Nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) wurde mit Stephan E. ein langjährig aktiver Neonazi aus Kassel festgenommen. Die Ermittlungen zeigen in Richtung der hessischen Neonaziszene. NSU-Watch Hessen: „Im Zuge der Aufklärung des NSU-Komplexes in Hessen sollte auch die dortige Neonazistruktur aufgedeckt werden, dies ist jedoch nicht gelungen. Der Mord an Walter Lübcke muss im Zusammenhang dieser Nicht-Aufklärung gesehen werden.“ Ein offensives Vorgehen gegen die Neonaziszene in Hessen und darüber hinaus wird weiterhin durch die Geheimhaltung relevanter Akten erschwert. NSU-Watch: „Es braucht eine sofortige Offenlegung aller Akten sowie eine unabhängige Aufklärung. Es muss endlich Schluss damit gemacht werden, Quellenschutz über Aufklärung und Verfolgung zu stellen. Wenn es jetzt keine Aufdeckung und Entwaffnung der Neonazistrukturen gibt, werden sie dies als Ermutigung verstehen, weiter zu morden.“
Vor knapp einem Jahr endete in München der erste NSU-Prozess unter dem Jubel der anwesenden Neonazis. Kurz darauf veröffentlichte das antifaschistische Recherchenetzwerk Exif eine kleinteilige Offenlegung der sich reaktivierenden Strukturen des rechtsterroristischen Netzwerks Combat 18. Dies war einer breiteren Öffentlichkeit noch nicht einmal eine Randnotiz wert. NSU-Watch: „Es gäbe beständig die Möglichkeit, rechtsterroristische Netzwerke aufzudecken und zu zerschlagen. Die fortwährend ausbleibenden Konsequenzen werden aber von der terroristischen Neonaziszene als Signal der Ermutigung verstanden, ihre Ideologie weiter in Morden umzusetzen.“
Seit 2011 zeigt sich in der Aufklärung des NSU-Komplexes auch, dass staatliche Gremien offenbar nicht in der Lage oder Willens sind, rechten Terrorismus konsequent aufzuarbeiten. NSU-Watch: „Trotz aller Bemühungen um Aufklärung können oder wollen Politik und Sicherheitsbehörden die Funktionsweise rechten Terrors nach wie vor nicht verstehen oder ernst nehmen. Es zeigt sich: Ohne eine Einbindung der Zivilgesellschaft und eine damit unabhängigere Aufklärung bleibt die Aufarbeitung lückenhaft. Wir fordern daher zivilgesellschaftliche Aufklärungsgremien mit vollem Aktenzugang nach internationalem Vorbild.“
Bereits vor gut einem Jahr hatte Exif Recherche die Strukturen der militanten Kasseler Neonaziszene offengelegt, denen Stephan E. seit Jahren angehört. Seitens der Politik folgten bisher keine Konsequenzen. In Hessen müssen das für 120 Jahre gesperrte Gutachten sowie alle dem zugrundeliegenden Akten sofort freigegeben werden. NSU-Watch Hessen: „In diesen geheimen Akten vermuten wir die Informationen, die die hessische Neonaziszene, ihre bundesweiten Verbindungen und die staatlichen Verstrickungen aufdecken. Es stellt sich die Frage, ob eine frühere Offenlegung der Informationen den Mord an Walter Lübcke hätte verhindern können.“ Bis heute kann sich die Öffentlichkeit außerdem nicht umfassend über die Ergebnisse des hessischen NSU-Untersuchungsausschuss informieren: Die Protokolle der Zeug*innenvernehmungen sind schwer zugänglich. Nur in der unabhängig protokollierten Form als Berichte bei NSU-Watch Hessen sind sie für alle leicht verfügbar.
„Wir nehmen eine fortschreitende gesellschaftliche Enthemmung wahr. Menschen zu bedrohen oder anzugreifen, scheint immer öfter als normale Handlung wahrgenommen zu werden. Neonazis fühlen sich davon bestärkt, ihre Mordpläne in die Tat umzusetzen. Dieser Zustand ist unerträglich. Wir sind solidarisch mit allen Betroffenen rechter Gewalt. Wir wünschen der Familie Walter Lübckes viel Kraft.“
Für Nachfragen stehen wir gern zur Verfügung:
NSU-Watch: mail@nsu-watch.info
NSU-Watch Hessen: hessen@nsu-watch.info