„Die Aufklärung und Deutungshoheit im NSU-Komplex gehört nicht dem Gericht allein, sondern uns: der kritischen Öffentlichkeit.“

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Bericht von der Pressekonferenzen der Kampagne „Kein Schlussstrich“ und der Nebenklage im NSU-Prozess 10. Juli 2018

Der Tag vor der Urteilsverkündung im ersten NSU-Prozess war der Forderung, keinen Schlussstrich unter den NSU-Komplex zu ziehen und der Perspektive der Angehörigen der Mordopfer und der Überlebenden der Anschläge gewidmet.
In einer ersten Pressekonferenz waren die Kampagne „Kein Schlussstrich“, die „Initiative 6. April“, „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ und „NSU-Watch“ eingeladen, ihre Versionen des Aufrufes, keinen Schlussstrich unter die Aufklärung des NSU-Komplex zu ziehen, zu teilen.
Patrycja Kowalska, die Sprecherin der Kampagne, stellte das Ziel ihrer Arbeit vor: „Auch nach fünf Jahren Jahrhundert-Prozess gibt es mehr Fragen als Antworten. Deshalb fordern wir: Kein Schlussstrich.“ Neben der Ankündigung der vielfältigen geplanten Aktionen verschiedener Bündnisteilnehmer-Gruppen am morgigen Tag der Urteilsverkündung erklärte Kowalska auch die Motivation dahinter: „In jedem Mordprozess wird geklärt, warum das Opfer ausgewählt wurde. Dies hat der Prozess nicht geleistet. Die Aufklärung und Deutungshoheit im NSU-Komplex gehört nicht dem Gericht allein, sondern uns: der kritischen Öffentlichkeit.“
Caro Keller erklärte für NSU-Watch: „Die Bundesanwaltschaft spricht seit 2012 unbeirrt immer von einem Trio. Wir wissen, das Neonazi-Netzwerk wurde nicht ausermitteln. Das erhöht auch die Gefahr aktuellen rechten Terrors.“ Für die Zukunft kündigte sie an, dass NSU-Watch und andere ihren Anteil an der dennoch Aufklärung weiter führen werden: „Wir haben unsere eigenen Möglichkeiten. Antifaschistische Recherche hat viel zur Aufklärung beigetragen.“ Gleichzeitig müsse aber der öffentliche Druck auf die ermittelnden Behörden aufrechterhalten und verstärkt werden. Daniel Schmidt für das „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ erinnerte an die Worte der verstorbene Nebenklage-Anwältin Angelika Lex, nach denen auf die Anklagebank nicht fünf, sondern fünfzig wenn nicht gar 500 Angeklagte gehörten.
Ayşe Güleç von der „Initiative 6. April“ aus Kassel sagte: „Von der versprochenen Aufklärung merken wir nichts, im Gegenteil.“ Sie stellte klar: „Die Morde und Bombenanschläge galten uns allen. Wir sind die Betroffenen des Angriffs auf die postmigrantische Gesellschaft.“ Für sie bedeutet „Kein Schlussstrich!“: „Mit Ende des NSU-Prozesses ist nicht das Band zwischen Verfassungsschutz und Nazi-Szene beendet. Am Ende des NSU-Prozesses ist auch nicht der institutionelle und strukturelle Rassismus beendet.“ Sie schloss mit der Forderung des Rücktritts von Volker Bouffier als einem der verantwortlichen Politiker*innen.

In der darauf folgenden Pressekonferenz der Nebenklage begann Abdulkerim Şimşek, der Sohn des ermordet Enver Şimşek: „Ich kann nicht abschließen, weil ich das Gefühl habe, dass nicht alles getan wurde um aufzuklären, weil draußen weiter Mitwisser rumlaufen, weil ich nicht verstehen kann, warum Akten geschreddert wurden. […] Ich bin enttäuscht.“ Seine Anwältin Seda Basay-Yıldız betonte, dass die Angeklagte Beate Zschäpe sich nicht glaubhaft von der rechten Szene und der Ideologie distanziert hat: „Glaubhaft wäre nur gewesen, wenn sie ausgesagt und Fragen – auch die der Nebenklage – beantwortet hätte.“ Auch sie forderte, dass das Urteil nicht das Ende der Aufklärung sein dürfe. Dafür müssten auch „die Akten der Verfassungsschutzämter freigegeben werden!“ Rechtsanwalt Sebastian Scharmer sprach zunächst im Namen seiner Mandantin Gamze Kubaşık: Das Fragen habe ihnen nicht verboten werden können, doch sie hätten die Antworten nicht bekommen, vor allem dort nicht, wo Nazis aussagen sollten und wo es um den Verfassungsschutz ging. Sie wollten mit den drei wichtigsten Mythen aufräumen: Erstens sei die These vom Trio eindeutig widerlegt und der Großteil des Neonazi-Netzwerkes laufe frei herum. Zweitens gehöre entgegen der Darstellung des GBA die Frage nach den Helfern sehr wohl in diesen Strafprozess, denn es gehe um die Klärung der Struktur und Gefährlichkeit des NSU. Der GBA habe dazu nicht ansatzweise ausreichende Ermittlungen angestellt und verweigere die Herausgabe von weiteren Akten. Zum dritten habe es für die Verfassungsschutzämter keine Konsequenzen gegeben. Es werde weiter vertuscht und gelogen. So resümierte er: „Ein Kapitel mag beendet sein. Doch zu viele Fragen sind offen und seien Sie sich sicher: Die Hinterbliebenen werden sie stellen.“ Danach ergriff Gamze Kubaşık selbst das Wort um über ihren Vater zu sprechen, den wichtigsten Menschen in ihrem Leben. „Der NSU hat meinen Vater ermordet. Die Ermittler haben seine Ehre vernichtet, sie haben ihn ein zweites Mal ermordet.“ Die fünf Jahre Prozess seien eine Enttäuschung gewesen, sie habe gehofft, abschließen zu können, aber nun stehe sie mit ihrer Familie alleine mit den Fragen da. „Es hat hundertprozentig Helfer gegeben. Auch die sind schuldig.“ Sie könne sie womöglich täglich in Dortmund auf der Straße treffen. Deswegen müssten alle Akten auf den Tisch.
Auch Kemal G., Überlebender des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße, berichtet von seiner Unzufriedenheit mit den Ermittlungen, die voller Leerstellen und offener Fragen über Nazis und Staat sei: „So lange dieser Fall so bleibt, werden unsere Wunden keine Narben haben.“ Ohne Aufklärung sei Demokratie nur ein Wort.
Arif S., ebenfalls Überlebender aus der Keupstraße, schilderte eindringlich, wie er den Anschlag als den „Tag, an dem sich unser Leben verdunkelte“ erinnere. „Man wollte uns von dem Land, in dem wir leben, trennen.“ Auch Medien hätten den Hass reproduziert, die Politiker seien nicht da gewesen: „Wir erwarten, dass ihr gegen den Rassismus angeht!“ Er sagte: „Trotz allem werden wir hier weiter leben und unsere Hoffnungen wachsen lassen. Denn sie haben nicht mit den Millionen Antifaschisten und Demokraten gerechnet. Die haben uns Kraft gegeben.“
Arif S.‘ Anwalt Alexander Hoffmann bezeichnete den Anschlag als „offenes Fanal, ein unmissverständliches Zeichen“, das gar nicht anders verstanden werden könne denn als Angriff auf alle in Deutschland lebenden Menschen mit türkischer Abstammung. Dennoch hätten die Behörden es geschafft, die Opfer zu Tätern zu machen. Das sei nicht das Versagen Einzelner gewesen, sondern der institutionelle Rassismus.
Die zahlreich anwesenden Pressevertreter*innen stellten im Anschluss noch einige Nachfragen, unter anderem zu den von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen weiteren Ermittlungsverfahren, auf die auch die Anwält*innen dieses ersten NSU-Prozesses keinen Zugriff haben. Deutlich wurde, dass mit der morgigen Urteilsverkündung die Aufklärung des NSU-Komplexes nicht abgeschlossen sein wird.