Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.
Tageszusammenfassung des 395. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 06.12.2017
Neunter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Am 395. Prozesstag sollte, wie am Vortag angekündigt, die Nebenklage der Familie des am 6. April 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat ihre Plädoyers halten. Die Rechtsanwältin Doris Dierbach begann. Sie fasste zunächst zusammen, dass eine den Sachverhalt erschöpfende Aufklärung im Verfahren nicht erfolgt sei, es habe nicht alles an Erkenntnis gebracht. Dabei habe das Verfahren eine gesellschaftspolitische Bedeutung. Zur Aufklärung der Straftaten gehöre nicht nur das, was unmittelbar zur Verurteilung dazugehöre. Der Nebenklage sei vorgeworfen wurden, dass sie aus dem Prozess einen Untersuchungsausschuss habe machen wollen. Diese „Nebelkerze“ sei leider auch von Medien aufgegriffen worden.
Dierbach kam dann auf den Mord an Halit Yozgat zu sprechen: „Wir wissen bis heute nicht, warum Halit Yozgat ermordet wurde. Zwar sei klar, dass es ein rassistischer Mord war, aber die Frage, wie Böhnhardt und Mundlos auf Halit Yozgat gekommen seien, sei unbeantwortet: „Wie kamen Mundlos und Böhnhardt gerade auf das Internetcafé in der Holländischen Straße in Kassel? Wieso wussten sie, dass Halit Yozgat sich entgegen der ursprünglichen Planung der Familie zum Zeitpunkt seiner Ermordung noch im Internetcafé aufhielt, obwohl er längst weg sei wollte nach Ablösung durch seinen Vater? Wie sollen drei Mörder aus Thüringen ausgerechnet auf die Idee kommen, dass Halit Yozgat in Kassel ein geeignetes Opfer für ihre rassistischen, menschenverachtenden Morde sein könnte? Woher sollen sie Kassel kennen? Wir wissen, dass die Mörder offenbar gerade jüngere Männer ausgesucht haben für die Verfolgung ihrer faschistoiden Ideologie. Vielleicht kam der Hinweis, dass sich dieser junge Mann entgegen seiner eigentlichen Planung am 06.04.2006 um 17 Uhr immer noch im Internetcafé befand, gerade aus eben jenem Internetcafé.“ Dierbach fragte: „Das alles soll ohne lokale Unterstützer geschehen sein?“ Die BAW sagt, es sei Zufall, dies halte sie, Dierbach, für eine faule Ausrede. Zu den Ermittlungen sagt sie, dass die rechte Mordserie nicht als solche erkannt worden sei, weil man nicht danach gesucht habe, weil man krampfhaft an einem Bild der nazifreien Bundesrepublik habe festhalten wollen.
Dierbach kritisierte dann die Verfassungsschutzbehörden, insbesondere das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen und dessen am Tatort des Mordes an Halit Yozgat anwesenden Mitarbeiter Andreas Temme. Sie kritisierte u.a. in diesem Zusammenhang die BAW: „Die Bundesanwaltschaft deckte die Verdeckungsbemühungen der Verfassungsschutzämter nach Kräften und erschwerte auf diese Weise selbst die Aufklärung. Sie hat also zu den Aufklärungsmängeln selbst beitragen. Stattdessen sah sich die Bundesanwaltschaft nicht dazu in der Lage, auch nur ein kritisches Wort über die Aktenvernichtungen zu verlieren.“ Auch den Umgang der BAW mit den Zeugen aus der Neonaziszene kritisierte Dierbach. Zeugen aus dem rechtsradikalen Milieu hätten in der Verhandlung „nach Strich und Faden“ gelogen und „ins Demenzielle gehende“ Erinnerungslücken vorgetäuscht, ohne dass die Bundesanwaltschaft eingeschritten wäre. Das spreche für ein eingeschränktes Aufklärungsinteresse.
Dierbach ging dann zu Gesichtspunkten über, die besondere Bedeutung für die Nebenklage Yozgat besitzen. Sie sagte, Halit Yozgat, „geliebter einziger Sohn und geliebter, geradezu vergötterter Bruder von vier Schwestern“, sei zur Schule gegangen, um einen höheren Schulabschluss zu erreichen. Er habe nicht mehr zu seiner Ermordung beigetragen, als eine andere Hautfarbe zu haben und neben seiner deutschen Identität auch eine andere Identität im Herzen zu tragen: „Familie Yozgat hat nicht damit gerechnet, gerade in dem liberalen, sicheren Land, in dem ihre Kinder großzuziehen sie sich vorgenommen hatten, Opfer von Illiberalität, Rassismus und schlichter Menschenverachtung zu werden.“ Familie Yozgat habe erleben müssen, dass der Verfassungsschutz aus Gründen der vermeintlichen Staatsräson drauf verzichtet habe, gegen rechtsradikale Umtriebe vorzugehen: „Der Prozess hat erneut deutlich gemacht, dass der Einsatz von V-Leuten ein Pakt mit dem Teufel ist.“ Dierbach führte zum VS aus, entweder habe er es mitbekommen und für sich behalten oder das V-Mann-Wesen sei völlig nutzlos und führe nur dazu, dass der VS Neonazis noch mit den für die Begehung von Straftaten nötigen Mitteln ausstatte.
Dierbach widmete sich dann Andreas Temme: „Andreas Temme hat uns hier nach meiner festen Überzeugung belogen. Er hat nicht nur uns, sondern von Beginn der Ermittlungen an auch die Ermittler belogen. Und er konnte das tun, weil er volle Rückendeckung durch seine Behörde [das LfV Hessen]hatte.“ Dierbach sagte dazu: „Die Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat wurde durch das LfV Hessen massiv behindert“.
Auch der Senat habe sich nicht ausreichend um Aufklärung bemüht, bemängelte Dierbach. So sei, trotz entsprechender Anträge keine Schallrekonstruktion vorgenommen, oder sich mit den Ergebnissen von Forensic Architecture auseinandergesetzt worden. Der Senat habe damit auch den Verfassungsschutz geschützt.
Im Anschluss daran plädierte ihr Kollege Alexander Kienzle: „Als wir 2012 mit der Wahrnehmung der Interessen der Familie Yozgat beauftragt wurden, war die Hoffnung der Familie, dass in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren mit den zugrundeliegenden Förmlichkeiten und seiner Ausrichtung auf die Ermittlung der Wahrheit auch die Frage beantwortet werden würde, die für die Familie seit der Ermordung Halit Yozgats am 06.04.2006 im Internetcafé der Familie in der Holländischen Straße 82 in Kassel im Vordergrund steht: Welche Rolle spielte der beim Mord anwesende Verfassungsschützer Andreas Temme und welche Rolle spielt der Verfassungsschutz? Seit dem 04.11.2011 stellte sich die Frage modifiziert: Welche Rolle spielten Verfassungsschützer und Verfassungsschutz bei der Straftatserie des NSU, welche insbesondere bei der Begehung der 10 dem NSU sicher zuzuordnenden Hinrichtungen, welche bei den Sprengstoffanschlägen, welche bei den Überfällen?“ Kienzle: „Die Erwartung der Familie war, dass in einem rechtsstaatlich um Aufklärung bemühten Verfahren auch die an Recht und Gesetz gebundenen Behörden sich einem Ermittlungsdruck ausgesetzt sehen würden, wie er nach dem 06.04.2006 die Familie traf. Yozgats hatten die Hoffnung, dass auch die Kenntnisse der Verfassungsschutzbehörden, deren Agieren rund um den NSU und ihre Beiträge zu Vorbereitung, Umsetzung und Geheimhaltung der Straftatserie jetzt ermittelt werden würden, wie 2006 selbst in die Trauerfeier für den erschossenen Halit Yozgat hinein bei der Familie Yozgat ermittelt worden war.“
Kienzle sagte, die Hoffnung der Familie Yozgat sei weitgehend enttäuscht worden. Die Fragen der Familie seien nicht beantwortet worden. Dazu stellte Kienzle dar, dass der Senat im Rahmen der „weit verstandenen Amtsaufklärungspflicht“ sehr wohl die Möglichkeit und Pflicht zur Aufklärung gehabt hätte. An diesem Maßstab müsse sich das Verfahren messen lassen. Das Ziel hätte die Erlangung der „forensischen Wahrheit“ sein müssen. Darum habe sich die Nebenklage bemüht. Ermittelt worden sei im Verfahren aber „nicht der wahre Sachverhalt, sondern lediglich dessen um staatliche Verantwortlichkeit bereinigter Teil“. Kienzle fügte hinzu: „Dass der Generalbundesanwalt auf diesem Hintergrund in seinem Schlussvortrag die Überzeugung vorgibt, eine Mitverantwortung staatlicher Behörden habe sich nicht ergeben, spricht den Zielen des Strafprozesses Hohn.“ Kienzle stellte dem anschließend die strafrechtliche Relevanz bekannter Handlungen des Verfassungsschutzes in den Jahren 1998 (Kenntnis beim VS Brandenburg von Bestrebungen zur Waffenbeschaffung des NSU) sowie 2006 (die Unterstützung Temmes durch das LfV Hessen) entgegen. Doch dem eingeschränkten Verständnis von der Amtsaufklärungspflicht folgend habe auch der Senat im Laufe der Beweisaufnahme damit begonnen, die Aufklärung staatlicher Verstrickung zu verhindern.
Kienzle sagte über den Prozess: „Dadurch wird eine historische Möglichkeit verspielt“, und schloss sein Plädoyer ab: „Das Verfahren hinterlässt ihrer Hoffnungen beraubte Nebenkläger.“
Zu Beginn des Schlussvortrags von Rechtsanwalt Kienzle hatten auch Familienmitglieder von Halit Yozgat neben ihren Vertreter_innen Platz genommen. Nun ergriffen sie das Wort. Beide Eltern sprachen auf türkisch, es erfolgte eine Übersetzung. Zunächst sprach Ayşe Yozgat, Mutter des ermordeten Halit Yozgat, sie wandte sich an Beate Zschäpe: „Können Sie einschlafen, wenn sie ihren Kopf auf das Kissen legen? Ich kann selbst seit elf Jahren nicht einschlafen, denn ich vermisse meinen Sohn sehr, so sehr.“ Danach sagt sie in Richtung des Senats, sie seien ihre letzte Hoffnung gewesen, „aber ich sehe, dass bei Ihnen auch kein Ergebnis herauskommt. Sie haben wie Bienen gearbeitet aber keinen Honig produziert, es gibt kein Ergebnis. Auch Sie haben Kinder und ich wünsche Ihnen so etwas nicht, aber: Denken Sie auch daran, dass auch wir Menschen sind. Sie sagen zwar, Sie teilen unser Leid. Teilen ist aber etwas anderes als Erleiden.“ Sie erhoffe sich, dass eines Tages alles herauskommen wird: „Sehr geehrte Ältere und Gerichtsvorsitzende: Ich will nicht, dass Mütter solche Leiden wie ich erleiden, noch andere was erleiden. Bitte nehmen Sie ihre Aufgabe richtig wahr!“
Nach seiner Frau sprach İsmail Yozgat, der Vater des ermordeten Halit Yozgat. Er wandte sich an den Senat: „Ich habe Ihnen mehrmals gesagt, der Agent Temme hat meinen Sohn ermordet oder er hat den Täter arrangiert. Da sind zwei Schuldige: Der eine ist Temme, der andere der Innenminister Bouffier. Die beiden vervollständigen sich gegenseitig. Ich habe Ihnen mehrmals gesagt: Es sollte eine Ortsbesichtigung unter der Bedingung meiner Teilnahme stattfinden im Internetladen, in dem Halit ermordet wurde. Aber ich kenne den Grund nicht: ich habe seit zwei Jahren keine Antwort darauf bekommen.“ Yozgat betonte, er gehe davon aus, dass die Taten den drei Personen zugeschrieben werden: „Welche Rechnung machen Sie, wen alles möchten Sie hier entlasten? Mein einziger, 21-jähriger Sohn starb in meinen Armen. Bereits zum Zeitpunkt seiner Ermordung sagte ich, dass Ausländerfeinde meinen Sohn ermordet haben, aber niemand hat mir geglaubt. Jetzt sagen sie, ich habe damals die Wahrheit gesagt, sie fragten mich, woher wusste ich das.“ Er wies erneut auf die Ortsbesichtigung hin und betonte, er werde ohne sie kein Urteil anerkennen: „Warum machen Sie sich lustig über uns? Warum hören Sie nicht auf uns?“ Im Jahre 2011 habe die Bundeskanzlerin Frau Merkel versprochen, dass alles aufgeklärt werde, sie hätten davon noch nichts gesehen, noch nichts gehört: „Das Einzige, das wir gehört haben, ist die Aktenverschredderung, die Vernichtung der Beweismittel und die Inschutznahme des Agenten Temme durch Bouffier. Als mein Sohn ermordet wurde, schrieb ich einen Brief an Bouffier. Ich schrieb ihm: Sehr geehrter Herr Präsident, darf ich mit Ihnen über die Ermordung meines Sohnes ein Gespräch führen? Er schrieb mir in seiner Antwort, dass er mit mir kein Gespräch führen will. Die Entscheidung überlasse ich Ihnen, dem deutschen Volk: Darf ein Präsident einem Mann wie mir, der seinen Sohn verloren hat, so eine Antwort schreiben?“ Er appellierte erneut an den Senat, eine Ortsbesichtigung durchzuführen: Denn bei der Ortsbesichtigung werden sie feststellen, das Temme gelogen hat.“
Nach einer Pause folgt das Plädoyer von RA Turan Ünlüçay, der Angehörige von Mehmet Kubaşık vertritt. Er verlas zunächst eine Erklärung einer Schwester von Mehmet Kubaşık, sie beschrieb darin den Moment, in dem sie vom Tod ihres Bruders erfuhr: „Ich konnte es nicht glauben, für mich war eine Welt zusammengebrochen. Den Schmerz, den ich in dem Moment verspürte, kann ich Ihnen nicht beschreiben. Ich denke, dass diesen Schmerz auch nur die anderen Opferangehörigen nachempfinden können. Wir waren ratlos. Es gab überhaupt keine Erklärung! Mein Bruder war ein sehr liebevoller Mensch er hatte niemandem was angetan.“ Sie sprach dann über die Ermittlungen und die falschen Verdächtigungen gegen ihren Bruder: „Dadurch vertieften sich unser Schmerz und unsere Trauer. Wir hatten überhaupt kein Verständnis für diese Unterstellungen. Die Wahrheit kam jedoch am Ende raus. Es war schon schlimm genug, dass mein Bruder getötet wurde, als ob das nicht ausreichte, wurde er auch noch zu Unrecht verunglimpft.“ Nachdem ihr Bruder nach Deutschland ausgewandert sei, sei er erst nach 18 Jahren wieder in die Türkei gekommen, „beim zweiten Mal wurde uns sein Leichnam übergeben. Wir hatten noch so viele schöne Tage mit Mehmet vor uns.“ Zum Abschluss ihrer Erklärung formulierte sie ihre Hoffnungen für das Verfahren: „Ich hoffe dass diese Frau, diese Mörderin die Höchststrafe bekommt. Jedoch wird uns das nicht ausreichen. Ich habe auch weiterhin die Erwartung, dass die Taten vor allem das staatliche Fehlverhalten vollumfänglich aufgeklärt wird. Wir haben die Befürchtung, dass die Ermittlungen mit der Bestrafung der Angeklagten aufhören. Meinen Bruder haben sie in noch so jungen Jahren von uns genommen. Seine Kinder und seine Frau erfuhren großes Leid. Ich hoffe dass das Gericht für Gerechtigkeit sorgt und diese Mörderin bestraft.“
Ünlüçay führte daran anschließend aus, die Verunsicherung der migrantischen Menschen sei durch die Ermordung nicht erreicht worden, eine Verunsicherung sei durch das Handeln der Behörden erreicht worden. Institutioneller Rassismus sei nicht nur ein abstrakter Begriff, sondern stelle für Opferangehörige eine enorme Belastung dar. Dass nahezu alle Opferangehörigen die gleiche Erfahrung machten, spreche dafür, dass Vorurteile bei Sicherheitsbehörden weit verbreitet sind. „Während Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund als nicht begründet abgetan wurden, sah man es nicht als absurd an, obwohl man bereits wusste, dass es sich um eine Mordserie handelt, Familienangehörige hinsichtlich einer Beziehungstat als Motiv weiterhin zu befragen.“ Wenn Angaben der Zeugin Dz. ernst genommen worden wären, dann hätte es Anhaltspunkte gegeben. Die Zeugin im Mordfall Mehmet Kubaşık habe Personen gesehen, die auf sie wie Nazis wirkten. Der Zeugin seien trotzdem Bilder von dunkelhäutigen Menschen vorgelegt, obwohl sie Deutsche beschrieben hatte. Das Wort Nazi sei dann nicht mehr zu finden gewesen. „Dies lässt für die Zukunft, befürchten, dass sich in einem ähnlichen Fall die identischen Ermittlungsmuster wiederholen könnten.“ Er schloss sein Plädoyer ab: „Frau Elif Kubaşık hat im Rahmen des Schlussplädoyers deutlich gemacht, dass sie keinesfalls vorhat das Land zu verlassen. Im Gegenteil sie sieht sich unter anderem als eine Dortmunderin. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Angeklagte und die Unterstützer des NSU begreifen wie ernst dies gemeint ist.“
Es plädierte nun Nebenklageanwalt Kiriakos Sfatkidis, er vertritt einen Bruder Mehmet Kubaşıks im NSU-Prozess. Er begann: „In diesem Prozess wurden insgesamt nahezu 600 Zeugen vernommen. Zahlreiche Sachverständigengutachten wurden eingeholt. Es wurden Zeugen aus der rechten Szene vernommen, die hier ausgestanzte Erinnerungslücken geltend gemacht haben oder plötzlich unter einer Art ‚Generalamnesie‘ gelitten haben.“ Er ging insbesondere auf das „Teileinlassungsverhalten“ von Zschäpe ein. Schon deren Verwendung des Begriffs „moralische Schuld“ stelle eine Verhöhnung der Opfer dar. Sfatkidis sagt, Zschäpe habe auch nach dem 04.11.2011 und im Prozess in die „Lisa-Dienelt-Trickkiste“ gegriffen. („Lisa Dienelt“ war eine Tarnidentität Zschäpes im sogenannten „Untergrund“ des NSU): „Täuschen, Tarnen, Verharmlosen, Ablenken, eine Fassade erschaffen und aufrechterhalten.“ Sfatkidis schloss sein Plädoyer ab: „Außerdem hat Beate Zschäpe auch bekundet, dass sie ein Faktenmensch sei. Hier sind nun die Fakten, welche die Beweisaufnahme ergeben hat: Kein Geständnis von Seiten der Angeklagten Zschäpe. Keine Reue. Keine ernst gemeinte Entschuldigung. Keine Unrechtseinsicht. Keine Abkehr von der Ideologie. Keine Abkehr von den Taten. Aus der Beweisaufnahme hat sich ergeben, dass sie unter anderem als Mittäterin von Morden und versuchten Morden schuldig ist und zwar nicht nur moralisch.“
Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwalt Isaak Sidiropoulos; er vertritt die älteste Schwester von Mehmet Kubaşık. Er spricht zunächst über die Ermordeten: „Die Opfer – es waren Menschen – Menschen wie Sie und ich, die auf heimtückische Weise ermordet oder schwer verletzt wurden. Ich sage bewusst Menschen und nicht Türken, Griechen, Migranten oder Polizisten. Es waren nämlich gleichberechtigte Menschen, mit einer unantastbaren Würde. Sollte man meinen. Die Mitglieder und Unterstützer des NSU, die heute auf der Anklagebank sitzen und auch jene, die nach unserer Überzeugung noch nicht ermittelt werden konnten, sahen dies jedoch keineswegs so. Sie waren und sind offenbar immer noch der Meinung, dass diese Menschen kein Existenzrecht haben, zumindest nicht in Deutschland.“ Hinweise auf Neonazis als Täter beim Mord an Mehmet Kubaşık hätten die Ermittlungsbehörden „bis zur Unkenntlichkeit verblassen lassen“, so Sidiropoulos. „Für meine Mandantin stellt sich seit dem Mord jeden Tag erneut die Frage: Warum gerade er? Er, der keinem was zu Leide getan hat und ein ganz normales Leben führte. Wie konnte dies in einem Land wie Deutschland bloß passieren?“ Er sprach dann über die Behörden: „Das Bedauernswerte und Unfassbare daran ist, dass von Seiten der Ermittlungsbehörden, keinerlei Fehler eingeräumt wurden, geschweige denn eine Entschuldigung für die fatalen Ermittlungen gegenüber den Angehörigen selbst, ausgesprochen wurde. Ein gewisses Maß an Selbstkritik wäre angesichts des tragischen Ausmaßes der Mordserie und der daraus resultierenden, unter Umständen vermeidbaren Folgen für die Opferfamilien, angebracht gewesen. Fehler sind menschlich und Fehler einzugestehen zeugt von Größe. Doch die sucht man bei den Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutzämtern vergeblich.“
Er verlas zum Abschluss seiner Erklärung eine persönliche Erklärung seiner Mandantin. Auch sie beschrieb darin, wie ihr Bruder zum ersten mal nach 18 Jahren zurück in die Türkei kam: „Es war für uns wie ein Fest. Alle Familienangehörigen freuten sich über seine Rückkehr. Dieses schöne Wiedersehen in der Türkei kam uns jedoch viel zu kurz vor. Als wir uns wieder verabschieden mussten, versprach uns Mehmet, fortan regelmäßig in die Türkei zu kommen. Hierzu kam es jedoch nicht. Er kam nicht mehr lebend zurück. Stattdessen kam sein Leichnam. Mir fällt es schwer in Worte zu fassen, was ich gefühlt habe, als ich hörte, dass mein Bruder ermordet wurde. Es ist einfach unbeschreiblich, was ich in diesem Moment erlebt habe. (…) Mein liebster Bruder wurde ermordet. Diesen Schmerz werde ich mit ins Grab nehmen. Alle Familienangehörigen werden dies.“ Sie frage sich immer wieder:“ Aus welchem Grund haben die meinen Bruder und viele anderen Menschen ermordet und verletzt? Warum? Warum nur? Es heißt, aus Rassismus. Aber warum nur dieser Rassismus? Was bringt dieser Hass? (…) Mit dem Tod meines geliebten Bruders ist auch ein Teil von uns mit ihm gegangen. Nichts wird jemals so sein wie es war. Die Trauer sitzt tief. Zu groß ist die Sehnsucht nach ihm. Zu viele Fragen sind offengeblieben.“ Sie beschrieb die Beerdigung Mehmet Kubaşıks in der Türkei: „Als mein Bruder begraben wurde, ist mein Vater aus seiner tiefsten Trauer in das Grab gestiegen und sagte: ‚Begrabt lieber mich! Ich hätte sterben sollen! Warum musste mein Sohn nur sterben?‘ Es war schrecklich, es war unerträglich dieses traurige Szenario mitanzusehen. (…) Wir werden ihn nie wiedersehen, wir werden nie wieder seine Stimme hören.“ Auch sie formulierte zum Schluss ihrer Erklärung ihre Forderungen: „Hoher Senat, Bitte bestrafen Sie die Angeklagten angemessen, aber stellen Sie in Ihrem Urteil auch fest, dass es auch weitere Beteiligte gegeben haben muss, die an den Morden mitgewirkt haben, auch wenn sie hier noch nicht angeklagt wurden. Auch diese Täter und Gehilfen müssen irgendwann für die schrecklichen Morde und Mordanschläge bestraft werden. Mein geliebter Mehmet war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein, der dem krankhaften Rassismus zum Opfer gefallen ist. Dieser Rassismus und dieser Hass muss mit aller Härte bekämpft und bestraft werden. Die ganze Welt schau gespannt auf dieses Verfahren und auf das Urteil. Ich hoffe deshalb, dass Sie die Angeklagten angemessen bestrafen werden.“
Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwalt Önder Bogazkaya; er vertritt die jüngere Schwester von Mehmet Kubaşık. Er verlas einige Gedanken seiner Mandantin. Sie erzählte von ihrem Bruder: „Mein Bruder Mehmet war zwei Jahre älter als ich. Er hat in jungen Jahren geheiratet und hatte eine Tochter und zwei Söhne. Als sein Tochter 6 Monte alt war, musste er zum Militär. Aufgrund von diversen Schwierigkeiten, hat er danach die Türkei verlassen und ist in die Bundesrepublik Deutschland eingereist wo er Asyl beantragt hat. Wir wussten, dass er dort glücklich war. Das einzige was uns traurig machte war, dass es ihm erst 18 Jahre nach seiner Ausreise möglich war, uns wieder in der Türkei zu besuchen. Wir hatten uns so sehr gefreut, als wir ihn nach dieser langen Zeit endlich wieder sehen konnten. Nun sagte er, werde ich euch jedes Jahr in der Türkei besuchen. Er selbst kam aber nicht mehr, er kam nie mehr wieder. Stattdessen kam nur die Nachricht von seinem Tod. Es wurde gesagt, dass Mehmet ermordet worden sei. Es gab noch so viel Dinge dir wir teilen, besprechen, zusammen mit ihm erleben wollten. Wir wollten die verlorene Zeit nachholen. Es ist jedoch leider so vieles unvollendet geblieben. Unser Schmerz war unbeschreiblich, so dass ich nicht versuchen werde, diesen in Worte zu fassen.“ Die Ungewissheit nach seinem Tod habe ihren Schmerz gesteigert: „Diese immer wiederkehrenden Gedanken und Fragen und letztendlich die Konfrontation mit der bitteren Wahrheit, haben bei mir zu einem großen Vertrauensbruch in den deutschen Staat geführt. (…) Wie konnten diese Menschen mit ihrer rassistischen Ideologie, über all die Jahre, nach all den Morden, den Sicherheitsbehörden nicht auffallen?“ Sie habe geglaubt, Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen seien, seien gleichwertige schützenswerte Bürger, dass die Werte des deutschen Grundgesetzes für alle Bürger gelten. Dieses sei erschüttert worden: „Während wir euch immer vertraut und geachtet haben, habt ihr uns wohl nie als gleichwertig betrachtet, ja sogar die Taten als ‚Dönermorde‘ bezeichnet. Hättet ihr diese Menschen als ein Teil von euch akzeptiert, wären vielleicht die Morde, zumindest aber nicht diese Mordserie, durchgeführt werden können. Nicht nur diejenigen, die diese Morde eigenhändig begangen haben sind schuldig, sondern auch die, die während dieser Morde still waren oder eine umfassende Aufklärung der Taten verhindern wollen. Sie sind genauso schuldig wie diejenigen, die den Abzug der Waffe selbst gedrückt haben.“
Sie schloss ihre Erklärung ab: „Zum Abschluss möchte ich sagen: Es mildert nicht meinen Schmerz, wenn die Personen auf der Anklagebank im Einzelnen besonders hohe Strafen bekommen, solange die ganze Wahrheit, die Frage nach dem Warum, die Frage nach den rechten Strukturen und der Rolle Sicherheitsbehörden unbeantwortet bleibt. Ich frage daher konkret: Wo war der Staat, mit all seinen hochentwickelten Sicherheitsbehörden, all seinen Polizisten und den Staatsanwälten, während diese Mordserie immer wieder neue Opfer forderte?“
RA Bogazkaya schloss daran an: „Das geforderte Versprechen der umfassenden Aufklärung wurde von der Bundeskanzlerin Frau Merkel gemacht. Man muss feststellen, dass dieses Versprechen leider nicht erfüllt wurde.“ Vielleicht sei die hohe Anforderung an diesen Prozess, umfassende Aufklärung herbeizuführen, von Beginn an nicht umzusetzen gewesen, insbesondere wenn diejenigen, die diese Fragen beantworten könnten, bis zuletzt schweigen oder gar lügen. Trotzdem sei der Prozess nicht nutzlos oder überflüssig gewesen. Im Gegenteil, der Prozess sei wichtig gewesen: „Er hat zu einem noch mehr Fragen aufgeworfen und zum anderen, einige Punkte offensichtlich gemacht. Auch meiner Ansicht nach, kann die Behauptung, dass der NSU ein isoliertes Trio war nicht aufrechterhalten werden. Es wurde deutlich, dass der Verfassungsschutz die rechte Szene unterstützt hat und sich sogar V-Männer im unmittelbaren Umfeld des NSU bewegten. Ohne Unterstützer aus der rechten Szene und indirekte oder direkte Hilfe des Verfassungsschutzes, wäre es dem NSU nicht möglich gewesen, diese Morde zu begehen.“ Die Mordserie hätte früher beendet werden können, wenn die Behörden nicht einseitig ermittelt hätten: „Die Polizei genießt einen ungeheuren Vertrauensvorschuss bei der Bevölkerung, auch unter der türkischsprachigen.“ Bogazkaya: „Das Perfide daran ist, dass eben dieser Vertrauensvorschuss, hier die unmittelbar Betroffenen zum zweiten Mal zu Opfern gemacht hat.“ Die Ermittlungsarbeit der Polizei habe den Eindruck erweckt, dass diese nach dem Motto geführt wurde: “Ein Türke kann nicht einfach Opfer sein, er muss ein Krimineller sein. Man muss nur lange genug suchen.“ Bogazkaya beendete sein Plädoyer: „Das Traurige ist, dass die in der Hauptverhandlung vernommenen Ermittlungsleiter und Polizisten, auch rückblickend, fast ausnahmslos keine Fehler eingestanden oder sich gar bei den Opferfamilien entschuldigt haben. Auf diese selbstgerechte Art kann weder bei den Opferangehörigen, noch insgesamt in der Bevölkerung das verlorene Vertrauen zurückgewonnen werden. Es hätte zumindest den Schmerz der Angehörigen gemildert, wenn mit klaren Worten, ohne auszuweichen, gesagt worden wäre, wir haben ein Problem mit institutionellen Rassismus, wir entschuldigen uns! Wir werden alles tun, damit sich das in Zukunft nicht wiederholt! Dieser institutionelle Rassismus kann in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden. Deswegen darf das Ende dieses Prozesses nicht das Ende der gesellschaftlichen Aufarbeitung sein.“
Der Prozesstag endete, nachdem RA Grasel für die Angeklagte Zschäpe angab, sie könne nicht mehr.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.