Berichte gebrochener Aufklärungsversprechen – Rezension von „Rückhaltlose Aufklärung? NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl“

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von Isabella Greif

Trotz sieben Jahren parlamentarischer Aufklärungsbemühungen in 13 Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern und dem Prozess gegen die Kerngruppe des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) bleiben für die Betroffenen heute die gleichen Fragen offen: Was wussten Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden durch ihre V-Personen über den NSU? Hätten die Taten verhindert werden können?

Die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden dagegen seien bereits zum „business as usual“ (S. 19) übergegangen. Sie bleiben trotz aller gegenteiligen Erkenntnisse bei der Erzählung vom NSU als Trio. Die Herausgeber*innen Benjamin-Immanuel Hoff, Heike Kleffner, Maximilian Pichl und Martina Renner legen einen eindrücklichen Sammelband zu „parlamentarischer Kontrolle von Geheimdiensten und der Aufklärung von staatlicher (Mit-) Verantwortung für schwerste Straf- und Gewalttaten“ (S. 11) in den Komplexen NSU, Anis Amri, National Security Agency (NSA) und Bundesnachrichtendienst (BND) vor. Die zentrale Fragestellung lautet, inwieweit die Aufklärung der Arbeit der Geheimdienste gelungen oder gescheitert ist. Die Autor*innen, Parlamentarier*innen von CDU, SPD, Grünen und LINKE sowie Jurist*innen und Journalist*innen, bilden ein tiefgreifendes Wissen zu den jeweiligen Komplexen und Netzwerken ab, dass trotz Blockaden und Sabotagen zusammengetragen werden konnte und ziehen eine „(selbst-) kritische und multi-perspektivische Bilanz“ (S. 11). Einige der Beiträge und Argumentationen werden im Folgenden beleuchtet.

Die Rechtsanwältin Antonia von der Behrens vertrat Angehörige der Familie Kubaşık im NSU-Prozess und kommentiert die Aufklärung aus Perspektive der Betroffenen. Nachdem sich das Gericht in der Urteilsverkündung im Juli 2018 geweigert hätte, „das Aufklärungsbedürfnis und den Aufklärungsanspruch der Nebenkläger*innen überhaupt anzuerkennen“ (S. 27), fragt sie, „welche Rolle die Untersuchungsausschüsse […] im Hinblick auf […] das Aufklärungsinteresse der Betroffenen bislang gespielt haben“ (ebd.). Während Betroffene von den Ausschüssen kaum selbst angehört wurden, kommt sie zu einem ebenso ernüchternden Ergebnis: „Wenn die Bundestagsabgeordneten nach der umfangreichen Beweisaufnahme nicht zu mehr in der Lage sind, als kritisch zu hinterfragen und das Leid der Opfer zu bedauern, dann zeugt das […] von politischem Unwillen“ (S. 32).

Diesen Gedanken weiterführend fordert Caro Keller von NSU-Watch in ihrem Beitrag „eine unabhängige, internationale Aufarbeitungskommission, besetzt mit den Betroffenen, die gemeinsam mit anderen Menschen und mit Aktenzugang den NSU-Komplex aufarbeitet“ (S. 54). Sie legt die Rolle unabhängiger Beobachtung der oftmals wenig beachteten Untersuchungsausschüsse dar, die für die bisherige Aufarbeitung des NSU-Komplexes zentral gewesen sei (vgl. S. 50).

Der Journalist Dirk Laabs betont, dass die Frage in den Ausschüssen weniger „Warum hat keine Behörde die rassistische Mordserie aufgeklärt oder gestoppt“ (S. 56), sondern viel mehr „Hatten V-Personen etwas über die Morde mitbekommen? Und wenn ja, was war mit diesen Informationen geschehen?“ (ebd.) lauten müsste. Das Behördenversagen sei schließlich kein Geheimnis mehr gewesen. Er attestiert trotz des hohen betriebenen Aufwandes ein Scheitern der Aufklärung in den Parlamenten, das besonders auf Neonazis und Verfassungsschützer*innen zurückzuführen sei, die die Wahrheit verzerrt oder schlicht gelogen hätten – in der Regel ohne Konsequenzen fürchten zu müssen (vgl. S. 61). Ein fatales Signal, denn die „Exekutive setzte sich über Kritik an den Geheimdiensten einfach hinweg, ohne durch die Legislative gestoppt werden zu können“ (S. 72).

Der Rechts- und Politikwissenschaftler Max Pichl diskutiert Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Aufklärung und kommt zu einer ambivalenten Bewertung zwischen Teilerfolgen und Scheitern der Bemühungen in den Ausschüssen. Während die Rechte der Parlamentarier*innen im Vergleich zu einem Strafprozess weitreichender seien, läge ein Konflikt darin, dass „die Herausgabe von Akten unter Verweis auf das sogenannte Staatswohl“ (S. 78) durch Behörden verweigert wurde. Letzten Endes legten die Geheimdienste selbst fest, „was tatsächlich unter das ‚Staatswohl‘ fällt“ (S. 78). Wie Aufklärung sabotiert wurde, verdeutlicht Pichl am hessischen Untersuchungsausschuss. Ein Bericht des Landesamts für Verfassungsschutz über Verbindungen des NSU nach Hessen wurde „bis zum Jahr 2134 als geheim eingestuft“ (S. 80).

Der Rechtsanwalt Christoph Kliesing vertritt Steve Erenhi, der 1992 einen versuchten Mord schwer verletzt überlebte, und setzt sich für die Aufklärung der Rolle des Rädelsführers Carsten Szczpanski, der später vom Brandenburger Verfassungsschutz als V-Person „Piatto“ geführt wurde, ein (vgl. S. 131). Für ihn steht fest: „Das eigentliche Problem ist, dass sich die Verfassungsschutzämter als Staat im Staat gerieren und deshalb immer wieder Aufklärung torpedieren und eine effektive politische Kontrolle verhindern wollen“ (S. 133).

Auch im Kontext des Terroranschlags am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 bleibt unbeantwortet, ob der Anschlag hätte verhindert werden können. Hier wurde bekannt, „dass das BfV [Bundesamt für Verfassungsschutz, Anm. d. V.] tatsächlich eine Vertrauensperson im Umfeld Anis Amris eingesetzt hatte“ (S. 145). Dies wurde zuvor geleugnet. Der Journalist Ulrich Stoll konstatiert: „Der Amri-Komplex belegt einmal mehr, dass die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste nicht ausreichend ist“ (S. 154).

Die Beiträge von Clemens Binninger (CDU) und Christian Ströbele (Grüne) sind kontroverser in ihren Bewertungen. Binninger, der als Mitglied in beiden Bundestagsuntersuchungsausschüssen zum NSU als Obmann und Vorsitzender intensiv beteiligt war, beschreibt in seinem Artikel ein „wirkungsvolles System von Kontrollinstrumenten und notwendiger Öffentlichkeit einerseits und der geheimhaltungsbedürftigen Arbeit der Nachrichtendienste andererseits“ (S. 191). Er zieht den Schluss, dass „die Summe an aufgedeckten Versäumnissen und schweren Fehlern im NSU-Komplex […] die Wirkmächtigkeit parlamentarischer Kontrolle“ belege (S. 192). Ströbele, ebenfalls bereits Mitglied zahlreicher Ausschüsse, argumentiert hingegen, dass die Aufklärung des NSU kaum „rückhaltlos oder vollständig“ (S. 204) sei, wenn Geheimdienste ihren Erfolg daran messen, „wie viel sie wissen“ (S. 206) und ihr „exklusives, geheimes Wissen“ (ebd.) hüten. Kontrolle sei so „nur unzulänglich möglich“ (S. 195).

Über die Arbeit der Thüringer Untersuchungsausschüsse, die als besonders erfolgreich gelten, berichten Madeleine Henfling (Grüne), Katharina König-Preuss (LINKE) und Dorothea Marx (SPD). Zum Abschlussbericht des ersten Ausschusses kam die damalige Vorsitzende Marx zu dem Ergebnis: „Die NSU-Verbrechen hätte es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gegeben, wenn die Thüringer Behörden die zweifelsfrei vorhandenen Hinweise und Spuren aufgegriffen und die drei NSU-Aktivisten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe rechtzeitig gefasst hätten“ (S. 209). Im Gegensatz zu den meisten anderen Ausschüssen wäre durch das umfassende Vorlegen von Akten „eine tiefgründige Recherche zu Erkenntnissen insbesondere des Thüringer Verfassungsschutzes zum NSU-Komplex überhaupt erst ermöglicht“ (S. 212) worden. So sei es gelungen, „das zentrale Narrativ des NSU-Komplexes […] mitzuprägen“ und „die staatliche Mitverantwortung für den Rechtsterrorismus der 1990er und 2000er Jahre“ zu benennen (S. 213). Dementsprechend, so die Autorinnen, „stärkt eine transparente Aufarbeitung das Vertrauen in die Institutionen und das Staatswohl“ (S. 224).

Für Kerstin Köditz (LINKE), Obfrau des ersten und stellvertretende Vorsitzende des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses in Sachsen, wo sich das Kerntrio knapp 14 Jahre lang aufhielt, ist eine zentrale Frage, warum „man das Trio in Sachsen nicht gefunden?“ (S. 245) habe. Sie betont insbesondere die „Tragweite des Rassismus“ (S. 250), der „überhaupt keine relevante Kategorie für die Arbeit von Sicherheitsbehörden, für die herrschende Innenpolitik insgesamt“ (ebd.) sei. Stattdessen ginge es um „‚Extremismus‘ als die Gegnerschaft zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ (ebd.). Rechtsterrorismus ließe sich so jedoch nicht erkennen. Sie folgert, dass „‚security by obscurity‘ […] einer liberalen Demokratie und einer offenen Gesellschaft grundsätzlich nicht genügen“ (S. 251) könne.

Martina Renner (LINKE), Mitglied der Bundestagsuntersuchungsausschüsse zum NSU und zur NSA, beschreibt die Folgen der Überwachung für eine offene Gesellschaft. Sie hebt hervor, beiden Skandalen seien „illegale Machenschaften im Dienst, von Beamten, die einen Eid auf die Verfassung geleistet haben, eine Praxis der Unterhöhlung der Demokratie durch staatliche Institutionen“ (S. 259) gemein. In der NSA-Affäre zeige sich, dass der BND „keinesfalls nur der willige Gehilfe der NSA war […], sondern analog zur NSA selbst solche illegalen Suchbegriffe entwickelte und einsetzte“ (S. 256). Im NSU-Komplex prangert sie „die Skrupellosigkeit der Behörden bei der Leugnung des rechten Terrors“ (S. 256) an, was sie als „Staatsräson und hegemoniales gesellschaftliches Selbstverständnis“ (S. 257) kritisiert. Anstelle politischer Konsequenzen und juristischer Verfolgung ließe sich in beiden Fällen ein anderes Muster erkennen: „Unmittelbar auf den Skandal folgt ein Aufwuchs an Befugnissen für die Dienste“ (S. 262). Sie fordert deshalb eine demokratietheoretische Debatte über die Unabhängigkeit parlamentarischer Kontrolle der Exekutive, denn „[e]ine Demokratie, die nicht in der Lage ist, Staatsverbrechen aufzuklären, […] ist eine wehrlose Demokratie gegen die Innentäter aus den Geheimdiensten“ (S. 266).

Der umfassende und detailreiche Sammelband erscheint zu einem Zeitpunkt, da das öffentliche Interesse an den Themenkomplexen zusehends abzunehmen scheint. Den Herausgeber*innen ist es gelungen, die vielen Geschichten gebrochener Aufklärungsversprechen abzubilden und ihre wegweisenden Bedeutungen für Gesellschaft und Politik aufzuzeigen. Der Sammelband schließt eine demokratietheoretische Lücke bisheriger Publikationen zu den Themen, sowohl als Einstieg als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Benjamin-Immanuel Hoff/ Heike Kleffner/ Maximilian Pichl/ Martina Renner (Hg.)
Rückhaltlose Aufklärung? NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
272 Seiten, 2019
VSA Verlag, 19.80€