Gestank im freundlichen Land – Die Plädoyers der Nebenklage im NSU-Prozess demontieren das schon lang überholte Anklagekonstrukt der Bundesanwaltschaft schonungslos

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(c) Robert Andreasch

Von Friedrich Burschel im November 2017

„Dass die Sache stinkt, kann jeder riechen, auch wenn man nicht genau sagen kann, woher und warum. Wir wollten es herausfinden und sind dabei an vielen Punkten gescheitert. Der Gestank indes bleibt.“ Mit diesen Worten zog Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer am 390ten Verhandlungstag im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München seine Bilanz der zurückliegenden viereinhalb Jahre „Wahrheitssuche“ und „Aufklärung“. Sein fulminanter Schlussvortrag war abgestimmt mit einer ganzen Reihe nicht minder brillanter Plädoyers von Kolleginnen und Kollegen aus der Nebenklagevertretung. Gemeinsam fassen sie zusammen, was eigentlich seit Anfang/Mitte der 1990er Jahre das hat entstehen lassen, was heute als „NSU-Komplex“ verhandelt wird und ein strukturell Tod bringendes Gemisch aus institutionellem Rassismus, Geheimdienstverstrickung, Verharmlosung rechter und rechtsterroristischer Formierung, politischer Ignoranz und skandalöser Vertuschungspolitik umreißt.

Die Bundesanwaltschaft (BAW) als oberste Anklagebehörde hatte im Sommer in ihrem achttägigen Plädoyer noch versucht, die Sache stur im Sinne der eigenen Anklageschrift und einer Staatsräson glattzuziehen und Kritiker_innen ihres Ermittlungsgemauschels brüskiert, um dann mit unerwartet drakonischen Strafanträgen den Eindruck zu erwecken, dieses Land gehe mit seinen – paar – Nazis hart ins Gericht und führe den Jahrhundertprozess zu einem triumphalen rechtsstaatlichen Ende. Für den bisher nicht im Fokus stehenden Angeklagten André Eminger, der für sein Bauchtattoo „Die Jew Die“ und seine unaufhörlichen Provokationen im Gerichtssaal lange fällig war, verlangte die BAW überraschend 12 Jahre Freiheitsentzug und begründete das unter anderem mit einer geständnisgleichen Wohnzimmerwandgestaltung“, die ihn als – auch im Bekennervideo verewigtes – viertes Mitglied des NSU erscheinen lasse: Bei einer Hausdurchsuchung waren Beamte auf einen Heldenaltar für Emingers verstorbene Kameraden Mundlos und Böhnhardt gestoßen. Die BAW wertet seine Unterstützungsleistungen für den NSU außerdem – zumindest im Hinblick auf das so genannte Stollendosenattentat auf einen Lebensmittelladen in der Kölner Probsteigasse 2001 – als Beihilfe zum versuchten Mord. Die 19-jährige Tochter der iranisch-stämmigen Betreiberfamilie hatte damals die heftige Schwarzpulverexplosion wie durch ein Wunder, jedoch schwerstverletzt, überlebt. Konsequenter Weise beantragte die BAW angesichts der geforderten Strafhöhe die Inhaftierung Emingers und sorgte für ein paar juristische Slapstickeinlagen seines Verteidigers und im Anschluß daran für über zweimonatigen Stillstand im Verfahren durch eine Kaskade von durchaus fragwürdigen Befangenheitsanträgen.

Die Erkenntnisse jedoch, die die BAW in ihrem Plädoyer vortrug, entsprechen bis in die Formulierung hinein den irrigen Annahmen, die schon in der Anklageschrift von Ende 2012 standen und einen Ermittlungsstand spiegeln, der vielfach durch unabhängige journalistische und Antifa-Recherche und unterdessen 13 Parlamentarische Untersuchungsausschüsse überholt ist. Es habe sich beim NSU, weil ja klandestin im Untergrund unterwegs, um eine abgekapselte und von der Szene isolierte Drei-Personen-Zelle, bestehend aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, gehandelt, die von einer Handvoll Helfer_innen unterstützt, die 10 Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Bank- und Raubüberfälle völlig eigenständig und ohne lokale Komplizen begangen hätte. Ein zumindest eingeweihtes Netzwerk von mehreren Dutzend bis hin zu mehreren Hundert Unterstützer_innen oder gar Mittäter_innen hat es nach dieser Lesart ebensowenig gegeben wie die Durchdringung dieses Netzwerkes mit – nach Zählung Scharmers – bis zu 40 staatlich gedungenen Zuträger_innen, so genannten V-Leuten, rund um das Kerntrio des NSU. Und auch der Verfassungsschutz genannte Geheimdienst hat nichts falsch gemacht, überhaupt, so stellte Bundesanwalt Herbert Diemer in der Einleitung zum BAW-Plädoyer am 25. Juli fest: „Es ist einfach nicht richtig, was immer wieder gesagt wird, dass Fehler staatlicher Behörden und das Netzwerk nicht aufgeklärt worden seien: Fehler und Verstrickung staatlicher Behörden hat es nicht gegeben, sonst wären sie verfolgt worden.“ Einige Wochen zuvor hatte das BAW-Rauhbein noch dicker aufgetragen als er meinte, es sei „vielmehr so, dass die Ermittlungen in diesem Verfahren durch geheimdienstliche Informationen wesentlich gefördert wurden und die Aufdeckung ohne geheimdienstliche Informationen nicht möglich gewesen wäre“.

Dass das – milde ausgedrückt – ziemlich dreister Bullshit ist, führen nun zum Ende des fünften Prozessjahres die Plädoyers der Nebenklage in atemberaubender Weise vor. Den Reigen eröffnete Nebenklage-Anwältin Edith Lunnebach, die die vom Anschlag in der Probsteigasse betroffene Kölner Familie im Prozess vertritt: „Ich weiß nicht, warum sich die BAW mit der einfachen Antwort und der Zuschreibung aller Taten in die Isoliertheit des Trios zufriedengibt, zumal ich nicht davon ausgehen kann, dass es den Anklagevertretern an Urteilsfähigkeit oder gar an Intelligenz fehlt.“ Es sei schlechterdings nicht möglich, den damaligen Tatort ohne Ortskenntnis und das Wissen, dass das kleine Geschäft von einer iranisch-stämmigen Familie betrieben wurde, als Anschlagsziel auszuspähen, erklärte Lunnebach. Entsprechende Ermittlungen seien jedoch unterblieben, ein möglicher Helfer, der zudem V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes gewesen sei, sei weiter nicht behelligt worden, obwohl ein Phantombild, das die Betroffenen vom Täter erstellten, ihm zum Verwechseln, den „beiden Uwes“ Mundlos und Böhnhardt jedoch in keiner Weise geähnelt habe.

Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler, der Verwandte der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar vertritt, beschrieb in drastischer Weise den institutionellen Rassismus, der die Behörden bei ihren Ermittlung geleitet hat. Und er stellte die naheliegende Frage, warum die Listen mit bis zu 10.000 potentiellen Anschlagszielen, die der NSU mit irrer Akribie zusammenstellte, nicht gründlich examiniert worden seien. Er erläuterte seine Frage, indem er einen Staatsanwalt aus Siegen aus einer der Listen herauspickte: Kein Mensch wisse, wie etwa diese Person auf die Liste komme und wer den Hinweis auf diesen Staatsanwalt gegeben habe. Auf diese Weise seien tausendfach wichtige Zusammenhänge, potentielle Motive und die Frage nach je lokalen Helfer_innen schlicht aus den Ermittlungen ausgeblendet worden.

In tief bewegender Weise meldeten sich die Ehefrau und die Tochter des 2006 in seinem Kiosk in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık zu Wort. Witwe Elif Kubaşık erklärte, ihre Fragen seien in diesem Verfahren nicht beantwortet worden und die Bundeskanzlerin hätte ihr Versprechen einer „lückenlose Aufklärung“ nicht gehalten, und schloß trotzig: „Die, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, dass wir dieses Land verlassen. Ich lebe in diesem Land und gehöre zu diesem Land. Wir sind ein Teil dieses Landes und wir werden hier weiter leben.“ Rechtsanwalt Carsten Ilius, der die Familie im Verfahren vertritt, beschrieb eindrücklich die Leiden der Familie, die jahrelang mit rassistischen Ermittlungen überzogen worden ist, obwohl sehr schnell festgestanden habe, dass sich am kurdischen Mordopfer keine der gängigen Verdächtigungen Richtung PKK, Spielschulden, „Ehrbruch“ oder Drogenhandel hätten festmachen lassen. Ermittlung in Richtung der schon damals aggressiv militanten Naziszene in Dortmund mit einer terroristischen „Combat 18“-Gruppe indes habe es nicht gegeben. Ilius vermutet, dass hinter diesem konsequenten Ausblenden rechten Terrors ein kosmetisches Kalkül im Kontext mit der damals bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft gesteckt habe: „Deutschland hätte bei Bekanntwerden des Verdachts rassistischer Serientäter, die seit sieben Jahren unentdeckt geblieben und möglicherweise auch für den Bombenanschlag in der Keupstraße verantwortlich waren, wohl nicht als ganz so sicherer WM-Gastgeber oder als so ‘freundliches Land’ dagestanden.“ Dabei bezog er sich auf eine Äußerung von Bundesanwalt Diemer, der in seinem Plädoyer davon gesprochen hatte, der NSU habe Anschläge auf „unser freies, friedliches und – ja – freundliches Land verübt.

Selten hatte man größeres Vergnügen bei einer Power-Point-Präsentation wie bei der, mit der Rechtsanwalt Scharmer die V-Leute-Dichte rund um die nach BAW-Meinung isolierte NSU-Zelle veranschaulichte. Ausgehend von der Minimalthese der BAW gruppierten sich wie von Zauberhand die Dutzenden Informanten und Spitzel in der thüringer und sächsischen Hardcore-Nazi-Szene auf dem Schaubild. Die meisten Beweisanträge zur Aufklärung dieses V-Mann-Dickichts, die die Nebenklage eingebracht habe, seien konsequent abgelehnt worden. Konsequenz bewies aber auch Scharmer, der dem Schaubild von Zuträger_innen auch den Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz Lothar Lingen, hinzufügte, dessen Name symbolisch für die massiven Vertuschungen und Aktenvernichtungen beim Inlandsgeheimdienst steht. Vor dem Bundestagsuntersuchungsaausschuss musste Lingen zugeben, dass er die Akten mit NSU-Bezug mit voller Absicht habe vernichten lassen, um bohrende Fragen von seiner Behörde fernzuhalten.

Für große Aufmerksamkeit sorgte auch Nebenklage-Anwalt Peer Stolle, der in seinem Plädoyer die Entstehungsbedingungen und die Gründung der terroristischen Vereinigung NSU nachzeichnete. Für das Urteil könnte seine stringent hergeleitete These, diese Vereinigung sei, anders als die BAW behauptet, die die Gründung des NSU mit dem Untertauchen im Januar 1998 annimmt, bereits Mitte der 1990er Jahre als terroristische Vereinigung in der Jenaer Sektion des „Thüringer Heimatschutzes“ entstanden und der Gang in den Untergrund im Grunde nur die konsequente Fortsetzung der entsprechenden Diskussionen in dieser Gruppe gewesen.
Weitere derart elektrisierende Zusammenfassungen sind mit den kommenden Plädoyers der Nebenklage bis zum Jahreswechsel zu erwarten, ehe dann die Verteidigung das Wort hat. Angeblich will die BAW dann sogar noch auf die Plädoyers replizieren, ein ungewöhnlicher Vorgang, der vermutlich dem Umstand geschuldet, dass die BAW die Demontage ihrer Grundannahmen nicht wortlos hinnehmen will, bevor dann im Februar, März oder weiß der Teufel wann, endlich das Urteil ergeht.

Friedrich Burschel beobachtet den NSU-Prozess als Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, als Korrespondent für Radio Lotte Weimar und für NSU-Watch.

Dieser Artikel erschien in einer gekürzten Version in der Jungle World 2017/49