Der Journalist Ulrich Chaussy recherchiert seit Jahrzehnten zum Oktoberfestattentat. Seine Recherchen und sein Film „Der blinde Fleck“ haben zur Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen mutmaßliche Unterstützer und Mittäter aus der Wehrsportgruppe Hoffmann in 2014 beigetragen. Mitte Mai 2020 führten Caro Keller (NSU-Watch) und Heike Kleffner (VBRG e.V.) im Rahmen der Podcastreihe „Vor Ort. Gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt“ ein Interview mit Ulrich Chaussy. Ein paar Wochen nach dem Interview, Anfang Juli 2020, bestätigte die Bundesanwaltschaft, dass es sich beim Oktoberfestattentat um einen „rechtsextremistischen Terrorakt“ handele und stellte die Ermittlungen erneut ein. Teile des Interviews haben wir anlässlich des 40. Jahrestages des Oktoberfestattentats verschriftlicht.
Wenn Sie zurückschauen auf die vergangenen vier Jahrzehnte, welche Momente in ihrer Recherche und Berichterstattung zum Oktoberfestattentat sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Die Recherche begann für mich ein paar Monate, nachdem die ersten Ermittlungen im November 1982 abgeschlossen wurden und der Anwalt der Opfer, Werner Dietrich, ein erstes Mal die Presse informierte, dass er in den vorhandenen Ermittlungsakten ganz andere Ansätze gefunden hatte, als die auf die Einzeltätertheorie zulaufenden. Da habe ich mich aufgemacht und bin zu Zeugen gegangen, die Abweichendes zu erzählen wussten. Das war schon deswegen sehr eindrucksvoll, weil die meisten Zeugen Angst hatten, überhaupt mit mir zu reden. Es war ja sozusagen behördlich festgestellt, dass das einer allein gewesen sei, und diese Zeuginnen und Zeugen mit ihren Beobachtungen hatten ja eine ganz andere Wahrnehmung. Und das war für sie erstmal beängstigend, dass sich da jemand bei ihnen meldet, sagt, er sei Journalist, und fragt, ob sie denn Näheres dazu mitteilen könnten, welche Personen sie mit dem mutmaßlichen Bombenleger gesehen haben und ob sie die wiedererkennen könnten. In der behördlichen Wahrnehmung der Ermittler haben die ja sozusagen keine Glaubwürdigkeit gehabt. Also waren sie vorsichtig und das Aufnehmen der Verbindungen zu ihnen war erstmal eine ganz empfindliche Geschichte.
Und im Laufe dieser Nachforschungen habe ich natürlich auch nach jenem Zeugen gesucht, der für die Behörden mindestens zwei bis drei Wochen lang der Zeuge schlechthin gewesen ist: der junge Homosexuelle Frank Lauterjung. Dem hatte der Gundolf Köhler gut gefallen und er wollte mit ihm Kontakt aufnehmen – mit dem ‚Wuschelkopf‘, wie er ihn nannte. Aber es gelang ihm nicht, ihn alleine zu sprechen zu bekommen, weil der zwanzig Minuten lang auf der anderen Seite des Einganges der Oktoberfestwiese, wo der Tatort dann war, mit zwei jungen Männern intensiv im Gespräch war. Lauterjung hatte den Eindruck, die streiten. Auf der Suche nach Frank Lauterjung muss ich feststellen, dass er noch vor dem Ende der ersten Ermittlungsphase im Sommer 1982 verstorben war, und dass das die Ermittlungsbehörden überhaupt nicht wahrgenommen hatten. (…)
Später, als ich die Ermittlungsakten habe einsehen können, ist mir auch begreiflich geworden, dass man diesen Zeugen einfach an einem bestimmten Punkt völlig fallen gelassen hat. Man hat ihn, der bis dahin immer freiwillig und langandauernd seine Aussagen gemacht hat, – Mitte November, glaube ich, nachdem man sich auf den Zeugen für die Einzeltätertheorie aus Donaueschingen geeinigt hatte – einbestellt. Und man hat ihm – der die Wahrnehmung hatte, dass Köhler da mit Leuten unterwegs war, mit denen er irgendwie eine Beziehung hatte – mit suggestiven Fragen quasi vermittelt, dass man nichts mehr auf seine Aussagen gibt, dass das alles eigentlich ein ganz zufälliges Treffen gewesen sei.
Daraufhin hat er große Angst entwickelt. Er war schon herzkrank und ist dann im Sommer 1982 an einem Herzleiden verstorben. Das ist für mich ein weiteres Opfer des Anschlages gewesen. Denn das war sehr mutig, dass ein schwuler Mann Anfang der Achtzigerjahre nach diesen Beobachtungen, die er macht, zur Polizei geht und sich denen anvertraut. Und dass er bei der Frage, warum er sich das alles so genau gemerkt hat, – denn das merkten ja die Vernehmer, dass der mit allen Beobachtungen (…) richtig gelegen hatte –, dann gesagt hat: ‚Ja, ich habe mir den halt genau betrachtet, weil ich mich als schwuler Mann für diesen jungen Mann interessiert habe.‘ Das war wirklich mutig. Und das ist dann sozusagen der Lohn gewesen, dass man ihn so behandelt hat.
Die Generalbundesanwaltschaft hat 2014 die Ermittlungen neu aufgenommen. Was wäre für die Ermittlungen fast 40 Jahre danach zentral gewesen?
Was wichtig gewesen wäre, das wäre die Überprüfung der alten Ermittlungen gewesen, denn wie konnte es passieren, dass wichtige Tatortasservate schon am Anfang dieser Ermittlung zum Verschwinden gebracht worden sind? Ich spreche namentlich von einer abgetrennten menschlichen Hand, die nicht sehr stark verbrannt war, fast schnittartig abgetrennt, ein Handteller mit ungefähr vier Fingern daran erhalten. Die wurde von einem Polizisten, der den Verkehr regelte, der die Krankenwägen einwies, zunächst entdeckt, indem er drauftrat. Dann ist sie von einem anderen Polizeikollegen gesichert worden. Die Hand wurde in der Einsatzzentrale des Einsatzes abgegeben.
Dieses Handfragment ist verschwunden, vermutlich ein weiteres anderes, stark verbranntes Handfragment ebenfalls, das ist verschwunden im Laufe der Ermittlungen. Es ist sogar noch ins Gerichtsmedizinische Institut eingeschickt und analysiert worden und da gibt es eben noch so einen Aktenrest, aus dem nur hervorgeht, dass es eine Hand ist, die serologisch keinem Toten des Anschlages zugerechnet werden konnte, somit auch nicht Gundolf Köhler. Und die ist dann weg.
Da muss man drüber nachdenken und muss genauestens nachforschen, was da passiert ist in der damaligen Ermittlungsgruppe. In dem an sich sehr guten und gründlichen Ermittlungsauftrag von Generalbundesanwalt Harald Range ist jetzt aber der große Lapsus passiert, er hat nämlich diese erneuten Ermittlungen ab Dezember 2014 dem identischen Landeskriminalamt Bayern übertragen, die damals die „Soko Theresienwiese“ stellte. Meine Feststellung – und das stimmt mich ganz besonders skeptisch – ist es, dass die Aussagen jener Zeuginnen und Zeugen, die ich „beigesteuert“ habe, auf eine Art und Weise behandelt wurden, die mich zu der Annahme verleiten muss, dass man ihnen grundsätzliche keinen Glauben schenkt. Also besagter Polizist, der das Handfragment sicherte, wurde am Ende der Vernehmung beiseite genommen und es wurde ihm bedeutet, dass er Schauermärchen erzählen wolle und ob er damals seiner Frau habe imponieren wollen, indem er solche Geschichten erzähle. Das ist finde ich ungeheuerlich.
Oder der Sprengstoffexperte des BKA, der damals vom bayrischen Landeskriminalamt zu Rate gezogen worden ist und mit dem längst verstorbenen Sprengstoffexperten des Landeskriminalamts die Aufgabe hatte, die verwendete Bombe zu analysieren, ihren Aufbau genau nachzuvollziehen. Dessen Aussagen sind nochmal besonders wichtig, weil sie klar machen, dass diese Hand, die da verschwunden ist, auf keinen Fall zu Gundolf Köhler gehört haben kann, da der Sprengstoffexperte den klaren Beweis erbringt, dass diese Hand nicht erhalten geblieben sein kann. Der hatte die Bombe im Augenblick der Detonation in beiden Händen, das zeigt auch ganz klar die Obduktion. Dem Sprengstoffexperten ist eben auch klar gemacht worden, mit dem Journalisten Chaussy solle er nicht mehr reden und es wurde gefragt, was ich ihm gezahlt hätte dafür, dass er diese Aussage gemacht habe.
Das sind Vorgänge, die solche Vorbehalte bei der Ermittlungsgruppe an dem Punkt zeigen, an dem es darum gegangen wäre, mal nachzuvollziehen, was denn eigentlich da ihre Kollegen in den 80er Jahren gemacht haben. Da kann ich leider keinerlei Vertrauen hinein setzen. Es ist mir auch bei dem Interview mit dem ersten Leiter der Ermittlungsgruppe, Kriminaldirektor Mario Huber, mitgeteilt worden, dass es nicht um Vergangenheitsbewältigung gehe – so der Begriff den er auch verwendet hat – sondern darum, dass man mögliche Mittäter von Gundolf Köhler ermittelt und zur Verantwortung ziehen könne. Nur: Diese Vergangenheitsbewältigung, das hab ich auch der Bundesanwaltschaft mitgeteilt, ist für mich der einzige noch mögliche Schlüssel zur Aufklärung der Tat. Denn wenn derartige systematische Vertuschungen stattfinden, wie die Vernichtung sämtlicher DNA-haltiger und somit heute sehr aussagekräftiger Tatortasservate. Da sind auch noch die ungefähr 40 Zigarettenkippen aus Köhlers Auto zu nennen, mit sehr verschiedenen Speichelanhaftungen, das wären heute alles eineindeutige Personenspuren, die sind ja auch vernichtet worden. Und zwar von der Münchener Ermittlungsgruppe. (…) Die Bundesanwaltschaft hat diese DNA-haltigen Tatortasservate nie bekommen, denn die sind schon im Mai 1981 nicht dabei gewesen bei der Übermittelung der 501 wichtigsten Tatortasservate. (…)
Also es sind so grundstürzende Dinge passiert in dieser ersten Ermittlungsgruppe, dass für mich der Schlüssel darin liegt, zu überprüfen, warum war das der Fall, wer hat das veranlasst, wer hat das zu verantworten. Dann hat man möglicherweise auch einen Zugang dazu, was für ein Interesse dahintersteckte. Denn das ist für mich völlig unklar, wie ein so systematisches Scheitern der Ermittlungen auf dieser Ebene in Kauf genommen worden ist.
Ein Teil der Akten, die der Generalbundesanwalt sichten wollte, sind der Aktenbestand von Geheimdienste zur Wehrsportgruppe Hoffmann, was ist daraus geworden?
Das kann ich im Einzelnen eben überhaupt nicht schildern, weil ich darauf null Zugriff habe, inwiefern von diesem Teil des Ermittlungsauftrags Gebrauch gemacht worden ist. Mir scheint das relativ sparsam überhaupt geschehen zu sein. Aber um auf die geheimdienstliche Dimension, von der ich weiß, zu sprechen zu kommen: Wir haben ja die Situation gehabt im September 1980, dass der Anschlag neun Tage vor der Bundestagswahl stattfand. Der amtierende Kanzler Helmut Schmidt mit seiner sozialliberalen Koalition und dem liberalen Innenminister Gerhart Baum, war herausgefordert vom Kanzlerkandidaten der Union, dem bayrischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß. Strauß schien zu spüren, dass seine Chancen kurz vor knapp nicht allzu gut standen und glaubte am Abend des Anschlags in München, dass er das Geschehen auf der Theresienwiese zu seinem Nutzen im Wahlkampf instrumentalisieren könne. Er ist am Abend nach einer Wahlkampfveranstaltung in Norddeutschland nach München zurückgekommen und am Tatort erschienen. Da hat er den FDP-Innenminister Gerhart Baum beschuldigt, er trage moralische Schuld an diesem Anschlagsgeschehen. Strauß hatte keine Ahnung von irgendetwas, wie kein anderer auch.
Aber er meinte, der Gerhart Baum mit seinem Bürgerrechtsgerede und seiner kritischen Position gegenüber den Ermittlungsbehörden und Geheimdiensten habe diese paralysiert, so dass sie sich nicht getraut hätten, im Vorfeld extremistischer Gruppierungen und im Vorfeld einer sich so abzeichnenden Tat, ihren Job zu machen. Deswegen hätte man also vorher keinerlei Warnung bekommen und insofern habe Gerhart Baum da Schuld auf sich geladen.
Zwölf Stunden später ungefähr zieht der bayrische Staatsschutzchef und Aufseher des bayrischen Landesamts für Verfassungsschutz im Innenministerium, Dr. Hans Langemann, aus dem NADIS-Computer der Verfassungsschutzämter Hinweise auf diesen wahrscheinlich mit der Tat verbundenen toten Mann am Tatort, Gundolf Köhler. Das waren Hinweise vom baden-württembergischen Landesamt für Verfassungsschutz und vom MAD. Aus denen ging hervor, dass Gundolf Köhler Kontakt zur Wehrsportgruppe Hoffmann hatte, dass er an mindestens zwei Übungen von ihnen teilgenommen und dass er Korrespondenz mit Hoffmann geführt habe. Da ging es unter anderem darum, das Gundolf Köhler anfragte, ob er ein Untergruppe der Wehrsportgruppe Hoffmann in Donaueschingen eröffnen könne. Diese Hinweise brachten den Langemann dann erstmal dazu, den Generalbundesanwalt zu verständigen, der erst in diesem Augenblick das Verfahren an sich zog, weil damit der Verdacht des politischen Terrorismus begründet war. Keiner dieser Hinweise kam vom bayrischen Landesamt. Das heißt, Langemann wusste in dieser Situation nicht, was denn die V-Leute, die natürlich das bayrische Landesamt für Verfassungsschutz unbedingt gehabt haben muss in dieser Gruppe, was die denn eigentlich gemacht haben. Haben die nichts gesehen, nichts gehört? Haben die was gesehen und gehört, aber nichts vermeldet? Waren sie womöglich in dieses Geschehen in irgendeiner Art und Weise involviert oder war einfach wirklich nichts?
Neun Tage vor der Wahl und mit der Beschuldigung von Strauß gegen Herrn Baum, er sei Schuld an diesem Anschlag oder habe Mitschuld auf sich geladen und dann kommt heraus, dass Strauß den Mann beschuldigt, der im Januar, acht Monate vor dem Anschlag, die Wehrsportgruppe Hoffmann verboten hat. Diese wurde im Freistaat Bayern von Strauß sechs Jahre lang völlig verharmlost und gedulded. Alle Ansätze der Oppostion, im Landtag nachzufragen, ob das nicht gefährlich sei, eine bewaffnete Miliz – die Bürgerkriegstaktiken übt, die dauernd anwächst auf bis zu 400 Mitglieder – da im Wald herumspringen zu lassen, wurden von Strauß und auch von den Innenministern der CSU in diesen Jahren abgetan. Das stärkste, das groteskeste Statement schlechthin, war zwei Monate nach dem Verbot durch Bundesinnenminister Baum im März 1980, sinngemäß: Wenn ein Mann im Kampfanzug mit geschlossener Koppel und dem Rucksack im Wald herumspringen möchte, dann soll man ihn doch gewähren lassen und nicht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Spinner richten.
Das drohte natürlich dem Strauß unglaublich auf die Füße zu fallen. Staatsschutzchef Langemann – der übrigens wahrscheinlich diese Auffassung teilte, oder vielleicht auch mit dafür verantwortlich war, dass sie sich innerhalb der Staatsregierung die ganze Zeit auch so halten konnte – hat in dem Augenblick entschieden, die vom Generalbundesanwalt Rebmann verhängte Nachrichtensperre zu brechen. Langemann hat sofort von ihm angefütterte Journalisten, mit denen er über Jahre hinweg gute Kontakte unterhielt, verständigt und ihnen die Identität von Köhler genannt und wo er herkam. Die sind sofort nach Donaueschingen gefahren und haben dort die gesamte Szene aufgerollt. Am Spätnachmittag, frühen Abend, geben dann diese Journalisten von Quick und Bild am Sonntag den Namen von Gundolf Köhler an die dpa und es ist auch verbürgt, dass der Generalbundesanwalt einen Tobsuchtsanfall bekommen haben soll, weil auf diese Art und Weise der Überraschungsvorteil der Ermittler verspielt war, die ganz generell im Umfeld von Köhler Stunden bis Tage bis Wochen später anlangten. Damit war jede Möglichkeit der Vertuschung, der Absprache von Aussagen gegeben. (…) Das ist nicht irgendwie ein profilsüchtiger Geheimdienstler gewesen, der sich auf diese Art und Weise wichtig machen wollte. Er wusste genau was er tat. (…) Um den politischen Schaden für seinen Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß ein wenig zu beschränken. Das ist natürlich eine Dimension, der man sich in der Aufklärung unbedingt hätte zuwenden müssen. Aber da scheint es offenbar keine Neigung zu geben, diese Art von Vergangenheitsbewältigung voranzutreiben.
Welche Parallelen sehen Sie zum NSU-Komplex und zu aktuellen Fällen, was hat sich geändert?
Die Art von Betrachtung von Tatbeteiligten muss sich wirklich dringend ändern. Es ist vollkommen klar, dass die Art und Weise, wie problematische Aspekte der Persönlichkeit von Gundolf Köhler benutzt worden sind, um aus einer Tat eines jahrelang in die rechtsextremistische Szene verstrickten jungen Mannes die Tat eines Einzelgängers zu machen, der vom Leben frustriert ist und der dann beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen in Form eines gigantischen Selbstmordattentates. Dieses Psychogramm eines Verzweifelten, was da geschaffen worden ist, ist so abstrus und so einseitig, es hat immer nur dazu gedient, die andere Seite dieser Persönlichkeit auszublenden und der genaueren Nachforschung zu entziehen. Es ist so, dass dieses Psychogramm keiner vernünftigen Überprüfung hat standhalten können. Im Grunde genommen geht es auf einen einzigen engen Bekannten aus Köhlers Freundeskreis zurück und steht im Widerspruch zu allen anderen Bekundungen über die Persönlichkeit Köhlers. (…)
Diese Art der Psychologisierung und Psychiatrisierung von Einzeltätern, das ist eine Geschichte, der kann man nur großes Misstrauen entgegenbringen und da ist mittlerweile meine Beobachtung, dass läuft heute nicht mehr so. Wenn heute Ermittlungsbehörden mit solchen Befunden daher kommen, die auf diese Art und Weise zusammengetragen worden sind wie bei Gundolf Köhler, dann gibt es mittlerweile doch kritischen Gegenwind. Ob er jeweils zu dem Erfolg führt, dass man die Einbindung in Netzwerke von Rechtsextremen wirklich gescheit aufarbeitet und aufklärt, muss man ja bezweifeln, nachdem dann der NSU nicht aus einem Einzeltäter bestanden haben soll, sondern eben aus einem Trio und drumherum gibt’s nix. Aber das ist so ein Rückzugsgefecht, da bin ich an dem Punkt optimistisch, weil einfach zur Zeit, seit dem NSU ein ganz anderes Bewusstsein, mindestens in der kritischen Öffentlichkeit herrscht. Da ist der Job von Ermittlungsbehörden, sobald sie noch diese Tendenz verfolgen, doch deutlich schwieriger geworden, weil die kritische Öffentlichkeit, wie ich meine, mittlerweile fast eine kritische Masse geworden ist. Das ist noch nicht genug, aber es ist auf einem guten Weg, finde ich.
Der 40. Jahrestag steht bevor im September. Aus der Erfahrung aus den vielen Interviews, die Sie mit Angehörigen der Ermordeten, mit den Verletzten geführt haben: Wie wichtig ist dieses öffentliche Erinnern und Gedenken?
Was die Situation der Opfer angeht, da muss man sagen, ist das Oktoberfestattentat wirklich ein ausgesprochen trauriges Kapitel. Denn etwas Vergleichbares wie im NSU-Prozess, die Aufmerksamkeit durch die kritische Öffentlichkeit, durch die ganzen hervorragenden Kolleginnen und Kollegen, die da als Nebenklägeranwälte im NSU-Prozess sich der Familien angenommen haben, hat es einfach nicht gegeben beim Oktoberfestattentat. Als die Opfer des Anschlages und die Familien und die Verletzten dringendst Hilfe gebraucht hätten, in den Jahren nach dem Anschlag, hat sich niemand für sie interessiert. Der einzige Mensch, der das getan hat und dem überhaupt zu verdanken ist, dass es zu dieser Wiederaufnahme gekommen ist, ist der Rechtsanwalt Werner Dietrich. Denn als im November 1982 die Ermittlungen geschlossen wurden, hat es nicht den mindesten Aufschrei in dieser Stadt München hier gegeben, die ja am stärksten, auch was die Betroffenheit durch Tote und Verletzte angeht, getroffen war. Der Stadtrat, der Oberbürgermeister, die haben das alles irgendwie zur Kenntnis genommen und ad acta gelegt. Und die Landesregierung schon gar. Da hat sich niemand drum gekümmert, außer Organisationen wie der Weiße Ring. Jetzt vor einigen Jahren hat die Arbeit von der Fachstelle für Demokratie, Kulturreferat, Before angefangen, hat die Landeshauptstadt also sozusagen sich des Schicksals der Opfer angenommen. Da werden nicht wenige gesagt haben: ‚Das fällt euch aber früh ein‘! Also es ist ein ganz, ganz trauriges Kapitel.
Letztes Jahr habe ich ganz bewegende Worte gehört von einigen der Überlebenden, die bei der Gedenkfeier waren, wo ich letztes Jahr die Rede gehalten habe, dass sie es schon sehr schätzen und zu schätzen wissen, dass jetzt endlich an ihre Schicksale erinnert wird. Aber, halten zu Gnaden, ihr Leid begleitet hat niemanden von uns. Und das ist der Punkt: Nur weil man irgendwie ordentlich Erinnerungsarbeit macht, braucht man sich nicht einzubilden, sich gut fühlen zu können in der Beziehung. Das ist etwas sehr Heftiges. Ich bin mal gespannt, was die neue Installation der Künstlerin Monika Müller-Rieger, die nun gegenüber dem Mahnmal für den Bombenanschlag errichtet werden wird, da leisten kann, um das Gedächtnis der Stadt ein bisschen wacher zu gestalten, als das bisher der Fall war. Denn da haben wir einfach uns beschämend wenig darum gekümmert.
Der Podcast „NSU-Watch: Aufklären & Einmischen #47 – Vor Ort mit Renate Martinez, Ulrich Chaussy und BEFORE. Gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt in Bayern. Schwerpunkt: Das Oktoberfestattentat.“ zum Nachhören: