aus dieser Zeit. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Sie haben dagegen geklagt.
Dienstag dann:
Ich finde keine Worte für das Bild der Reihen aus Angeklagten und ihren Anwält_innen, darunter Nazianwält_innen, durch die Glasscheibe. Ich nehme mich immer wieder wahr beim Beobachten ihrer Bewegungen und Körpersprachen, ihrer Lektüren, der Kommunikation untereinander, ihres überwiegend starren Schweigens, aber auch des erschreckend vielen Lachens von Gerlach, des scharfen, starren Blicks von Wohlleben auf die Zuschauerempore, seines Grinsens während der Nebenklage-Plädoyers, der Absprachen zwischen Angeklagten und Verteidigern. Ich bin irritiert, welche Allianzen zu bestehen scheinen, wenn der Polizeibeamte im Anschluss an die Verhandlung mit Zschäpe schäkert und der Staatsanwältin der Bundesanwaltschaft durchweg das Grinsen im Gesicht steht. Was ist da los?
Wie würde die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit ablaufen? Welche Rolle spielt die Zeugenschaft der Öffentlichkeit, ihre Beobachtung und ihr Dokumentieren dieses Prozesses?Beeindruckt bin ich von den Nebenklage-Plädoyers, der Angehörigen sowie der Anwält_innen, denen eine detaillierte Recherche zum NSU-Netzwerk vorausgeht. Sofern sie von den Verteidigern der Angeklagten nicht unterbrochen und hinausgezögert werden, macht die Nebenklage erneut deutlich, dass die Mit-Verantwortlichkeit und das Mit-Verschulden der Behörden – des Verfassungsschutzes, der Ermittler_innen und der Bundesanwaltschaft, welche eine wirkliche Aufklärung der faschistischen Morde bis heute verhindert – nicht ignoriert werden dürfen. Die Verteidigung versucht, die Nebenklage-Plädoyers durch allerlei Anträge und sich wiederholende sogenannte Besprechungspausen zu stören. Es geht um Taktik, darum Formfehler zu provozieren, um erneut Grund zu haben einzuhaken und zu verzögern. Sie wissen, welche Stärke antifaschistischer Recherche sie zu erwarten haben. Zwischen den Nebenklage-Anwält_innen sitzen auch Betroffene des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße sowie die Familie des Mordopfers Mehmet Kubaşık. Manche Prozessbesucher_innen auf der Zuschauerempore kennen einzelne Personen aus der Nebenklage. Da ich zum ersten Mal da bin, frage ich mich umso mehr, wie sich Anteilnahme und Solidarität kenntlich machen lässt. Und wie treten wir als antifaschistische Öffentlichkeit auf der Zuschauerempore in Kontakt untereinander?
Die Atmosphäre ist am zweiten Tag schon vertrauter. In den Pausen, wie auch nach dem Prozesstag finden interessante Gespräche und Vernetzungen statt. Ich frage mich, wie wir diese wichtige antifaschistische Diskurs- und Recherche-Arbeit in die Praxis übertragen und auf aktuelle Fälle anwenden können. Was werden staatliche und zivilgesellschaftliche Konsequenzen sein? Wie werden wir, auch nach dem Urteilsspruch, der historischen und gegenwärtigen Kontinuität faschistischer (staatlicher) Gewalt entgegentreten?