von Caro Keller (NSU-Watch)
Lange dauerte es, bis sich der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern zur Einsetzung eines NSU-Untersuchungsausschusses durchgerungen hat. Erst im April 2018 fand sich die hierfür notwendige Mehrheit. Antifaschistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen hatten ein parlamentarisches Aufklärungsgremium jedoch bereits seit der Selbstenttarnung des Terrornetzwerkes im November 2011 gefordert. Die Notwendigkeit für eine tiefgreifende Aufarbeitung des NSU-Komplexes in Mecklenburg-Vorpommern war unmittelbar gegeben.
Mecklenburg-Vorpommern und Verweigerung der Aufklärung des NSU-Komplexes
Die RechtsterroristInnen erschossen am 25. Februar 2004 Mehmet Turgut in einem Imbissstand in Rostock-Toitenwinkel. Die Ermittler*innen zeigten sich jahrelang resistent, ein rassistisches Motiv für die Tat in Erwägung zu ziehen. Der landeseigene Verfassungsschutz nährte durch nicht belegbare „Hinweise“ den Verdacht, dass die Ursache der Hinrichtung in der Lebensgeschichte Opfers zu suchen sei. 2006 und 2007 raubte der NSU zudem zwei Mal die selbe Sparkasse in Stralsund aus. Obwohl die Sicherheitsbehörden nach der Selbstenttarnung im November 2011 reflexhaft jegliche Verbindungen des Terrornetzwerkes in den Nordosten negierten, offenbarten sich persönliche Bezüge des NSU-Kerntrios nach Mecklenburg-Vorpommern, die bis in die frühen 1990er Jahre zurückreichen.
Doch warum mussten erst mehr als sechs Jahren seit der Selbstenttarnung des NSU vergehen, bis es zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses kam? Vor allem die aus SPD und CDU bestehende Regierungskoalition sperrte sich vehement gegen ein solches Gremium. Das zuständige Innenministerium half tatkräftig dabei, einen Ausschuss im eigenen Bundesland zu verhindern. Ein Versuch der Fraktion Die Linke, das notwendige Quorum gemeinsam mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen zu erreichen, scheiterte 2013, da die Grünen kurzerhand durch das Innenministerium „umfassend“ über die Erkenntnisse zum NSU informiert wurden und ihre Zustimmung zurückzogen. Eine kritische Zivilgesellschaft drängte weiterhin auf die Einsetzung, während journalistische und antifaschistische Recherchen [1] sie in der Dringlichkeit bestätigten und bestärkten.
Der NSU-Untersuchungsausschuss macht sich zögerlich an die Arbeit
Im Frühjahr 2017 kam in Sachen parlamentarischer Aufklärung erneut Bewegung ins Spiel. Die Mehrheit des Landtages setzte einen sogenannten Unterausschuss des Innenausschusses ein, der sich schnell als fauler Kompromiss erwies. Die offensichtliche Untauglichkeit dieses Sondergremiums führte schließlich dazu, im April 2018 einen „richtigen“ Untersuchungsausschuss einzurichten. Obwohl dieser im Gegensatz zum Unterausschuss über die notwendigen Befugnisse, wie die Befragung von Zeug*innen oder das Recht auf Akteneinsicht, verfügt, gehen die Abgeordneten bis heute sehr zögerlich mit diesen Instrumenten um. Die spürbare Zurückhaltung, die sich seit der NSU-Selbstenttarnung im Schweriner Landtag breit machte, scheint sich auch auf die Arbeit des Untersuchungsausschusses übertragen zu haben. Lediglich einzelne Presseberichte geben Aufschluss über den ungefähren Ablauf und Inhalt der Sitzungen, da sich die Abgeordneten zumeist hinter verschlossene Türen zurückzogen. Der Ausschuss beschäftigte sich bislang vorrangig mit der Frage, welche Akten er überhaupt beiziehen möchte. Eine Aufstellung der Ostsee-Zeitung über die bisher gestellten Beweisanträge [2] lässt jedoch ein deutliches Gefälle zwischen den vertretenen Fraktionen erkennen. In diesen Anträgen geht es unter anderem um die Mordermittlungen, frühere Übergriffe auf den Imbiss und seinen Besitzer, die Aktenbestände zu „Blood & Honour“, dem „Kameradschaftsbund Anklam“ sowie dem Neonazi-Fanzine „Der Weisse Wolf“.
Zumindest irritierend wirken allerdings einzelne Anträge aus den Reihen der Regierungskoalition, die sich auf die Asylverfahren des Mordopfers und seines Bruders sowie auf Strafverfahren rund um den Tatort konzentrieren, wobei hier explizit nach Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz gefragt wird. Bekanntermaßen stellten Polizei und Justiz dieselben Schwerpunkte in den Fokus ihrer Mordermittlungen vor 2011, womit die Betroffenen der Terrorserie zu vermeintlichen Tätern erklärt wurden. Ruhig im Ausschuss ist es bisher dagegen um die Alternative für Deutschland (AfD) sowie deren Abspaltung „Bürger für Mecklenburg-Vorpommern“. Schlagzeilen machte bisher nur das AfD-Ausschussmitglied Ralph Weber mit der Anstellung des (Ex-)Neonazis Marcus G. [3], der sich noch vor wenigen Jahren gemeinsam mit dem NSU-Spendenempfänger David Petereit beim wehrsportähnlichen Tollensemarsch ablichten ließ.
Die Zeit bis 2021 muss genutzt werden
Ob die Abgeordneten im Schweriner NSU-Untersuchungsausschuss an einer ernsthaften Aufklärung interessiert sind, lässt sich wohl erst in den kommenden öffentlichen Sitzungen beobachten. Bislang gab es nur ein Mal im Rahmen einer Anhörung mit den beiden Obfrauen des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses, Dorothea Marx und Katharina König-Preuss, die Gelegenheit hierfür. Das öffentliche Interesse an der ersten öffentlichen Sitzung war groß. Knapp fünfzig Zuhörende verfolgten die fast vierstündige Sitzung. Im Vorfeld verfassten zahlreiche landesweite Organisationen und Bündnisse – von der Gedenkinitiative „Mord verjährt nicht!“ über migrantische Organisationen, Vertreter*innen religiöser Gemeinden bis hin zum Regionalverband des DGB – einen offenen Brief [4]. Die Unterzeichnenden stellen darin die drängenden Fragen, auf die der Ausschuss Antworten finden muss, und fordern die Ausschussmitglieder dazu auf, den NSU-Komplex in Mecklenburg-Vorpommern lückenlos und in öffentlichen Sitzungen aufzuarbeiten. Zentral wird die Frage sein, ob sich das NSU-Kerntrio auch im Nordosten auf die helfenden Hände der lokalen Neonazi-Szene verlassen konnte. Katharina König-Preuss lieferte während ihrer Anhörung zahlreiche Ansatzpunkte, die diese Annahme wahrscheinlich erscheinen lassen.
Der Ausschuss wird konsequent auf sein Recht beharren müssen, ungeschwärzte Akten vor allem aus dem Innenministerium vorgelegt zu bekommen, was der dortige Ressortchef Lorenz Caffier wohl am liebsten umgehen möchte. Pünktlich zum Anhörungsbeginn wurde dementsprechend auf der Homepage des Innenministeriums ein bisher interner Bericht mit den Erkenntnissen von Polizei und Verfassungsschutz zu den Straftaten sowie dem Unterstützernetzwerk des NSU veröffentlicht. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des knapp zwei Jahre alten Berichts war nicht zufällig gewählt. Die Botschaft ist deutlich: ‚Hört auf zu suchen; wir haben schon alles geprüft; es gibt nichts‘.
Ungeachtet dieses Versuchs, das Medienecho zumindest für den Tag der Anhörung zu bestimmen, forderte die Vorsitzende des thüringischen NSU-Untersuchungsausschusses, Dorothea Marx, die Schweriner Abgeordneten auf, sich ihrer Rolle als Parlamentarier*innen bewusst zu werden. Sie seien nicht die Bittsteller*innen einer Behörde. Sie haben nicht nur das Recht, sondern vielmehr die Pflicht, die Behörden zu kontrollieren. Dieser deutliche Appell ist alles andere als unberechtigt. Seit der Einsetzung des Ausschusses verzögern Verfassungsschutz und LKA durch überzogene Anforderungen an die Sicherheitsvorkehrungen der Sitzungsräume einen ordnungsgemäßen Start des Untersuchungsausschusses im Landtag. Auch angeforderte Akten aus den Landesministerien lassen seit Monaten auf sich warten. Eine geschlossene und öffentlich wahrnehmbare Kritik des Ausschusses an dieser Verzögerungstaktik sucht man jedoch vergebens in der Presse. Wie zügig der Ausschuss konkret in die Arbeit einsteigt und ob er am Ende Ergebnisse liefern wird, hängt nun von den Abgeordneten ab.
Maßgeblich für eine erfolgreiche Ausschussarbeit wird ebenso eine kritische Öffentlichkeit sein, die die Sitzungen verfolgt, das Agieren der Abgeordneten sowie der Behörden beobachtet und diese öffentlich thematisiert. Der bis 2021 arbeitende Ausschuss wird möglicherweise eine der letzten Chancen sein, den NSU-Komplex parlamentarisch aufzuarbeiten. An drängenden Fragen mangelt es nicht.
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Fußnoten:
[1] Siehe z.B. Andrea Röpke: Gefährlich verankert und Antifaschistischen Recherche Rostock (ARR): Mecklenburg-Vorpommern – Blood and Honour 1996 bis 2002
[2] Ostsee-Zeitung: NSU-Aufklärer im Landtag von MV weiter ausgebremst
[3] Marcus G. wurde inzwischen wohl wieder entlassen.
[4] Offener Brief an die Abgeordneten des Landtags von M-V zum NSU-Untersuchungsausschuss