Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.
Zusammenfassung 410. Verhandlungstag – 07. Februar 2018
Achtzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Sah es zunächst so aus, als würden die Nebenklage-Plädoyers auch an diesem Verhandlungstag nicht fortgesetzt werden, konnten schließlich doch noch drei Plädoyers gehalten werden. Zunächst aber verlas Richter Götzl den Beschluss des Senats, dass die Beanstandungen der Sitzungsleitung im Rahmen der Schlussvorträge der Nebenklageanwälte Schön und Reinecke (wegen deren Strafforderungen) als unzulässig zurückgewiesen werden. Mehrere Verteidiger beantragten eine Unterbrechung und Prozessbesucher_innen erwarteten bereits die nächsten Gegenvorstellungen und/oder Befangenheitsanträge. Doch als es dann nach ca. einer Stunde weiterging, konnte zunächst OStA Weingarten kurz die bereits gestellten Anträge der Bundesanwaltschaft und deren Begründung durch „Bezugnahme“ auf die Ausführungen im BAW-Plädoyer wiederholen. Und danach konnte Nebenklageanwalt Manuel Reiger sein Plädoyer vortragen.
Reiger vertrat dabei Rechtsanwalt Khubaib-Ali Mohammed. Dessen Mandant war Betroffener des Nagelbombenanschlags des NSU am 09. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße. Der Schlussvortrag, so Reiger, sei eine Weiterführung des Vortrags von Rechtsanwalt Matt. Mohammeds Mandant war als syrischer Christ nach Deutschland geflohen und habe sich, so Reiger, erhofft, hier nicht mehr wegen seiner Herkunft oder Religion verfolgt zu werden; hier habe er sich sicher gefühlt – bis zum 09. Juni 2004, bis zum 04. November 2011. Reiger sagte, es sei immer wieder darum gegangen, dass es hier im Prozess um die Schuld- und Rechtsfolgenfrage geht: „Aber erlauben Sie mir den Widerspruch: Es ging um mehr, um viel mehr.“ Es sei um die Rolle der Ermittlungsbehörden gegenüber den Opfern rechter Gewalt gegangen, um das Auge mit dem Ermittlungsbeamte Migrant_innen betrachten, um den „Graubereich“ bei den Nachrichtendiensten. Auch nach fünf Jahren Prozess habe der Verdacht staatlicher Verwicklung nicht vollständig ausgeräumt werden können: „Nein, er drängt sich geradezu auf.“ Die Justiz – und damit meine er den Senat und die Anwält_innen der Nebenklage – habe unermüdlich versucht, Antworten für die Mandant_innen, aber auch die Gesellschaft zu finden. Reiger: „In meiner Auflistung fehlen die Vertreter des GBA. Das ist kein Zufall und ich habe sie nicht vergessen. Meine Kollegen haben über ihre Rolle viel gesagt, ich habe mich entschieden, mich eines Kommentars zu enthalten.“ In der Folge machte Reiger Ausführungen zur juristischen Frage der Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung bei lebenslanger Freiheitsstrafe.
Es folgte dann das kürzeste in der Reihe der Nebenklage-Plädoyers: Nebenklagevertreter RA Adnan Menderes Erdal schloss sich mit einem Satz dem Schlussvortrag des GBA an.
Danach verlas Nebenklageanwältin Barbara Kaniuka ihren Schlussvortrag. Sie vertritt die Tochter des am 29. August 2001 in München vom NSU ermordeten Habil Kılıç. Kaniuka stellte zunächst fest, dass es in ihrem Plädoyer auch um das gehen werde, was dieser vierte Mord des NSU bei den Hinterbliebenen angerichtet hat und wie sich ihr Leben verändert hat. Sie sei sich bewusst, dass der Eindruck entstehen könne, „das doch alles schon zu kennen“. Kaniuka: „Auf den ersten Blick mag das auch stimmen. Aber in Wahrheit sind es keine Wiederholungen. Und zwar deshalb nicht, weil wir hier von singulären Schicksalen reden. Jeder einzelne Nebenkläger, den die Morde oder Sprengstoffanschläge des NSU getroffen haben, hat seine eigene Geschichte. Bei jedem dieser vielen unterschiedlichen Menschen haben die Taten individuelle Spuren hinterlassen – mal stärker, mal weniger stark, aber jeder ist auf seine Weise gezeichnet. Und deshalb ist nach den zahlreichen Schlussvorträgen, die Sie bisher gehört haben, zwar sehr vieles, aber noch nicht alles gesagt.“ In dieser Hauptverhandlung, so Kaniuka, hätten nicht nur die Opfer ein Gesicht und die Hinterbliebenen eine Stimme bekommen. Die Verhandlung habe auch dazu beigetragen, die Opfer zu rehabilitieren und ihre Würde wiederherzustellen: „Sicher nicht die Hauptaufgabe einer strafrechtlichen Hauptverhandlung, aber ein aus meiner Sicht nicht unbedeutender Nebeneffekt.“
Kaniuka ging dann auf die Biographie Habil Kılıçs ein. Mit dem Laden in der Bad-Schachener-Straße in München-Ramersdorf, in unmittelbarer Nähe zu ihrer damaligen Wohnung, habe, so Kaniuka weiter, die Familie versucht „sich etwas aufzubauen, auf eigenen Füßen zu stehen, unabhängig zu sein, auch etwas zu wagen – darum ist es ihnen gegangen, und das ist ihnen den Einsatz wert gewesen“. Ihre Mandantin habe, wenn sie mittags aus der Schule kam, oft in einem Raum hinter dem eigentlichen Laden gesessen und dort ihre Hausaufgaben gemacht. Das Geschäft, in dem später Habil Kılıç ermordet wurde, sei „eine Art erweitertes Zuhause“ geworden. Kaniuka: „Es war ein ganz normales und unspektakuläres Leben mit den üblichen Höhen und Tiefen, das Habil Kılıç mit seiner Familie geführt hat. Als es am 29. August 2001 ausgelöscht wurde, war er gerade einmal 38 Jahre alt.“ Zur Tatzeit des Mordes an Habil Kılıç seien Schulferien gewesen und ihre Mandantin sei mit der Mutter für zwei Wochen in Urlaub gefahren: „Herr Kılıç war daheim geblieben, damit der Laden nicht geschlossen werden musste. Dafür hatte er bei seiner Firma extra Urlaub genommen. Angestellte hatten sie ja keine, dafür warf das Geschäft nicht genug ab.“ Der letzte Kontakt zwischen Vater und Tochter sei ein Telefonat am Morgen seines Todes gewesen.
Zu den Ermittlungen der Polizei sagte Kaniuka, dass es gewiss nichts daran auszusetzen gebe, dass die Polizei bei einem Tötungsdelikt, bei dem erst einmal konkrete Hinweise auf den oder die
Täter gefehlt haben, beim Umfeld des Opfers ansetzt: „Aber darum geht es hier gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Ermittler sich von Anfang an festgelegt hatten. Nämlich darauf, dass Anlass und Motiv der Tat nur in Verstrickungen des Opfers selbst in irgendwelche kriminellen Machenschaften zu finden sein könnten. Die Arbeitshypothese war, dass es im Leben von Habil Kılıç eine dunkle Seite – so ist es formuliert worden – gegeben haben müsse, über die der Fall zu lösen sei. Und dann hat man sich konsequent und ohne groß nach links und rechts zu gucken auf die Suche nach einem dunklen Punkt gemacht. (…) Aber egal, wie hartnäckig man auch gesucht hat – gefunden hat man nichts. Wie auch: Die dunkle, kriminelle Seite im Leben von Herrn Kılıç hat es schlichtweg nicht gegeben. Derweil haben die Täter des NSU ungestört weiter gemordet. Herr Kılıç war ein völlig unauffälliger Familienvater, von Freunden und Kollegen gemocht und geschätzt, ein freundlicher Mann, redlich, hilfsbereit, lebensfroh, fleißig und gleichzeitig ebenso wenig perfekt wie jeder andere auch. Er hat nicht sterben müssen, weil er in kriminellen Kreisen unterwegs gewesen wäre oder sich auf illegale Geschäfte eingelassen hätte. Nein, erschossen wurde er allein deswegen, weil er Türke war.“
Die Ermittlungen seien auch nicht erst in der Rückschau einseitig ausgerichtet gewesen, so Kaniuka. Sie wies auf die offensichtliche Gemeinsamkeiten der bis dahin vier Opfer hin und fragte, ob da nicht mal der Gedanke hätte kommen müssen, dass diese Gemeinsamkeiten auf ein rassistisches Motiv hindeuten könnten. Eine Erweiterung des potenziellen Tatmotivs auf Rassismus und Ausländerhass und eine Ausdehnung des möglichen Täterkreises auf die rechte Szene habe es damals nicht gegeben. Kaniuka: „Rechte Gewalt ist ein blinder Fleck in den Ermittlungen gewesen, das gilt für München wie für andere Tatorte. Egal worin man die Gründe dafür sehen mag – in institutionellem Rassismus, in alltäglichen Vorurteilen gegenüber Mitbürgern türkischer Herkunft, in Ignoranz oder in mangelnder Flexibilität oder Kreativität im kriminalistischen Denken – für meine Mandantin und die übrige Familie sind die Folgen jedenfalls die gleichen gewesen: Verdächtigungen, Spekulationen, Argwohn und Misstrauen, die ihnen entgegenschlugen; Freunde, die auf Distanz gingen; und Jahre ohne wirkliche Hoffnung, dass noch jemand herausfinden würde, von wem und warum der Ehemann und Vater ermordet worden war.“ Mehr noch: Für Habil Kılıç und seine Angehörigen habe eine irgendwie geartete „Unschuldsvermutung“ während der erfolglosen Ermittlungen jedenfalls nicht gegolten: „Man muss sich mal in die Situation des Kindes und seiner Mutter versetzen: Aus der unauffälligen, normalen und völlig harmlosen Mitschülerin vor den Ferien war ein paar Wochen später ein vermeintliches Sicherheitsrisiko geworden, zu dem man sie kurzerhand auf der Grundlage von Gerüchten und Spekulationen erklärt hatte. Wenn jemand Schutz und Unterstützung gebraucht hätte, dann sie selbst.“
Es gebe, so Kaniuka, nach wie vor eine Reihe von Unbekannten in diesem Verfahren, etwa ein „etwaiges Unterstützerumfeld des NSU über die Mitangeklagten“ hinaus; die Frage, ob Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Helfer vor Ort gehabt haben, wer diese Personen waren und welche Rolle sie ggf. bei Auswahl und Ausspähung von Opfern und Tatorten gespielt haben. Kaniuka: „Wir wissen nicht, auf welchen Wegen Herr Kılıç in München ins Visier dreier Rechtsterroristen in Zwickau geraten ist. Wir kennen nur das Ergebnis. Es gibt Tatorte, bei denen es schwer vorstellbar ist oder sogar ausgeschlossen erscheint, dass das Trio ohne das Zutun ortskundiger Personen überhaupt auf sie aufmerksam geworden wäre – die Kollegin Lunnebach [387. Verhandlungstag] hat dies für die Probsteigasse in Köln anschaulich dargelegt, die Kollegin Başay [403. Verhandlungstag] absolut überzeugend für die Tatorte in Nürnberg. Beim Tatort im Mordfall Kılıç halte ich es bei näherer Betrachtung für offen. Das liegt einfach an einigen Besonderheiten und Auffälligkeiten dieses speziellen Falles und bedeutet keineswegs, dass ich damit der These eines Unterstützernetzwerkes eine Absage erteilen möchte.“ Kaniuka diskutierte dann die vorliegenden Hinweise, die im Fall der Ausspähung des Tatorts und der Ermordung von Habil Kılıç für und gegen lokale Helfer_innen des NSU sprechen – etwa die Tatsache, dass Habil Kılıç, der unter der Woche einem anderen Beruf nachging, üblicherweise nur an Samstagvormittagen allein im Laden arbeitete, oder die Tatsache, dass sich der Laden der Familie Kılıç in unmittelbarer Nachbarschaft einer Polizeidienststelle befand. Kaniuka: „Man kann über all das endlos spekulieren, ohne je zu wissen, wie nahe man der Wahrheit dabei tatsächlich kommt. Jedenfalls solange die Angeklagte Zschäpe, die Aufschluss darüber geben könnte, vorgibt, nichts zu wissen.“
Kaniuka ging dann auf den Versuch Zschäpes ein, eine Erklärung für den Fingerabdruck zu konstruieren, der auf einem Zeitungsausschnitt zum Mord an Habil Kılıç aus dem sogenannten NSU-Archiv gesichert werden konnte. Kaniuka: „Anlässlich einer kontroversen Diskussion über die Anschläge vom 11. September sollen sich Böhnhardt und Mundlos ihr gegenüber mit dem Mord an Habil Kılıç ‚gebrüstet‘ haben – so hat sie es formuliert. ‚Gebrüstet‘ – will heißen: damit geprahlt, geprotzt, angegeben. Was sie da hat vortragen lassen, hat hinten und vorne keinen Sinn. Warum sollten Mundlos und Böhnhardt ihr gegenüber mit einer weiteren Tat geprahlt haben, wo sie doch angeblich bereits mit schockierter Ablehnung, Ausflippen und massiven Vorwürfen auf die Offenbarung früherer Morde ihrer beiden Gefährten reagiert haben will. (…) Gleichsam zur Abrundung oder zum Ausräumen gar nicht erst geäußerter Zweifel sollen sie dieser Frau, die nie nach Details gefragt hat, auch gleich noch einen Zeitungsausschnitt mit einem Bericht über den Mord an Herrn Kılıç präsentiert haben. Eine völlig krude Geschichte, die uns glauben machen soll, dass just bei dieser Gelegenheit der missliche Fingerabdruck auf den gewissermaßen aufgedrängten Zeitungsbericht geraten sein muss. Eine Zumutung – wie so vieles, was die Angeklagte uns hier nach wochenlangem Feilen an Einlassungen und Antworten in einer nichtssagenden Einlassung aufgetischt hat, wie sie steriler und inhaltsleerer, über Strecken hinweg banaler nicht hätte sein können.“ Wäre Zschäpe tatsächlich der Mensch, als der sie sich darzustellen versucht hat, dann wäre kaum vorstellbar, dass sie die monströsen Taten von Mundlos und Böhnhardt ertragen und die Situation ausgehalten hätte, so Kaniuka. Zschäpe habe das aber alles gekonnt, und zwar deshalb, „weil die Taten von Mundlos und Böhnhardt auch ihre Taten waren. Jede einzelne. Auch der Mord an Habil Kılıç. Von ihr gewollt, mitgeplant und mitbegangen.“ Zschäpes Rolle bei den Taten könne, so Kaniuka, mit dem Zitat einer Zeugin bzgl. des Auftretens von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Urlaub am besten beschrieben werden: „Jeder hat das getan, was er am besten konnte.“
Abschließend stellte Rechtsanwältin Kaniuka fest: „Auch ich bin überzeugt davon, dass Frau Zschäpe die Antworten auf die Fragen, die viele Nebenkläger bis heute quälen, kennt und sie ihnen bewusst verweigert. Vielleicht als Teil einer Verteidigungsstrategie, von der sie noch immer hofft, dass sie aufgehen wird. (…) Vielleicht geht es hier aber auch einfach nur um Macht. Böhnhardt, Mundlos und die Angeklagte Zschäpe haben sich über Jahre hinweg die denkbar größte Macht angemaßt, indem sie über Leben und Tod von Menschen entschieden haben. Und dann in den Medien verfolgen können, wie die Ermittlungsbehörden im Dunkel getappt sind und sich von ihnen in die Irre haben führen lassen. Wie sich die von ihnen beabsichtigte Unsicherheit breitgemacht hat. Und wie obendrein ihre Opfer durch die Richtung der Ermittlungen in Misskredit geraten sind. Alles ihr Werk, das sie mit der Herstellung des Videos zusätzlich ausgekostet haben. Lange Zeit so viel Macht in einem ansonsten leeren Dasein, das sie mit geliehenen Identitäten und auf Kosten anderer geführt haben, und dann ist auf einmal nichts mehr davon übrig. Außer dem kümmerlichen Rest, Dinge zu wissen, die andere nicht wissen, aber so gerne erfahren würden; Hinterbliebene bitten zu lassen, zappeln zu lassen; sie nicht von der Ungewissheit zu erlösen. So lange es geht noch ein kleines bisschen Macht auszuüben – vielleicht, Frau Zschäpe, steckt das – oder zumindest auch das – hinter Ihrem Verhalten in diesem Prozess. Wenn ja, dann geht dieser Bodensatz an vermeintlicher Macht bei meiner Mandantin jedenfalls ins Leere. Sie, Frau Zschäpe, haben ihr mit dem Mord an ihrem Vater großes Leid zugefügt, das ihr Leben geprägt hat. Aber ich kenne [die Mandantin]als eine starke Persönlichkeit, deren Seelenfrieden nicht davon abhängt, ob Sie am Ende vielleicht doch noch einen Schritt in Richtung der Nebenkläger tun, so wünschenswert das auch wäre. Trotz der Steine, die Sie ihr in jungen Jahren in den Weg gelegt haben, und allen Schwierigkeiten zum Trotz hat sie erfolgreich ihren Weg gemacht und ihren Platz gefunden. Sie lässt sich nicht vertreiben, ebenso wenig wie ihre Mutter, beide gehören hierher, ebenso wie Herr Kılıç hierher gehört hat.“
Einschätzung des Blogs „NSU-Nebenklage“.