Zur Veröffentlichung des Abschlussberichtes des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses erklärt die Sprecherin von NSU-Watch Hessen, Sarah Müller: „Der hessische NSU-Untersuchungsausschuss kann in wesentlichen Punkten als vertane Chance bewertet werden. Zwar lieferte der Ausschuss Einblick in den institutionellen Rassismus der Behörden. Insbesondere bei der Aufklärung des Unterstützungsnetzwerkes des NSU in der militanten Neonaziszene in Nordhessen hat der Ausschuss seine Möglichkeiten aber nicht genutzt. Viele Fragen der Angehörigen des ermordeten Halit Yozgat konnten nicht beantwortet werden. Der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz hat sich als großes Hindernis für die Bekämpfung militanter Neonazistrukturen und die Aufklärung des NSU– Komplex herausgestellt. Es ist ein fatales Zeichen, dass durch die aktuelle Reform des Inlandsgeheimdienstes dessen Kompetenzen gerade in Hessen erweitert werden.“
Die Regierungskoalition aus CDU und GRÜNEN sperrte sich bereits gegen die Einsetzung des Untersuchungsausschusses und zeigte in dessen Verlauf oftmals kein wirkliches Interesse an Aufklärung. „Anstatt parteiübergreifend zusammenzuarbeiten, war der Ausschuss geprägt durch Auseinandersetzungen der unterschiedlichen Fraktionen. Parteipolitische Interessen schien oft wichtiger zu sein, als Aufklärung in der Sache. Ein Verhalten, das angesichts des Auftrags, Aufklärung in einer rassistischen Mordserie zu leisten, unwürdig ist“, sagt Sarah Müller. Die Geheimhaltung der Beweisanträge und die späte Veröffentlichung der Einladungen zu den Sitzungen führte zu einer intransparenten Arbeitsweise. „Hierdurch wurde eine öffentliche Wahrnehmung des Ausschusses erschwert.“ Diese strukturellen Probleme blieben trotz der zum Teil sehr engagierten Arbeit einiger Abgeordneter und ihrer Mitarbeiter*innen. Diesen sind die wesentlichen Erkenntnisse zu verdanken, die der Ausschuss hervorgebracht hat.
Die Ladung der Angehörigen von Halit Yozgat in der letzten Sitzung hat deutlich gemacht, wie wichtig die Perspektive und Expertise der Betroffenen für die Arbeit der Untersuchungsausschusses gewesen wäre. Wegen ihrer späten Ladung konnten Polizist*innen und Geheimdienstmitarbeiter*innen nicht mit Hinweisen konfrontiert werden, welche die Familie Yozgat in ihrer Befragung gab. „Wie schon in den Ermittlungen der Polizei 2006 wurde auch im Ausschuss Hinweisen der Familie Yozgat nicht nachgegangen“, so Sarah Müller. Auch der in den Behörden vorhandene institutionelle Rassismus wurde im Ausschuss nicht genügend thematisiert.
Die Aussagen der Mitarbeiter*innen des Verfassungsschutz haben ein besorgniserregendes Bild dieser Behörde gezeichnet. „Der Verfassungsschutz hat sich als eine in weiten Teilen verselbstständigte Struktur präsentiert. Einer demokratischen und öffentlichen Kontrolle seiner Arbeit versucht sich der Geheimdienst nach Möglichkeit zu entziehen.“ Die nach wie vor spürbare Unterstützungshaltung gegenüber Andreas Temme ist ein fatales Beispiel hierfür. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der völligen Unglaubwürdigkeit von Temmes‘ Aussagen. Auch in den Aussagen von Temmes Vorgesetzten Iris Pilling und Gerald Hess wurde die Verweigerungshaltung des Verfassungsschutzes deutlich. „Während Pilling immer dann Erinnerungslücken hatte wenn es um Informationen ging, die nicht schon öffentlich bekannt waren stützte Hess Temmes Lügengebäude für dessen Aufbau er maßgeblich mitverantwortlich war.“
„Die tatsächlichen Vorgänge in dieser Behörde sind nach wie vor unklar. Es wäre absolut notwendig zu erfahren, wer die anderen V-Leute im Raum Kassel waren, um einschätzen zu können welche Informationen der Verfassungsschutz hatte. Noch nicht einmal bei dem einzig bekannten V-Mann Benjamin Gärtner ist klar, was er diesem berichtet hat.“
Die Ladung und Befragung einzelner Zeug*innen aus der Neonazi-Szene lieferte durchaus Erkenntnisse, wies aber auch einige Lücken und Probleme auf. Neonazis, deren Befragung für die Aufklärung des NSU-Komplexes in Hessen wichtig wären, wurden nicht befragt. Hierbei wären insbesondere Stanley R., Enrico T., Thorsten Heise und Wolfgang Juchem zu nennen. Gegenüber den befragten Zeug*innen hat sich der Ausschuss unfähig gezeigt, deren Erzählungen zu hinterfragen. Die offenen Lügen der Zeug*innen Philipp Tschentscher und Corynna Goertz hatten für diese keine Konsequenzen. Zu dem gegen Tschentscher eröffneten Verfahren wegen Falschaussage gibt es seit über einem Jahr keine Neuigkeiten.
NSU-Watch Hessen beobachtet weiter mit Sorge, dass sich die militante Neonaziszene in Hessen in den letzten Jahren neu organisiert hat. „Das lokale Unterstützer*innen-Netzwerk des NSU ist weiterhin unbekannt. Die Aussage der gut vernetzten Neonazi-Aktivistin Goertz, sie sei wenige Monate vor dem Mord an Halit Yozgat in dessen Internetcafé gewesen, wurde nicht zum Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen genommen. Insbesondere im Raum Kassel hat sich unter dem Label ‚Combat 18‘ in den letzten Jahren eine international vernetzte terroristische Struktur gebildet.“ Dies konnte durch antifaschistische Recherchen vor kurzem belegt werden. Im kürzlich veröffentlichten Verfassungsschutzbericht werden diese Strukturen in wenigen Sätzen abgehandelt, obwohl davon auszugehen ist, dass der Verfassungsschutz auch hier involviert ist. Die Auswahl und Auskundschaftung des Kasseler Tatortes wäre ohne ortskundige Unterstützung nicht möglich gewesen.
Für NSU-Watch Hessen ist die Aufklärung der NSU-Morde noch lange nicht abgeschlossen. „Das Ende des Untersuchungsausschusses darf nicht bedeuten, dass ein Schlussstrich unter die Aufklärung des NSU-Komplexes in Hessen gezogen wird. Insbesondere der Verfassungsschutz muss gezwungen werden, sein Wissen und seine Aktenbestände offen zu legen. Der Quellenschutz darf nicht weiter als das oberste zu schützende Gut gelten. Durch die verschiedenen Untersuchungsausschüsse und das Strafverfahren in München ist eine Vielzahl von Puzzelstücken zusammengekommen, die wir jetzt miteinander verbinden können.“, so Sarah Müller. „Es hat sich gezeigt, dass rechter Terror in Deutschland von den Behörden nicht ausreichend ernst genommen wird. Hier wird es weiterhin einer kritischen Öffentlichkeit bedürfen, die die Perspektiven von Betroffenen ernst nimmt und Druck auf die Behörden ausübt.“
NSU-Watch Hessen hat als ehrenamtliche und parteiungebundene Initiative alle 44 öffentlichen Sitzungen des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses kritisch begleitet und dokumentiert. Dabei waren sie zum Teil die Einzigen, die in den Sitzungen von Anfang bis Ende anwesend waren.