Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt ausführlicher Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Protokolle ersetzt werden.
Zusammenfassung des 396. Verhandlungstag – 12. Dezember 2017
Zehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Obwohl eine heftige Erkältung des Eminger Verteidigers Kaiser den Tag kurz hielt, hatte er es in sich, wofür vor allem Nebenklageanwältin Angela Wierig sorgte. Doch der Reihe nach, denn zunächst plädierten Nebenklageanwalt Andreas Thiel, der im NSU-Prozess die Eltern, den Bruder und die jüngste Schwester des am 27.06.2001 in der Hamburger Schützenstraße ermordeten Süleyman Taşköprü, und Nebenklageanwältin Gül Pinar für eine weitere Schwester des Ermordeten.
Rechtsanwalt Thiel erklärte, dass sein Schlussvortrag am Ende dieses langen Prozesses dazu dienen solle, „dem vom NSU ermordeten Süleyman Taşköprü und seinen Hinterbliebenen Raum zur Beachtung, Erinnerung und Gedanken zu Verantwortung und Verantwortlichkeiten zu verschaffen, auf deren Grundlage der Senat sein Urteil finden möge“. Seit der Ermordung dränge sich der Familie die Frage auf: „Was wollten diese Leute von uns?“ Die Videosequenzen aus dem Bekennervideo des NSU gäben eine brutale Antwort auf diese Frage: „Taten statt Worte.“ Dabei erinnerte Thiel daran, dass dieses Video ein Foto enthalte, das die beiden Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos vor Ort aufgenommen hätten und das den erschossenen – damals 31-jährigen – Süleyman Taşköprü direkt nach seiner Hinrichtung zeige und auch „wie feige und brutal und menschenverachtend er sein Leben verlor“. Das Bild des Ermordeten, das die Täter aufgenommen haben, sei „wie ein Trophäenbild des Großwildjägers, der sich am Tod seiner Beute erfreut“, sagte Thiel, und dass die Angeklagte Zschäpe es als „Vermächtnis des NSU und als Vermächtnis ihrer beiden Männer und als Vermächtnis für sämtliche Gruppenmitglieder“ medial – deutschlandweit und inzwischen weltweit – in Umlauf gebracht habe. Thiel: „Welch unfassbare Zumutung und welch unfassbarer Schmerz für unsere Mandanten“. Während Menschen, die von den Morden erführen, entsetzt und beschämt seien, huldige der Angeklagte Eminger den Tätern in seiner Wohnung mit einem Altar.
Thiel ging dann auf bedauerlicherweise unterbliebene Ermittlungen zu „deutschen Männern“ ein, auf die der Vater des Opfers unmittelbar nach der Tat hingewiesen hatte, und wies darauf hin, dass zum Zeitpunkt der Ermordung Süleyman Taşköprüs bereits „das strategische Konzept“ des NSU sichtbar war, nämlich durch ursprünglich vorgesehene 14 Morde „die gezielte Verängstigung und Vertreibung der in Deutschland lebenden Ausländer“.
Im Folgenden ging Thiel auf die Tatbeiträge und die ideologische Ausrichtung der Angeklagten Zschäpe ein, der er eine bedeutende und gleichberechtigte Rolle im Kerntrio des NSU zuweist, und erörterte Aspekte der Strafzumessung, wobei er und seine Mandantschaft einzig beim Angeklagten Schultze echte Reue und Abkehr erkennen.
Am Ende seines Plädoyers erinnerte Thiel einmal mehr an das unfassbare Leid der Familie und daran, wie der Vater des Opfers den Sterbenden im Laden der Familie auffand und in seinem Schoß sterben sah. In bewegender Weise sprach er von Süleyman Taşköprü und den Folgen seiner Ermordung für die Familie und insbesondere für Süleyman Taşköprüs damals zweieinhalbjährige Tochter. Der Familie sei damals „das Herz abgerissen worden“, gab Thiel wieder. „Die Angst, dass sich solche Morde wiederholen, ist das Schlimmste“, zitierte er eine seiner Mandant_innen und schilderte aus ihrer Perspektive die Folgen des Mordes für die Familie: „Die ganzen Anschuldigungen und dass die Familie verdächtigt wurde, war sehr schwierig“.
Als nächste ergriff die Hamburger Nebenklageanwältin Gül Pinar das Wort, die eine der Schwestern des Ermordeten vertritt. Für ihre Mandantschaft, so sagte Pinar, sei die Eröffnung des Prozesses 2013 von „höchster Bedeutung“ gewesen, für sie sei „es von Anfang an wichtig“ gewesen, „dass die hier Angeklagten verurteilt werden und zwar gemessen an ihrem eigenen Schmerz zu den höchst möglichen Strafen“. Sie nannte zunächst die Fragen, die ihrer Mandantin „auf der Seele brennen“: „Warum Süleyman Taşköprü? Gab es doch Helfer in der Nähe?“ Tragisch sei, so Pinar, dass diese „aufgrund des Zeitablaufs und der Weigerung der Hamburger Politik nicht mehr aufgeklärt werden.“
Pinar erinnert an die umfängliche Beweisaufnahme zu den Tätern und ihrem Umfeld und zur Entwicklung der terroristischen Vereinigung NSU und an die schwer zu ertragenden Aussagen der zahlreichen Neonazi-Zeugen im Prozess: „Sie, Herr Vorsitzender, mussten mich öfters zur Ruhe ermahnen, es fiel mir schwer, nicht über den Tisch zu springen.“ Sie schloss sich der Schlussfolgerung des Nebenklageanwalts Stolle an, dass der Zeitpunkt der Entstehung der terroristischen Vereinigung deutlich früher als von der Bundesanwaltschaft behauptet anzusetzen sei. Dabei weist auch Pinar die viel kritisierte These der Bundesanwaltschaft, der NSU habe nur aus der Angeklagten und den „toten Uwes“ bestanden, entschieden zurück und auf Verbindungen insbesondere nach Hamburg und zu Hamburger Neonazis hin. Ihre Ergebnisse stützte Pinar auf einige „frappierende“ Beispiele mit Hamburg-Bezug: Sie geht auf das Neonazi-Fanzine „Der Weiße Wolf“ ein, in dem 2002 nicht nur der „Gruß an den NSU“ abgedruckt gewesen sei, sondern auch ein Artikel aus dem „Hamburger Abendblatt“ über das Stadtviertel Altona. Pinar ging auch auf das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz ein, das einen V-Mann geführt habe, der wiederum den V-Mann „Corelli“, also den im Zeugenschutz verstorbenen Thomas Richter, kontaktiert und diesem die „’NSDAP/NSU’-CD“ übergeben habe: „Wieso hatte Corelli Kontakt nach Hamburg?“ Weiter ging Pinar auf Verbindungen der NSU-Unterstützer_innen aus dem „Blood&Honour“-Netzwerk und aus der neonazistischen Gefangenenbetreuungsorganisation HNG und darauf ein, dass das neonazistische „Deutsche Rechtsbüro“ (um u.a. die Hamburger Rechtsanwält_innen Gisa Pahl und Jürgen Rieger) ebenfalls den so genannten NSU-Brief erhalten haben könnte und auf einer entsprechenden Liste im Brandschutt der Frühlingsstraße in Zwickau vermerkt sei.
Pinar erklärte zum Schluss ihres Plädoyers zwar: „Wer die Aufklärungsarbeit nur in den Gerichtssaal schieben will, macht es sich zu einfach.“ Ergänzte aber dann mit Blick auf das nahende Ende: „Wer meint, dass mit einem Prozess gegen die fünf Angeklagten das Kapitel NSU ausreichend beleuchtet wurde, denkt nicht weit genug.“ Niemand, so sagte sie, dürfe sich durch die Verurteilung der fünf Angeklagten rein waschen.
Es folgte ein reichlich seltsames Plädoyer von Nebenklageanwältin Angela Wierig, die eine weitere Schwester des Mordopfers Süleyman Taşköprüs vertritt und zu Beginn „auf divergierende Einschätzungen in der Nebenklage“ der Familie hinwies. Man kann sagen, dass die Haltung Wierigs der der sonstigen Nebenklage Taşköprü diametral entgegensteht.
Rechtsanwältin Wierig behauptete zunächst, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt „psychopathische Killer“ gewesen seien (eine Behauptung, die zuvor die Verteidigung Wohlleben im Verfahren aufgestellt hatte) und Beate Zschäpe ihnen „Zuflucht geboten“ habe. Danach geriet ihr Plädoyer zu einer Verteidigungsrede für den Angeklagten Ralf Wohlleben, wobei sie zu diesem Zweck die belastenden Aussagen des Angeklagten Carsten Schultze in Zweifel zog, Wohllebens eigene – fast schon geständige – Einlassung aber außer Acht ließ. Wierigs Plädoyer driftete dann völlig ab. Bis hin zu dem an Rosa Luxemburg angelehnten Satz, man müsse bereit sein, die „Äußerungen des Andersdenkenden“, also in diesem Zusammenhang des Angeklagten Wohlleben, „zu gestatten und ernstzunehmen“. Wierig nimmt Wohlleben augenscheinlich seine Schutzbehauptungen ab, er habe Gewalt stets abgelehnt und sich auf den „Marsch durch die Institutionen“ machen wollen. Weiter sprach Wierig in ihrem Schlussvortrag gegen die bei „Demos, Mahnwachen und in Beweisanträgen behauptete wachsende Gefahr durch rechtsradikale Gewalt für Migranten“. Dazu stellt sie relativierend der Zahl von 200 von Neonazis seit der „Wende“ Ermordeten die hohe vierstellige Zahl sonstiger Mordopfer und insbesondere von Opfern von sog. „Ehrenmorden“ in Deutschland gegenüber. Wierig brachte in einem wilden Ritt unter anderem die Schleyer-Entführung und den „Fall Barschel“ gegen den von der Nebenklage gegenüber deutschen Ermittlungsbehörden erhobenen Vorwurf des institutionellen Rassismus in Stellung.
Aber nicht genug damit: Man dürfe nicht, wie angeblich vielfach geschehen, über alle Ermittlungsbeamten urteilen, sagte Wierig, viele hätten sich im Gespräch mit ihr „unendlich schwer von diesem Vorwurf getroffen“ gezeigt. Es sei doch folgerichtig gewesen, im Umfeld der Opfer zu ermitteln: „Das ist nicht Rassismus, das ist Kriminologie.“ Man stelle sich vor, hob Wierig an, wenn in der damals aufgeheizten Stimmung Ermittler auf einer Pressekonferenz kundgetan hätten, dass Migranten, die ein Kleingewerbe betreiben, im Fokus rassistischer Täter stünden. „Ich denke nicht, dass ein solches Vorgehen zu ernstzunehmenden Hinweisen geführt hätte. Ich bin mir aber sicher, dass Teile Hamburgs gebrannt hätte und halte die Möglichkeit von Ausschreitungen, Straßenschlachten und Tote für wahrscheinlich“, schloss sie ihre Visionen mit einer Opfer-Täter-Verkehrung.
Auch nannte sie den Weg der Ermittlungen über V-Leute zwingend, um das „angebliche Netzwerk“ auszuleuchten. Das Unterstützernetzwerk könne nicht so groß gewesen sein, wie hier vielfach behauptet, so viele Leute können nicht dicht halten, meinte Wierig. Namens ihrer Mandantin distanzierte sie sich ausdrücklich von jeder Art von Vereinnahmung durch „politisch motivierte Menschen“, die sich um eine politische Aufarbeitung des NSU-Komplexes bemühen: „Meine Mandantin will nicht missbraucht werden von Leuten, die sich anmaßen im Namen der Opfer zu sprechen.“
Ihre Ausführungen wurden auf der Empore der Öffentlichkeit mit Unverständnis und Irritation aufgenommen, nur Einzelne, auch Pressevertreter_innen, klatschten symbolisch lautlos dazu.
Nach der Mittagspause kam noch der Nebenklageanwalt Tobias Westkamp zu Wort, er vertritt eines der beiden Opfer des Keupstraßen-Anschlages, die am nächsten an der Explosion dran waren und infolgedessen auch am schwersten verletzt worden waren. Und gegen die, wie Westkamp ausführte, im Nachgang auch ermittelt wurde unter der Annahme, ihre Nähe zum Explosionszentrums sei ein Hinweis auf ihre Urheberschaft des Anschlages. Anwalt Westkamp erklärte, man könne „sich kaum vorstellen, was das aus Geschädigten macht, (…) nicht primär als Opfer, sondern als Verantwortlicher am eigenen Leid wahrgenommen zu werden“. Westkamp richtete sich abschließend an seinen Mandanten: „Sie wissen, dass das Ziel des NSU, die Beseitigung einer freien Gesellschaft, in Köln, nicht nur, aber auch in der Keupstraße, fundamental gescheitert ist. Ich hoffe, Sie schaffen es, diesen Misserfolg als Trost aufzufassen.“
Der Prozesstag endet wegen der Erkältung des Eminger-Verteidigers Kaiser und Abwesenheit von dessen zweiten Verteigers Hedrich bereits um 13:05 Uhr.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.