Zusammenfassung des 400. Verhandlungstag – 20. Dezember 2017

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.

Zusammenfassung des 400. Verhandlungstag – 20. Dezember 2017

Vierzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Wie angekündigt begann der Prozesstag mit einer Beanstandung seitens der Verteidigung Wohlleben zur Sitzungsleitung des Vorsitzenden Richters Götzl. Nach ihrer Ansicht hätte der Vorsitzende bei den Plädoyers der Nebenklageanwälte Schön und Reinecke, die sieben Betroffene des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße am 09. Juni 2004 vertreten, einschreiten müssen, als diese Strafanträge zu den Mitangeklagten von Zschäpe gestellt hätten, von denen aber keiner konkret wegen der Keupstraße angeklagt sei. Hier hätte der Senat laut Wohlleben-Verteidiger Klemke einschreiten und eine Rüge aussprechen müssen oder dieses Ansinnen der Nebenklageanwälte unterbinden müssen, da deren Anträge unzulässig seien. Nach einer Pause beantragte die Bundesanwaltschaft eine Pause von vier Stunden, um eine Stellungnahme vorbereiten zu können, was neben dem Streit über die Rechte der Nebenklage parallel einen solchen über die angemessene Länge einer Pause auslöste. Schließlich kam auch noch André Emingers angeblich angeschlagener Gesundheitszustand dazu und die Frage, ob er, wie sein Verteidiger Kaiser sich fragte, vier Stunden im Keller in der Arrestzelle ohne Tageslicht und frische Luft gut überstehen könne. Zschäpe-Altverteidiger Heer fragte sodann, ob denn die „Elite der deutschen Staatsanwaltschaft“, „drei der besten Staatsanwälte Deutschlands“ das nicht auch in kürzerer Zeit zustande bekommen könnten. Nach einigem Hin und Her, einigte man sich darauf, dass man mit dem Plädoyer des Nebenklageanwalts Hardy Langer fortfahren könne.

Zunächst bat Langer, der zwei Schwestern des am 25. Februar 2004 vom NSU getöteten Mehmet Turgut vertritt, das Gericht, im Urteil den korrekten Namen seines Mandanten zu verwenden, sein Name sei Mehmet Turgut und nicht, wie fälschlich in der Anklageschrift vermerkt und im Plädoyer der BAW wiederholt, Yunus. Langer ging dann den Fragen nach, die seine Mandantschaft bis heute am meisten bewegten: Warum Rostock? Warum Mehmet Turgut? Er beschrieb den Standort des Imbisswagens, in welchem Mehmet Turgut den Tod fand so, dass klar wurde, dass niemand diese Stelle im abgelegenen Stadtteil Toitenwinkel durch Zufall entdecken würde, dass es aber mindestens zwei Hinweise darauf gebe, dass Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe den späteren Tatort gekannt hätten. Den Imbissstand habe es dort seit Beginn der 1990er Jahre gegeben und es gebe einen persönlichen Bezug von Uwe Böhnhardt dorthin: In knapp einem Kilometer Entfernung vom Imbiss habe jene Cousine von ihm gewohnt, von der Brigitte Böhnhardt in der Hauptverhandlung gesagt habe, ihre Nichte habe das „böse Pech“ gehabt, ausgerechnet in dem Stadtteil gewohnt zu haben, wo später der Mord stattgefunden habe. Jedenfalls sei die Familie Böhnhardt dort früher öfter mal vorbeigefahren, zitierte Langer Frau Böhnhardt. Außerdem tauche in Toitenwinkel auch noch eine Person von der berühmten Garagenliste auf, die am 26.01.1998 in der NSU-Garage in Jena gefunden und asserviert, aber niemals ausgewertet worden sei. Ein gewisser Marcus H. stehe auf dieser Liste und sei auch einmal gemeinsam mit seiner Freundin Martina darauf vermerkt. Ihre Wohnung habe damals nur 230 Meter vom späteren Tatort entfernt gelegen und in Rostock habe zum Jahreswechsel 1994 auf 1995 eine Silvesterparty stattgefunden, an der Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe teilgenommen hätten. Es sei also wahrscheinlich doch kein Zufall, dass sich die Mörder diesen Imbiss ausspähten, so Langer. Dass es jedoch Mehmet Turgut traf, ist nach Langers Einschätzung durchaus Zufall, da niemand, schon gar nicht die Täter, ahnen konnte, dass am Tattag nicht der Standbetreiber selbst, der diesen sonst komplett allein unterhielt, da sein würde, sondern Mehmet Turgut, der kurzfristig eingesprungen war.

Sodann ging Langer auf weitere Besonderheiten des Rostocker NSU-Mordes ein, wo es Abweichungen vom üblichen Modus Operandi gegeben habe: Das Opfer wurde mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich im Imbissstand auf den Boden zu legen. Denkbar sei, so eine These Langers, dass eine weitere, zierliche Person dabei gewesen sei und ihr so die Möglichkeit verschafft worden sei, als im Schießen ungeübte Person einen Schuss auf den Liegenden abzugeben. „So oder ganz ähnlich müssen die letzten Minuten von Mehmet Turgut verlaufen sein. Auch dazu könnte Beate Zschäpe mit Sicherheit genaue Details benennen, aber sie war bislang nicht bereit, dazu mehr zu sagen, weder von sich aus, noch auf Fragen hierzu. Möglicherweise aus gutem Grund“, so Langer anspielungsreich. Die Ermittlungsarbeit der Rostocker Kriminalpolizei sei davon geprägt, dass sie zwar sehr intensiv und von einem deutlichen Aufklärungswillen getragen war, aber letztlich schon ganz zu Beginn ein bedeutender Ermittlungsbereich ausgeklammert wurde: „Wie wir heute wissen, der Entscheidende“, sagte Langer. Dabei neige er nicht dazu, deshalb den Rostocker Ermittlern im einzelnen Rassismus vorzuwerfen oder gar einen solchen institutionalisiert zu sehen, ergänzte er in deutlicher Abgrenzung zu einigen seiner Kolleg_innen, die bereits plädiert haben und den Behörden zum Teil weit mehr noch als nur massiven institutionellen Rassismus vorwerfen. Dann stellte er klar, dass Ermittlungen gegen den mittelbar Betroffenen Imbissbesitzer und Onkel des Ermordeten an die Grenzen des Erträglichen gegangen seien. Während dieser stundenlangen Verhören unterzogen wurde, sei ein „rechter oder fremdenfeindlicher Hintergrund“ früh nicht weiter verfolgt worden, so Langer. Das und auch, dass man sich bald aus unerfindlichen Gründen auf das Agieren einer „international operierenden Rauschgiftbande“ festlegte, sei insbesondere deshalb nicht nachvollziehbar, weil es mindestens zwei Angriffe auf den Dönerimbiss gab, welche einen rassistischen Hintergrund vermuten lassen: Im Jahr 1998 sei der Inhaber bei einer Prügelattacke, die von rassistischen Sprüchen begleitet war, erheblich verletzt worden, wenige Wochen später sei sein Imbiss ausgebrannt; ein Mitarbeiter der Feuerwehr habe Brandstiftung vermutet.

Dann kam Langer zur Frage: „Wer war Mehmet Turgut?“: „Für Mutter und Vater war er der Stolz, der älteste Sohn. Er trug den Namen seines Vaters. Für meine Mandantinnen war er immer der große Bruder, ebenso wie für die weiteren Nebenkläger. Auch Mehmet Turgut liebte seine Familie über alles. Mehmet Turgut war ein guter Sohn und ein beliebter und geschätzter Bruder. Er war liebenswert und lebensfroh, ein ruhiger, nachdenklicher junger Mensch, der ein herzliches Lachen und warme Augen hatte.“ Der Familie Turgut sei es wichtig, dass Mehmet Turgut nicht als das anonyme Opfer der Mordserie in Erinnerung bleibe, sondern als der von ihnen geliebte Mensch. Nun hob Langer an, den Senat und insbesondere den Vorsitzenden Richter Götzl und dessen Verhandlungsleitung im Rahmen der bisherigen 400 Verhandlungstage zu loben. Denn groß seien die Erwartungen und der Druck, die auf dem Senat lasteten, meinte Langer: Die der Opfer, die der Öffentlichkeit und auch die der Angeklagten. Langer machte dann sehr scharfsinnige Ausführungen zu einzelnen Angeklagten, unter anderem ausführlich dazu, dass der Angeklagte Holger Gerlach eventuell doch der Beihilfe zum Mord an Mehmet Turgut schuldig sein könnte: „Ich gebe zu, ich weiß letztlich nicht, ob ich hier richtig liege (…). Ich sehe nur, es geht um hauchzarte Nuancen, um den sprichwörtlich seidenen Faden, an dem eine tonnenschwere Unterschiedlichkeit von Folgen hängt. (…) Holger Gerlach sei damit verdeutlicht, wie knapp er gegebenenfalls an einer gegebenenfalls mehrfachen Beihilfe zum Mord vorbeigeschrammt sein könnte“, wenn der Senat seine, Langers, Einschätzungen nicht teile und im Urteil berücksichtige werde.

Einen langen Teil seines Plädoyers widmet Langer in sehr kluger und deduzierter Weise den Widersprüchen und Falschbehauptungen in Zschäpes Einlassungen. So will Zschäpe sich laut ihrer Einlassung am 26.01.1998 – dem Tag, an dem das Kerntrio während einer Hausdurchsuchung und der Durchsuchung der NSU-Garagen in Jena untertauchte – angeblich geweigert haben, die Garage Nr. 5 an der Kläranlage „abzufackeln“, wie Böhnhardt telefonisch angeordnet habe. Hier passe, so stellt Langer minutiös fest, schon der behauptete zeitliche Ablauf und auch die Umstände nicht, unter welchen Zschäpe zu diesem Zweck „eine Flasche Benzin“ an einer Tankstelle geholt haben will. So habe Zschäpe z. B. nicht erläutert, wie sie auf die Schnelle eine 0,7-Liter-Flasche, deren Öffnung deutlich schmaler ist als die Öffnung eines Benzinzapfhahns, an einer Tankstelle befüllt haben will, oder an welcher Tankstelle sie diese sehr auffällige Mindermenge besorgt haben will. Weitere Komplexe von Zschäpes Aussage widerlegte Langer mit Hilfe logischer Schlussfolgerungen: So ging er noch einmal auf ihr angebliches Klingeln bei der betagten Nachbarin in der Zwickauer Frühlingsstraße vor der Brandlegung am 04.11.2011 ein, auf das Schneiden von Videoclips und auf die letzten Tage des NSU. Hier geht Langer davon aus, dass ursprünglich kein Überfall in Eisenach, sondern einer in Gotha geplant gewesen sei. Dabei sei Zschäpe stets von den Uwes informiert worden, auch über deren bevorstehendes Ende in Eisenach-Stregda an jenem 04.11. In einer langen sehr persönlichen Ansprache der Hauptangeklagten versuchte Langer Zschäpe doch noch, kurz vor Ende des Prozesses, zu einer Umkehr und zu Aufklärung und Geständnis darüber zu bewegen, wie es wirklich war, was nur sie wissen könne. Am Ende sagte er: „Die Zeit der anwaltlichen Strategie und Taktik ist in Ihrem Fall vorbei. (…) Sie sind nun an dem Punkt, an dem ihnen kein Anwalt mehr helfen kann, sie können sich nur noch selbst helfen.“

Anschließend plädierte noch Nebenklageanwalt Aziz Sariyar, der Angehörige des am 09. Juni 2005 vom NSU in Nürnberg ermordeten İsmail Yaşar vertritt. Er erneuerte in moderater Form Kritik an Ermittlungsbehörden und der Bundesanwaltschaft: „Eine Frage, die hier hätte aufgeklärt werden können, ist die nach dem Netzwerk hinter dem Trio“. Es müsse Unterstützer_innen in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Kassel und Dortmund gegeben haben, stellte er fest. Diesem Netzwerk seien die Ermittler nicht ernsthaft nachgegangen. Zum Abschluss seines kurzen Schlussvortrags verlas Rechtsanwalt Sariyar noch eine Erklärung seiner Mandantschaft, in der es heißt: „Unsere Hoffnung zu erfahren, warum unser İsmail ausgesucht wurde und sterben musste, hat dieser Prozess nicht erfüllt.“ Um 15:07 Uhr beendet Richter Götzl den 400. NSU-Prozesstag.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.