Der Verhandlungstag befasste sich zentral mit der Videoaufzeichnung des zweiten Geständnisses von Stephan Ernst von Anfang Januar 2020, in dem er sein zurückgezogenes erstes Geständnis, zugunsten eines alternativen Ablaufs der Tat mit anderer Vorgeschichte revidiert.
Zu Beginn des Prozesstages wurden zunächst Anträge der Verteidigungen aus vorangegangenen Verhandlungstagen, etwa Befangenheitsanträge gegen einzelne Richter*innen oder Anträge zur Aussetzung des Verfahrens, abgewiesen. Bevor die vierstündige Aufzeichnung des zweiten Geständnisses gezeigt wurde, kündigte Ernst über seine Verteidigung an, sich nach der Sommerpause schriftlich im Prozess äußern zu wollen.
Im präsentierten Vernehmungsvideo behauptet Ernst – entgegen seiner Aussage im ersten Geständnis, er habe Walter Lübcke allein aufgesucht und erschossen – er sei mit Hartmann gemeinsam zu Lübckes Wohnort gefahren, um ihm eine „Abreibung“ zu verpassen und ihn zu schlagen. Dabei habe sich unbeabsichtigt der tödliche Schuss aus der Tatwaffe gelöst, die Hartmann in der Hand hielt. Immer wieder drehte sich die Vernehmung um vermeintliche Abläufe der Tat, sowie deren Vor- und Nachbereitung. Dabei wird im Video wiederholt deutlich, dass die vernehmenden Ermittler Ernsts Behauptung, sein erstes Geständnis sei eine Lüge gewesen, keinen Glauben schenken.
Auf Nachfrage der Ermittler erklärt Ernst im gezeigten Video, wie es zu dem ersten Geständnis kam: Als er in Untersuchungshaft saß und noch keinen Anwalt hatte, habe ihn der Szeneanwalt Dirk Waldschmidt über Sozialarbeiter der JVA kontaktiert und seine Vertretung angeboten. Waldschmidt habe ihm sinngemäß gesagt, dass er sowieso verurteilt würde, da seine DNA-Spuren am Opfer gefunden worden waren. Er solle Hartmann und die restliche Szene nicht belasten und die Tat auf sich nehmen. Die „Gefangenenhilfe“ würde dann seine Familie und die Abbezahlung seines Hauses unterstützen. RA Hoffmann äußerte nach Beendigung der Sichtung des Vernehmungsvideos, bei der von Ernst genannten Gefangenenhilfe könnte es sich um die Nachfolgeorganisation der neonazistischen „Hilfsgemeinschaft nationaler Gefangener“ (HNG) handeln. In der Vernehmung behauptet Ernst, ihm erschien die Option, die Tat allein auf sich zu nehmen, als einzige und beste Lösung. Er habe damit zudem die Hoffnung verbunden, als Held der Szene und Märtyrer dazustehen. Weiter führt Ernst aus, er habe mit seinem ersten Geständnis den Verdacht, hinter dem Mord an Walter Lübcke stünde ein Netzwerk oder es gebe Verbindungen zum NSU, ausräumen wollen. Ebenso gibt er an, wiederkehrend mit Hartmann über Lübcke und den Entschluss, etwas gegen ihn unternehmen zu wollen, gesprochen zu haben. Das Vernehmungsvideo endet damit, dass ein neuer Termin für die dritte Vernehmung ausgemacht wird, dessen Video am vierten Verhandlungstag gezeigt wird.
Der Bericht bei NSU-Watch Hessen