NSU-Prozess: Das schriftliche Urteil

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Am 11. Juli 2018 endete in München der NSU-Prozess nach 438 Verhandlungstagen mit der mündlichen Urteilsverkündung. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl richtete kein Wort an die Angehörigen der Ermordeten und die Überlebenden der Anschläge. Rassismus, ob institutionell oder gesellschaftlich, spielte keine Rolle in der mündlichen Urteilsbegründung.

Knapp zwei Jahre später, am 21. April 2020 und damit einen Tag vor Ablauf der Frist, gab der Senat das schriftliche Urteil in der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts München ab. Durch diese lange Zeit fehlte es am nötigen Druck auf die Bundesanwaltschaft, weiter zu ermitteln, aber auch am Druck auf Bundesländer wie Hamburg oder Bayern, Untersuchungsausschüsse einzurichten. Das ist wertvolle Zeit, die mit der Ausrede, das Verfahren sei nicht abgeschlossen, verschwendet wurde.

Trotzdem und trotz des großen öffentlichen Interesses am schriftlichen Urteil des NSU-Prozesses wird es von Seiten des Gerichts wohl keine Veröffentlichung des Urteils geben. Wir veröffentlichen nun gemeinsam mit FragDenStaat das Urteil des OLG München, um eine breite öffentliche Diskussion darüber zu ermöglichen.

Auch im schriftlichen Urteil spielen die Ermordeten, die Überlebenden und ihre Angehörigen keine Rolle. Elif Kubaşık, die Witwe des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık schreibt in einem Brief an das OLG München:

„Jetzt haben Sie viel Zeit verstreichen lassen, bis Sie uns das Urteil geschickt haben. Das Urteil ist sehr lang. Aber warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, wonach Sie uns gefragt haben, was Sie von all den Zeugen, von uns und allen anderen gehört haben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben? Warum haben Sie nicht das aufgeschrieben, was herausgekommen ist über die vielen Helfer dieser Gruppe, was herausgekommen ist darüber, wer alles über diese drei Leute Bescheid wusste, wie nah der Staat ihnen war? Warum haben Sie nicht aufgeschrieben, dass man nicht die ganze Wahrheit finden kann, wenn Akten zerstört werden, wenn Zeugen lügen.

Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte.

Wir wollten nichts Unmögliches. Wir wollten, dass Sie uns ernsthaft zuhören, uns, die schon vor allen andere ahnten, dass hinter den Morden Nazis stecken. Wir wollten, dass Sie Ihre Pflicht tun. Dass Sie untersuchen, was geschehen ist, dass Sie aufschreiben, was gesagt worden ist.“

Nebenklagevertreter*innen sprachen in einer Pressemitteilung von einem „Mahnmal des Versagens des Rechtsstaates“, es sei „formelhaft, ahistorisch und kalt“.

Die 3025 Seiten des Urteils stehen nun hier einfach durchsuch- und navigierbar zur Verfügung. Sie können zudem als PDF-Datei heruntergeladen werden und sind auch in einer HTML-Version verfügbar (lange Ladezeit).

Im Urteil sind die Nachnamen von Beteiligten sowie vereinzelte Angaben über Gesundheitsinformationen und Angehörige geschwärzt. Die Namen der Todesopfer des NSU – Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter – sind nicht geschwärzt. Auch die Namen der Angeklagten, mit Ausnahme von Carsten S., sind vollständig zugänglich.

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