Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.
Zusammenfassung des 398. Verhandlungstag – 14. Dezember 2017
Zwölfter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Der heutige Verhandlungstag konnte pünktlich beginnen (die Anwälte des Angeklagten Eminger hatten ihre Erkältungen anscheinend überwunden und waren beide anwesend) und hatte vor allem die Widersprüche und Unwahrheiten in den Einlassungen der Angeklagten Zschäpe zum Thema. Denn Rechtsanwalt Eberhard Reinecke, der Betroffene des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße vertritt, hatte es sich in seinem Plädoyer zur Aufgabe gemacht, die Einlassungen Zschäpes nachgerade zu zerlegen. Damit setzte Reinecke einen Teil seiner bisherigen Arbeit als Nebenklagevertreter fort. Denn Reinecke und sein Kollege Schön hatten schon in der bisherigen Hauptverhandlung immer wieder Beweisanträge gestellt, die auf offensichtliche Differenzen der schriftlichen Einlassungen Zschäpes etwa zu Feststellungen aus der Beweisaufnahme hinwiesen.
Zunächst aber machte Reinecke einige Vorbemerkungen zur Rolle der Bundesanwaltschaft. Die Opfer erwarteten von dieser vor allem, dass sie ihre Ermittlungsversprechen wahrmacht. Dies betreffe auch Ermittlungen zum Unterstützernetzwerk. Bis heute sei kein Verfahren bekannt geworden, das die BAW so geführt habe, dass mit einer Anklageerhebung zu rechnen ist. Reinecke dagegen: „Die Bundesanwaltschaft wird sich in Zukunft daran messen lassen müssen, welche weiteren Unterstützer sie anklagt.“ Die Nebenkläger, so Reinecke, wären froh, wenn die BAW die Vermutung, dass keine weiteren Verfahren folgen werden, Lügen straft. Beispielhaft legte Reinecke dar, dass zumindest gegen Unterstützer, die als Zeugen im Verfahren teilweise „nach Strich und Faden“ gelogen hätten, Verfahren wegen Falschaussagen angestrengt werden müssten. Er nannte hier den Zeugen Ralph Hofmann [164. Verhandlungstag], den Zeugen Fiedler [187. Verhandlungstag] und Marcel Degner [zuletzt 309. Verhandlungstag]; von letzterem sei zumindest bekannt, dass ein Verfahren eingeleitet wurde. Am Ende der Vorbemerkung formulierte Reinecke: „Frau Kollegin Lunnebach hat am Ende Ihres Plädoyers einen Appell an den Senat gerichtet, unbequem zu sein. Diesem schließe ich mich an. Ebenso dem Appell des Kollegen Scharmer, im Urteil deutlich zu machen, was alles nicht im Prozess aufgeklärt werden konnte.“
Dann ging Reinecke zur Einlassung Zschäpes über. Den ersten Teil stellte er unter die Überschrift „Teilschweigen und mangelnde Authentizität“. Er ging der Frage nach, welche Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Einlassung das schriftliche Frage-Antwort-Spiel der Angeklagten und ihrer neuen Verteidiger hat. Offenbar meinten die Vertrauensverteidiger Zschäpes mit dieser Form der Einlassung den „Stein der Verteidigungsweisen“ gefunden zu haben. Dass ein solches Frage- und Antwort-Spiel überhaupt möglich war, sei der schlichten Tatsache geschuldet gewesen, so Reinecke, dass sich das Verfahren ohnehin schon lange hingezogen hatte. Das Vorgehen der Angeklagten führe aber dazu, dass ihre Angaben schon von vornherein und ohne inhaltliche Prüfung als unglaubhaft angesehen werden müssten. Die Authentizität der Aussage entwickle sich im Dialog von Frage und Antwort, sagte Reinecke. Auch nonverbale Reaktionen, z. B. Minenspiel und Spontaneität, spielten bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eine Rolle. Reinecke: „Legt man all diese Maßstäbe zugrunde, so steht von vornherein fest, dass die Angaben von Frau Zschäpe bei der Beweiswürdigung nur von untergeordneter Bedeutung sind.“ Reinecke ging auch auf die Tatsache ein, dass Zschäpe Antworten auf viele der schriftlich gestellten und nicht beanstandeten bzw. vom Gericht für zulässig erklärten Fragen schlicht verweigert hatte, hier vor allem Antworten auf Fragen aus der Nebenklage: „Dieses Verhalten belegt nicht nur ihre Verachtung gegenüber den Opfern, sondern ist als Teilschweigen ohne weiteres verwertbar.“ Viele der Fragen der Nebenklage hätten offenkundige Widersprüche in der Einlassung Zschäpes angesprochen, insofern könne in der Beweiswürdigung auch die Tatsache eine Rolle spielen, dass Zschäpe genau solche Fragen nicht beantwortet hat. Reinecke nannte drei Beispiele offensichtlich prozessrelevanter Fragen, die Zschäpe nicht beantwortet habe und sagte dann: „Ich könnte noch ein bis zwei Stunden lang erkennbar prozessrelevante Fragen von Nebenklagevertretern verlesen, die von der Angeklagten nicht beantwortet wurden. Es trifft also schlicht nicht zu, dass Frau Zschäpe alle prozessrelevanten Fragen beantwortet hätte.“ Zschäpe habe zur Begründung der Nichtbeantwortung von Fragen u.a. angegeben, dass sie der Meinung sei, dass viele der Fragen eher in einem Untersuchungsausschuss und nicht in einem Strafprozess gestellt werden sollten. Welche Fragen das sein sollen, könne man der Einlassung nicht entnehmen. Vielleicht wolle Zschäpe damit Verständnis bei denen finden, die gerne unangenehme Fragen aus dem Prozess in einen Untersuchungsausschuss auslagern würden. Zeitungsberichten sei zu entnehmen, dass der sächsische Untersuchungsausschuss erwogen habe, Zschäpe als Zeugin zu laden. Man dürfe also gespannt sein, ob sie die Fragen dort beantwortet. Reinecke: „Ich vermute, das wird sie nicht tun.“
Eine authentische Einlassung zeichne sich dadurch aus, so Reinecke, dass sie vor dem Auge des Lesers oder Hörers Bilder entstehen lässt, und zeichne sich durch Detailreichtum aus. Reinecke: „Nun ist es nur guten Schriftsteller gegeben, Sachverhalte schriftlich so zu schildern, dass beim Leser Bilder entstehen.“ In einer mündlichen Befragung sei es viel eher möglich, solche Bilder entstehen zu lassen, weil der Fragende Einzelheiten erfragen könne, die ihm an seinem Bild fehlen. Reinecke führte dann an Beispielen plastisch vor, wie im Unterschied zu Zschäpes Einlassung eine authentische Schilderung hätte aussehen können. Er ging z. B. auf die Nachfrage des Vorsitzenden bzgl. einer Angabe Zschäpes zum Anschlag in der Kölner Probsteigasse ein. Zschäpes Einlassung [257. Verhandlungstag]: „Was sprachen Mundlos und Böhnhardt über Köln? Antwort: Details kann ich nicht schildern. Ich hatte nur ab und zu das Wort Köln verstanden. Ich hatte sie nie darauf angesprochen, ob sie in Köln etwas vorhatten.“ Reinecke dazu: „Wir versuchen uns das jetzt mal plastisch vorzustellen. Bevor die Angeklagte angeblich etwas zum ersten Mord erfahren hat und in der guten Stimmung nach dem erfolgreichen Banküberfall sitzen die Drei im Wohnzimmer und die Angeklagte hört angeblich immer nur: Murmel, murmel, murmel Köln. Murmel, murmel, murmel Köln. Murmel, murmel, murmel Köln.“ Warum sie in dieser Situation nicht einmal fragt, was mit Köln ist, habe Zschäpe nicht nachvollziehbar erklärt. Es drängten sich hier aber einige Fragen geradezu auf, so Reinecke. Auch in Bezug auf die Schilderung Zschäpes, wie sie von der Ermordung Enver Şimşeks erfahren haben will, legt Reinecke dar, wie detailarm diese gewesen sei. Das sei insgesamt keine authentische Darstellung einer Person, die durch die Offenbarung eines Mordes überrascht wird, so Reinecke: „Anders natürlich dann, wenn man von vornherein – wovon ich ausgehe – in die Mordplanung einbezogen war.“ An den wenigen Beispielen könne man schon sehen, dass die mangelnde Authentizität ein deutliches Lügenanzeichen ist, so Reinecke. Reinecke:“Offensichtlich ist ihr und ihren jetzigen Vertrauensverteidigern klar, dass Frau Zschäpe. eine mündliche Befragung nicht durchstehen kann.“ Wer geschickt lügen wolle, mache es so wie der hessischen Verfassungsschützer Hess es seinem Kollegen Temme empfohlen habe, nämlich möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. Reinecke: „Authentisch kann der Lügner nur sein, wenn er weitestgehend eine zutreffende und auch authentische Schilderung abgibt und lediglich an bestimmten neuralgischen Punkten das wahre Geschehen verändert. Frau Zschäpe hingegen stand vor der Aufgabe fast 14 Jahre im Untergrund umzulügen.“ Reinecke kommt zu dem Schluss, dass Zschäpe nach dem Verlauf der Hauptverhandlung anders als ihre damaligen Verteidiger die realistische Einschätzung gehabt habe, dass ihr Schweigen nichts nutzt: „Die Alternative zum Schweigen ist aber nicht die verlogene Einlassung.“
Im nächsten Teil ging Reinecke detailliert auf die sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen Darstellungen Zschäpes ein, ob und wie sie aus Zeitungen von den Taten des NSU erfahren haben will. Mal lasse sich der Einlassung nichts dazu entnehmen, mal habe sich Zschäpe laut ihrer Einlassung mit den Angaben von Böhnhardt und Mundlos zufrieden gegeben, mal habe sie angeblich plötzlich Zweifel gehabt und sich selbst Zeitungen besorgt, ausgerechnet nach dem Mord an Habil Kılıç hätten ihr laut ihrer Einlassung wiederum Mundlos und Böhnhardt einen Zeitungsartikel vorgelegt. Die Angaben Zschäpes dazu seien offenbar erfunden, um vorhandene Finger- und DNA-Spuren auf beim NSU sichergestellten Zeitungsartikeln scheinbar harmlos erklären zu können, so Reinecke. Im Zusammenhang mit dem Zeitungsarchiv des NSU übte Reinecke aber auch Kritik an BAW und BKA wegen Ermittlungslücken. Es stelle sich hier ziemlich offensichtlich die Frage, wie das „Trio“ in den Besitz der Artikel gekommen ist, und damit die Frage nach möglichen weiteren Unterstützern. Diese Frage hätten sich laut Akten offensichtlich auch Beamte im BKA gestellt, die Ermittlungen dazu seien aber auf halber Strecke stehengeblieben. Reinecke: „Was kann man tun, wenn das Erscheinungsdatum eines Artikels nicht erkennbar ist? Man könnte den Journalisten einfach mal anrufen, wie ich das in Vorbereitung des Plädoyers getan habe.“
Reinecke erläuterte dann, was sein Telefonat mit dem Journalisten der „Nürnberger Nachrichten“ ergeben hat, wurde aber an dieser Stelle von Zschäpe-Verteidiger Stahl unterbrochen, weil er hier etwas schildere, was nicht Teil der Hauptverhandlung gewesen sei. Es folgte eine Diskussion um die Zulässigkeit der Ausführungen Reineckes, bei der die Altverteidigung Zschäpe erneut ihre enge Auslegung des Schlussvortragsrechts darlegte, auf die sie schon mehrfach beinahe gleichlautende und ablehnende Gerichtsbeschlüsse erhalten hatte. Der Vorsitzende Richter Götzl hielt das Vorgehen auch diesmal für zulässig: Reinecke formuliere hier einen Appell an die Aufklärungspflicht des Senats. Wie zu erwarten, verlangte Stahl auch diesmal wieder einen Beschluss, den er dann nach der Mittagspause auch bekam: Die Verfügung des Vorsitzenden wurde bestätigt.
Reinecke konnte dann mitteilen, dass sein Telefonat ergeben habe, dass der Artikel zweieinhalb Monate nach dem Mord an Habil Kılıç erschienen sei. Es stelle sich die Frage, wie dieser Artikel aus einer Zeitung, die, wenn überhaupt, nur an einer Stelle in Zwickau vertrieben wurde, in das Zeitungsarchiv des NSU gekommen ist. Die naheliegende Antwort sei, dass es Helfer in Nürnberg gegeben hat. Dass Zschäpe zweieinhalb Monate lang Tag für Tag zum Bahnhof gegangen sei, um herauszufinden, ob in den „Nürnberger Nachrichten“ ein für das Archiv wichtiger Artikel erschienen ist, könne man jedenfalls nicht glauben.
Dann ging es in Reineckes Plädoyer um die „altruistischen Lügen“ Zschäpes in ihren Aussagen über André Eminger und dessen Ehefrau Susann: „Die Angeklagte versuchte, die Familie Eminger herauszuhalten.“ Es spreche alles dafür, dass gerade zum Anschlag in der Keupstraße der Kontakt zu Emingers besonders eng war. Dass André Eminger als LKW-Fahrer „zufällig gerade eine Fuhre in die Kölner Gegend hatte, als Böhnhardt und Mundlos den Sprengstoffanschlag in der Keupstraße durchführten, überstrapaziert den Glauben an Zufälle“. Um Susann Eminger abzuschirmen sei die Angeklagte in ihrer Einlassung sogar so weit gegangen, dass sie auf Fragen des Vorsitzenden weiter geantwortet habe, als von ihr eigentlich erwartet worden sei. Zschäpe habe Susann Eminger einerseits als gute Freundin beschrieben, andererseits habe sie ungefragt angegeben: „Persönliche Themen über unser Zusammenleben oder Dinge, die mich belasteten, wurden von mir nie angesprochen.“ [313. Verhandlungstag]
Reinecke widmete sich in seinem Plädoyer schließlich dem Komplex „Vorsprechen bei der Polizei Zwickau am 11. Januar 2007“. Der Anklageschrift zufolge solle sich Beate Zschäpe bei der Polizei damals als André Emingers Ehefrau ausgegeben haben. Reinecke argumentierte dagegen, dass es womöglich doch Susann Eminger gewesen sei, die zusammen mit André Eminger zur Polizei gegangen sei und sich dort anstatt Zschäpes als Bewohnerin der Wohnung in der Polenzstraße ausgegeben habe. Reinecke verweist hier auf eine parallele Wohnmobilanmietung des NSU: „Es spricht einiges dafür, dass in diesem Fall Frau Zschäpe sich zusammen mit den Uwes aus dem Staub gemacht hatte, um abzuwarten, ob in Zwickau alles gut geht.“
Weil Wohlleben-Verteidigerin Schneiders angab, dass ihr Mandant Kopfschmerzen habe, konnte Reinecke sein Plädoyer nicht beenden. Es folgte nur noch das kurze Plädoyer des Nebenklagevertreters RA Mustafa Kaplan, der einen Betroffenen des Anschlags in der Keupstraße vertritt. Bzgl. Einzelheiten der Beweisaufnahme und der rechtlichen Bewertung wolle er nicht mit Wiederholungen langweilen, so Kaplan. Vielmehr mache er sich die zutreffenden Ausführungen der BAW und seiner Kolleg_innen zu eigen. Kaplan wich vom Tenor der meisten bisherigen Nebenklageplädoyers ab, sein Plädoyer geriet dann vor allem zu einer knappen Kritik an den meisten seiner Kolleg_innen aus der Nebenklage. Nach seiner persönlichen Auffassung gehe es in einem Strafverfahren hauptsächlich darum, ob die individuelle Schuld der Angeklagten mit strafprozessualen Mitteln nachgewiesen werden kann. Die Opferfamilien müssten das als juristische Laien nicht so sehen, hätten das Recht emotional zu reagieren, dürften vieles in Zusammenhang mit dem Verfahren schwarz-weiß sehen und hätten das Recht Aufklärung im weitesten Sinne einzufordern. Bei Rechtsanwält_innen müsse aber ein anderer Maßstab gelten. Er wolle aber auch nicht falsch verstanden werden: Das Verhalten etwa der Verfassungsschutzbehörden müsse aufgeklärt werden, die Opferfamilien hätten einen Anspruch darauf. Aber das könne nur in Untersuchungsausschüssen und entsprechenden Gremien erfolgen. Der Senat habe seine Aufgabe erledigt, die Angeklagten seien zu verurteilen. Die politische Aufgabe sei eine gesellschaftliche Aufklärung und diese stehe noch aus. Es gebe zwar viele Anhaltspunkte, dass es einen institutionellen Rassismus gibt, der die Aufdeckung des NSU verhindert hat, aber diese Frage könne nicht juristisch, sondern nur politisch geklärt werden. Das Verhältnis unter den Nebenklagevertretern sei überwiegend professionell gewesen, bei der Vielzahl an Nebenklagevertretern könne es unterschiedliche Auffassungen geben.
Götzl klärte dann noch, wie es mit den Plädoyers der Nebenklage weitergeht und in welcher Reihenfolge die Verteidiger_innen plädieren wollen, und beendete um 14:18 Uhr den Verhandlungstag. Fortgesetzt wird am Dienstag, den 19.12., um 09:30 Uhr, voraussichtlich mit dem Ende des Plädoyers von RA Reinecke.
Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.