Der Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann in Frankfurt hat begonnen. Schon zuvor ist deutlich geworden, dass die mutmaßliche Tat des Neonazis Stephan Ernst und seiner Komplizen eine direkte Folge der rassistischen Mobilisierungen auf der Straße ist. Dieser Terror von rechts ist sowohl mit dem NSU-Komplex als auch mit dem AfD-Umfeld verbunden.
von Ulli Jentsch und Eike Sanders
Nur in kleinen Stückchen kommen Details über die Ermittlungen zum Mord an Walter Lübcke (CDU) und damit Hinweise auf die Umstände der Tat ans Licht. Deutlich wurde bisher, dass der mutmaßliche Mörder Stephan Ernst den Anschlag offenbar langfristig geplant hatte. Er hatte mindestens mit dem ebenfalls verhafteten Markus Hartmann eine Bestrafung des Kommunalpolitikers geplant, da dieser sich wegen seines Einsatzes für Geflüchtete zum Feind der beiden langjährigen Nazi-Kameraden aus Kassel gemacht hatte. Mithilfe des verhafteten Elmar J., der als Waffenhändler mit Bezügen in die rechte Szene bekannt ist, hatten sich die beiden Angeklagten ein beachtliches Waffenarsenal zugelegt: Bei insgesamt 30 Hausdurchsuchungen in vier Bundesländern wurden von den Behörden insgesamt 46 Schusswaffen beschlagnahmt.[1]
Dass keiner der Angeklagten in den letzten Jahren als Aktivist herausragend ausgefallen war, macht diese Personen nicht zu »Schläfern«, wie sie in der Presse gerne bezeichnet werden. Der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, machte die Übernahme des Begriffes aus der Analyse islamistischen Terrors bei einer Pressekonferenz zum Thema, als er gleichzeitig keine politischen Aktivitäten von Stephan Ernst benennen konnte. Inzwischen ist klar geworden, dass Ernst und Markus Hartmann zwischen 2014 und 2018 zusammen auf Aufmärschen der extremen Rechten waren.[2] Doch selbst wenn nicht: Viele politische Biografien kennen solche Phasen der Zurückhaltung oder Inaktivität, das macht diese Personen weder weniger radikal in ihren ideologischen Anschauungen noch muss dies ein Ausdruck einer Planung sein, wie es der Begriff des Schläfers nahelegt.
Es entfaltet sich eher das Bild von seit vielen Jahren neonazistisch sozialisierten Männern, bei Ernst und Hartmann dank antifaschistischer Recherchen mit bekannten öffentlichen Wegmarken vor allem in den 2000er Jahren. Angesichts der europäischen Migrationsbewegungen scheinen sie von der weit verbreiteten Propaganda des drohenden »Austausches des Volkes« mobilisiert worden zu sein, sich wieder verstärkt politisch zu betätigen. Sie sind also gewöhnliche Mitglieder der gewaltbereiten Naziszene, die in Deutschland selbst bei konservativer Schätzung durch den Verfassungsschutz auf 12.700 Personen gezählt werden. Wahrscheinlich sind es etliche Tausend mehr, die jederzeit »auffällig« werden können, wie es im Geheimdienstjargon lautet. Die beiden hatten den Äußerungen des späteren Opfers im Oktober 2015 auf einer Bürgerversammlung in Lohfelden gemeinsam zugehört und waren darüber »in hohem Maß verärgert«[3]. Noch am selben Abend hat Markus Hartmann das selbstgedrehte Video hochgeladen. Lübcke hatte in Richtung rechter Proteste gesagt: »Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.«
Gegen die »Asyl-Lobby«
Figuren wie diese brauchen keine ausgedehnten politischen Begründungen oder gar ideologische Theorien um sich dazu zu entscheiden, gegen Vertreter*innen der »Asyl-Lobby«, wie Lübcke es in ihren Augen war, vorzugehen. Dass mit Walter Lübcke ein engagierter Kommunalpolitiker ermordet wurde, noch dazu ein Vertreter der CDU, scheint für viele jetzt eine neue Qualität darzustellen. Doch auch in anderen Ländern sind exponierte Fürsprecher*innen einer offenen und diversen Demokratie in den vergangenen Jahren Ziele politischer Morde oder Mordversuche geworden. Den Neonazis von gestern und heute schwebt ein Bild des nationalen Umsturzes vor, der vom passiven Erwarten des »Tag X«, über die individuellen Vorbereitungen der Prepper-Szene und wütende »Merkel muss weg«-Demonstrationen, bis hin zum Kauf von Leichensäcken, in seinem Kern immer gewaltvoll und antidemokratisch ist. Insofern sind politische Amtsträger*innen nicht nur Repräsentant*innen für »Multikulti« -und etliche darüber hinaus direkt vom Rassismus der Neonazis betroffen – sondern vor allem Repräsentant*innen des Systems, das es umzustürzen gilt. Und rechte Täter(*innen) sind wie gehabt »Vollstrecker des Volkswillens« – eine Figur, die schon in den 1990ern treffend das Zusammenspiel zwischen verbaler und abstrakter politischer Ausgrenzung und konkreter Gewalttaten beschrieb.
Rassismus, Antisemitismus und antidemokratische Einstellungen, die in jedem parlamentarischen Politiker[4] den Volksverräter sehen, vermengen sich untrennbar: In dem Buch »Umvolkung« des extrem rechten Autors Akif Pirinçci wird die Begegnung zwischen Walter Lübcke und seinem späteren Mörder auch beschrieben und interpretiert: »Offenkundig scheint die herrschende Klasse den Respekt vor dem eigenen (Wahl-)Volk so restlos abgelegt zu haben, daß man ihm schulterzuckend die Ausreise empfehlen kann, wenn es nicht pariert. Es gäbe da auch noch andere Möglichkeiten, aber die KZ, so dürften einige Machthaber wohl im Stillen denken, sind ja leider außer Betrieb.« (Pirinçci 2016: 90) Diese Passage ist jene sogenannte »KZ-Rede«, die Pirinçci in leicht veränderter Form beim Pegida-Aufmarsch am 19. Oktober 2015 vor knapp 20.000 Zuhörer*innen in Dresden vortrug.[5] Dass nun das Buch »Umvolkung« bei Markus Hartmann gefunden wurde, in dem er eben jene Lübcke-/KZ-Passage markiert hatte, verleitet einige dazu, darin die klandestine Vorbereitung der mutmaßlichen Täter zu erkennen. Es sei aber daran erinnert, dass jener Jubiläums-Pegida-Aufmarsch, ein Jahr nach der Entstehung der rassistischen Bewegung in Dresden und ihrer öffentlichen Bagatellisierung, ein enormes Medienecho nach sich zog. Beachtenswerte 30.000 Gegendemonstrant*innen kamen in Dresden unter dem Motto »Herz statt Hetze« zusammen. Die Aufmerksamkeit konnte verstärkt auf den Rassismus und Neonazismus der Bewegung gelenkt werden und letztendlich teilte sich die Gesellschaft in Demokratie-Verteidiger*innen auf der einen und Pegida-Versteher*innen auf der anderen Seite. Denn wichtig ist zu betonen, dass sich Pirinçci in Dresden tatsächlich zwei Tage nach dem Messer-Attentat auf Henriette Reker hinstellte, um unter Bezug auf Lübcke öffentlich gegen Politiker*innen zu hetzen. Die Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Reker war am 17. Oktober 2015 durch Frank Steffen, einen 44-jährigen ›Einzeltäter‹ mit eindeutiger extrem rechter Vergangenheit, schwer verletzt worden. Am Tatort rief er, er habe das wegen »Rekers Flüchtlingspolitik« getan. Deutschlandweit wurde erstmalig durch Presse und Politik ein Zusammenhang zwischen der Hetze von Pegida und der Tat hergestellt.
Die Bürgerversammlung in Lohfelden am 14. Oktober, die Veröffentlichung des Videos, der terroristische Anschlag auf eine Politikerin am 17. Oktober und Pirinçcis Rede am 19. Oktober standen also in einem sehr deutlichen inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhang und waren Bestandteil eines Medienechos mit einem bundesweiten Publikum. Insofern waren Hartmann und Ernst nur zwei von Tausenden und Lübcke war nur einer, der öffentlich als Feind markiert wurde.
Hetzer oder Stichwortgeber?
Es gilt zu fragen, was in einem Fall wie Lübcke die Täter und das Opfer zusammen führt. Wer stachelt zum Terror auf und wer hat die vielen potenziellen und am Ende auch die realen Opfer ausgewählt, verletzt, ausgegrenzt, zum Abschuss freigegeben? Während im US-amerikanischen Diskurs diese Stichwortgeber, die indirekt die Tat ermöglichen, »indirect enabler« genannt werden und dadurch versucht wird, die Verantwortung eines machtvollen, aggressiven Wortführers wie Alex Jones oder auch eines Donald Trump zu beschreiben, ist der deutschsprachige Diskurs weitgehend sprach- und begriffslos. Der Begriff des Hetzers ist schön lautmalerisch, doch er ist ungenau und nicht nur durch den inzwischen inflationären Gebrauch potenziell verharmlosend: Er fokussiert so sehr auf den Aspekt, dass Emotionen wie Hass erzeugt werden, dass die möglicherweise durchaus bewusste Intention, irgendjemanden zu einer Tat zu ermutigen, nicht erfasst wird.
Dies erreicht im englischsprachigen Diskurs der Begriff des »stochastic terrorism«[6]. Er beschreibt Personen, die die gewünschte Resonanz einer terroristischen Tat provozieren und zwar unabhängig davon, was genau die Tat ist, wer der Täter ist oder letztendlich sogar, ob eine Tat überhaupt stattfindet.[7] »Stochastischer Terrorismus« schafft eine Situation, in der eine so hohe Anzahl von Pfeilen in Richtung potenzieller Täter abgeschossen wird, dass sich schon irgendjemand »da draußen« durch die Ansprache ins Mark getroffen fühlen wird und handelt. Im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke könnte man also in Anlehnung an die englischsprachige Debatte durchaus die umfassende öffentliche Markierung des Kommunalpolitikers als »Volksverräter« durch Internetportale oder Reden auf Pegida-Versammlungen als stochastischen Terrorismus bezeichnen. Von der Veröffentlichung der Privatadresse mal ganz abgesehen.
Es werden so viele potenzielle Opfer markiert, dass sich der Täter das ihm persönlich passende Opfer aussuchen kann. Mit Reker und Lübcke suchten sich die Täter Opfer in räumlicher Nähe aus, in Bærum verband der Täter den Hass gegen ein Familienmitglied (seine chinesischstämmige Halbschwester) mit dem gesellschaftlichen antimuslimischen Rassismus und dem Vorbild des Attentäters von Christchurch. Ähnliches dürfte bei dem Terrorakt in Dayton der Fall gewesen sein.[8]
Zwischen NSU und AfD
Der politische Mord an Walter Lübcke steht in der Geschichte des rechten Terrorismus zwischen dem NSU-Komplex und dem AfD-nahen und Pegida-Umfeld. Im Unterschied zu Bærum, Dayton und Christchurch erkennen wir bei der Gruppe um Stephan Ernst deutlich die Rolle, die ihre Geschichte in der organisierten Naziszene als Bindeglied zwischen dem ›Tag-X‹-Narrativ, der Feindmarkierung und der Umsetzung einer Tat spielen. Es ist die Praxis der notwendigen Überschreitung von verbaler Gewalt zur geplanten, tatsächlichen Gewalt bis hin zu Mord und Terrorismus. Eine paramilitärische Ausbildung, das Lernen von Terrorismuskonzepten und das Festigen des neonazistischen Weltbildes ist das, was die Kasseler Kameradschaftsszene mit ihren Bezügen zu Combat 18 für Stephan Ernst in den 2000er Jahren war. Das sieht eher wie der klassische Radikalisierungsverlauf aus den 1990er Jahren aus, den wir auch vom Kerntrio des NSU kennen.
Gleichzeitig bewegten sich zumindest Ernst und Hartmann in den vorerst letzten Jahren in Freiheit in dem so mobilisierungskräftigen und dynamischen Pegida- und AfD-Spektrum und besuchten deren Aufmärsche. Dort holten sie sich die notwendige Motivation zu ihren Taten durch die Stichwortgeber ab. Markus Hartmann benutzte Youtube um selber Propaganda zu verbreiten, las entsprechende Publikationen. Beide nutzten den örtlichen Schützenverein zum Schießtraining. Ohne ihre Vorgeschichte wären diese beiden Angeklagten ganz normale AfD-Anhänger.
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Fußnoten:
[1] Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Martina Renner und anderer (Fraktion DIE LINKE), Drucksache 19/11872, Der Mord an Walter Lübcke.
[2] Beide waren am 1. September 2018 auf einer AfD-Demonstration in Chemnitz, zumindest Hartmann am 7. Oktober 2015 in Erfurt auf einer AfD-Demonstration sowie Hartmann zumindest auf einer weiteren in Dresden, so sein Anwalt.
[3] Vgl. Beschluss des BGH vom 22.08.2019 unter https://juris.bundesgerichtshof.de
[4] Dies gilt selbstverständlich auch für nicht-cis-männliche Politiker*innen, wird hier dann aber noch durch frauen- und LGBTI*-feindliche Projektionen verschoben und verstärkt.
[5] Dem brachte die Rede nicht nur eine Verurteilung wegen Volksverhetzung ein – 2018 auch einen Strafbefehl für Lutz Bachmann, der die Rede online stellte – sondern zog auch Pirinçcis Kündigung durch seinen Verlag Random House Rückzug seiner Bücher aus dem Verlagsprogramm nach sich.
[6] Also übersetzt »stochastischer Terrorismus«, stochastisch bedeutet vom Zufall abhängig.
[7] Vgl. hierzu vor allem Mark S. Hamm / Ramón Spaaij: The Age of Lone Wolf Terrorism, New York 2017.
[8] In Bærum, Norwegen, versuchte am 10. August 2019 ein junger Norweger ein Massaker in einer Moschee durchzuführen, wurde aber durch einen Gläubigen vor Ort gestoppt. In der Presse hieß es »Keine Toten oder Schwerverletzten«, jedoch hat der Täter vor seinem Besuch in der Moschee seine adoptierte Stiefschwester Johanne Zhangjia Ihle-Hansen aus mutmaßlich rassistischen Motiven ermordet. In Dayton, USA, erschoss ein 24-jähriger Weißer am 4. August 2019 neun Menschen, darunter seinen trans Bruder. Am Vortag hatte ein 21-Jähriger in einem Walmart-Supermarkt in El Paso, Texas, 22 Menschen erschossen und weitere 24 schwer verletzt. Sowohl dieser Täter als auch jener in Bærum bezogen sich auf das Christchurch-Attentat.
Dieser Text erschien zuerst im monitor 86 im Oktober 2019.