Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.
Tageszusammenfassung 403. Verhandlungstag, 10. Januar 2018
Siebzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Der Prozesstag begann mit Verzögerung, da anscheinend eine medizinische Betreuung bzw. Untersuchung des Angeklagten Ralf Wohlleben vonnöten war. Nach der Eröffnung des Hauptverhandlungstages teilte der Vorsitzende Götzl denn auch mit, dass es mit den Rückenschmerzen des Angeklagten tatsächlich Probleme gebe und deshalb zunächst der Gerichtsarzt von Oefele als Zeuge gehört werden solle. Von Oefele attestierte Wohlleben tatsächlich eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit wegen der nachvollziehbar geschilderten Beschwerden und dass er wohl nicht länger als bis Mittag verhandlungsfähig sein würde. Außerdem, so von Oefele, gebe es an diesem Nachmittag in der JVA Stadelheim die Möglichkeit, den Angeklagten einer orthopädischen Untersuchung nebst Röntgen zu unterziehen. Götzl verfügte daraufhin, dass nur bis Mittag verhandelt werden würde und sowohl die Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız ihr Plädoyer beenden können als auch ihr Mandant Abdul Kerim Şimşek vorher noch zu Wort kommen sollte.
Rechtsanwältin Başay-Yıldız ging zunächst auf die Einlassung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe ein: Nach Zitaten aus der von ihren Neu-Verteidigern verlesenen Aussage vom 09.12.2015, fragte sie rhetorisch: „Perspektivlosigkeit und Frustration hätten dazu geführt, dass Enver Şimşek umgebracht wurde? Das ist mit Verlaub eine Geschmacklosigkeit, was die Angeklagte da von sich gibt“.
Başay-Yıldız widerlegte dann mit einer detaillierten Analyse der Lage der Tatorte und der beim NSU aufgefundenen Ausspähnotizen die These der Bundesanwaltschaft, nach der es in Nürnberg keine lokalen Unterstützer_innen gegeben habe. Mit Kartenausschnitten, einer detaillierten Liste von möglichen Anschlagszielen und einer meisterlichen Deduktion aus den erhobenen Beweisen kam sie zu dem eindeutigen Schluss: „Betrachtet man also die logistischen Voraussetzungen, so spricht nichts dafür, dass das Trio tatsächlich ohne Hinweise von außen in Städte gefahren ist, um dann nach möglichen Tatorten selbstständig zu suchen.“ Die Ausspähnotizen sprächen gerade nicht dafür, dass hier Beobachtungen niedergelegt sind, die Mundlos und Böhnhardt selbst gemacht hätten, sondern es spreche sehr viel mehr dafür, dass es sich um die Beobachtungen dritter Personen handelt. Başay-Yıldız leitete diesen Schluss dann konkret aus den ersten drei Tatorten in Nürnberg her und legte so dar, wie unwahrscheinlich es sei, dass Mundlos und Böhnhardt diese Tatorte ohne örtliche Helfer ausgekundschaftet haben. Schon im Jahr 1999 war es in der Nürnberger Scheurlstraße zu dem so genannten „Taschenlampenanschlag“ gekommen, eine zu einer Rohrbombe präparierte Taschenlampe explodierte damals in den Händen einer türkeistämmigen Person, die dabei schwer verletzt wurde. Der Anschlag war erst im Prozess nach Aussagen des Angeklagten Schultze zutage gekommen, nicht etwa durch Ermittlungen der Behörden. „Wie also kommen Mundlos und Böhnhardt darauf, dass gerade in dieser Gaststätte mit dem urdeutschen Namen ‚Pilsstube Sonnenschein‘ ein Türke arbeitet?“, fragte Başay-Yıldız, „es gibt schlicht und einfach keine vernünftige Vorstellung, wie ein Außenstehender, dem keine Hinweise erteilt werden, sich gerade diese Gastwirtschaft als Objekt seines ersten Bombenanschlags aussucht“. Nach Exkursen in diesem Tenor zu den Morden an Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar nahm die Nebenklageanwältin dann die „Trio-These“ der Bundesanwaltschaft im Zusammenhang mit dem Tatort des ersten bekannten Mordes des NSU an Enver Şimşek mit ähnlicher Präzision auseinander. Sie kam hier zu dem Schluss: „Am absolut unwahrscheinlichsten ist die Theorie von den nicht existierenden Helfern vor Ort allerdings bezogen auf den Mord an Enver Şimşek“.
Dann ging sie ausführlich auf mögliche Helfer_innen und Motive der Täter ein und stellte damit einmal mehr in beeindruckender Weise die Untätigkeit der Ermittlungsbehörden und der Bundesanwaltschaft bloß: Gerade etwa beim Mord an İsmail Yaşar gebe es Hinweise auf mögliche Rachegedanken in der damaligen rechten Szene vor Ort. So sei ein Mitglied der Nürnberger Naziszene, Jürgen F., 2004 wegen einer Sachbeschädigung zulasten von Yaşar verurteilt worden: „Einige Monate später war İsmail Yaşar tot“. Das Bundeskriminalamt habe in diese Richtung nicht weiter ermittelt, so Başay-Yıldız: „Dies überrascht, zumal Jürgen F. und der Angeklagte Ralf Wohlleben sowie der Angeklagte Holger Gerlach, sowie Stefan Apel, Kai St. und Uwe Mundlos am 18.02.1995 gemeinsam an einer Skinhead-Veranstaltung in der Gaststätte ‚Tiroler Höhe‘ in der Sterzinger Straße in Nürnberg teilgenommen haben.“ Die Telefonnummer der als Nazitreff bekannten Kneipe „Tiroler Höhe“ habe sich wiederum auch auf der „Garagenliste“ von Uwe Mundlos befunden. Demnach, so Başay-Yıldız, habe es Kontakte der Angeklagten Gerlach, Wohlleben und des verstorbenen Uwe Mundlos nach Nürnberg nachweislich gegeben. All diesen elektrisierenden Spuren seien die Ermittler jedoch bis heute in keiner Weise nachgegangen. Zusammenfassend sagte sie: „Gegen die These, dass der NSU in Nürnberg oder auch in anderen Städten Helfer und Tippgeber hatte, spricht eigentlich nur, dass die Bundesanwaltschaft bisher noch keinen finden konnte“. Die Unterstützerthese sei aber allemal wahrscheinlicher als diese These der BAW. Wie einige ihrer Kolleg_innen aus der Nebenklage zuvor, zitierte Anwältin Başay-Yıldız am Schluss ihre verstorbene Kollegin Angelika Lex: „Wenn jeder einen Schritt weiter geht, als er sich ursprünglich vorgenommen hat, dann mache ich mir keine Sorgen“ und fügte hinzu: „Das sollten sich alle an der NSU-Aufklärung Beteiligten zu Herzen nehmen!“
Zu den erschütternsten und bewegendsten Momenten im ganzen NSU-Verfahren gehörten danach die Worte von Abdul Kerim Şimşek, Sohn des im September 2000 in Nürnberg vom NSU ermordeten Enver Şimşek: „Ich bin selbst Vater einer Tochter (…) und ich werde ihr irgendwann erzählen müssen, dass ihr Opa aufgrund seiner Herkunft von Nazis ermordet wurde“. Kaum auszuhalten war die Schilderung, wie der damals 13-Jährige seinen sterbenden Vater – von fünf Schüssen in den Kopf und weiteren Kugeln in den Oberkörper getroffen – auf der Intensivstation eines Nürnberger Krankenhaus zu Gesicht bekam. „Auch ich hätte viele Fragen an die Angeklagten gehabt: wieso mein Vater? Wie krank ist es eigentlich, jemanden nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe zu ermorden? Was hat mein Vater Ihnen angetan?“ Und: „Können Sie verstehen, was es heißt, den Vater im Bekennervideo blutend auf dem Boden liegen zu sehen und zu wissen, dass er da stundenlang hilflos lag?“ Nur den Angeklagten Carsten Schultze nahm Şimşek aus den laut und vernehmlich geforderten Höchststrafen für die Angeklagten aus, seine Entschuldigung nehme er an, weil er glaubhaft Reue gezeigt und zur Aufklärung beigetragen habe. Um kurz vor 12 Uhr wurde der Prozess auf den kommenden Tag vertagt.
Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.