In der Reihe „Blickpunkt Hessen“ veröffentlichen wir Texte, die nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, dem Mordversuch in Wächtersbach und dem rassistischen Anschlag von Hanau das Bundesland in den Blick nimmt, in dem Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Wir fragen: Was macht Hessen als eines der Schwerpunktländer von deutschem Rechtsterrorismus aus? Welche Neonazinetzwerke gibt es? Welche Verantwortung tragen die Behörden?
Reihe “Blickpunkt Hessen” V: Schützenverein statt Untergrund –
Wäre der NSU-Komplex wirklich aufgeklärt worden, könnte Walter Lübcke noch leben
von Caro Keller (NSU-Watch)
Seit dem 16. Juni läuft vor dem Oberlandesgericht Frankfurt (Main) der Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann. Ernst ist der Hauptangeklagte im Mordfall Walter Lübcke, Hartmann ist momentan wegen »psychischer Beihilfe« angeklagt. Ernst sitzt außerdem wegen eines mutmaßlich rassistischen Mordanschlags auf einen Geflüchteten, Ahmed I., auf der Anklagebank. Die ersten Wochen vergingen mit unterschiedlichen Geständnissen des Hauptangeklagten, die als Video gezeigt sowie im Gericht abgelegt wurden, sowie ersten Vernehmungen von Zeug*innen. Wenig Aufmerksamkeit liegt bislang auf den Betroffenen, der Kontinuität rechter Gewalt in Hessen und auf dem Netzwerk, das letztlich den Mord an Walter Lübcke erst ermöglichte. Gleichzeitig verschaffen sich die Nebenklagen der Familie Lübcke und von Ahmed I. Gehör und zeigen sich überzeugt von der Schuld der Angeklagten.
Um den bisherigen Verlauf des Prozesses zum Mord an Walter Lübcke und zum rassistischen Angriff auf Ahmed I. bewerten zu können, lohnt ein Blick auf den NSU-Komplex. Dieser war geprägt von rassistischen Ermittlungen gegen die Betroffenen, Verantwortung des Verfassungsschutzes, nicht-existenten Ermittlungen zu einem rassistischen Motiv und gesellschaftlichem Wegschauen – vor der Selbstenttarnung des NSU. Was von politischer Seite folgte, waren große, einfühlsame Worte, die von Veränderung, Aufklärung und »Nie wieder« sprachen. Im Anschluss daran wurde das Neonazi-Netzwerk, das für die Verbrechen verantwortlich war, nur bruchstückhaft aufgedeckt, die Verantwortung des Verfassungsschutzes nur oberflächlich und gegen dessen Widerstand beleuchtet und die Mehrheitsgesellschaft zeigte sich weiterhin mäßig interessiert.
Die Fortsetzung des NSU-Komplexes
Der Mord an Walter Lübcke am 1. Juni 2019 wurde aus dem gleichen rechten Milieu in Kassel und Hessen begangen, das wohl auch schon beim Mord an Halit Yozgat half und das stets zur Unterstützung rechtsterroristischer Taten bereit ist. Das zeigt sich unter anderem daran, dass der Name Markus Hartmann schon im Zusammenhang mit dem Mord in Kassel 2006 in den Akten auftaucht und der Name von Stephan Ernst den Abgeordneten des NSU-Untersuchungsausschusses in Hessen schon auffiel, bevor er im Zusammenhang mit dem Mord an Lübcke 2019 einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Zugespitzt muss festgestellt werden: Wäre der NSU-Komplex lückenlos aufgeklärt worden, könnte Walter Lübcke noch leben. Sein Mord hingegen steht in der Kontinuität rechten Terrors, die den NSU fortsetzt. Der Prozess in Frankfurt müsste daher vor allem eines zeigen: dass sich etwas geändert hat im Umgang mit rechtem Terror und den Ermittlungen dazu. Das wäre notwendig, wenn man die nach dem Mord erneut gesprochenen Worte von Aufklärung ernst nimmt und insbesondere, wenn man die Kontinuität rechten Terrors stoppen möchte.
Doch davon, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, ist der Prozess weit entfernt. Die Gründe dafür sind in der Vorarbeit zum Prozess zu finden, also in den polizeilichen Ermittlungen, der Anklageerhebung der Bundesanwaltschaft und dem Mauern des Verfassungsschutzes. Nach der Festnahme von Stephan Ernst wurde die rechte Szene in Hessen und bundesweit trotz Durchsuchungen bei Neonazis und dem Verbot von Combat 18 nicht ausreichend unter Druck gesetzt. Notwendig gewesen wäre beispielsweise die Durchleuchtung und Entwaffnung aller Personen, die schon nach wenigen Tagen als das Neonazi-Umfeld von Ernst benannt wurden. Warum auch mit dem Mord eines CDU-Politikers ein solcher Punkt nicht erreicht wurde, dürfte unter anderem an einer Verstrickung des Verfassungsschutzes mit genau dieser Szene in Kassel und Umgebung liegen. Noch immer wiegt Quellenschutz wohl höher als Menschenleben.
Weit entfernt von vollständiger Aufklärung
Stephan Ernst selbst verkörpert eine Kontinuität des rechten Terrors seit Ende der 1980er Jahre, als er einen rassistischen Brandanschlag verübte. Dies setzte sich fort mit einem rassistischen Mordversuch und einem versuchten Sprengstoffanschlag Anfang der 1990er Jahre. Schon damals korrespondierten seine Angriffe mit gesellschaftlichen rechten Mobilisierungen. Sein Weg führte über die NPD in die Kameradschaftsszene von Kassel. Aus dieser Zeit stammen viele der heute bekannten Fotos von Ernst auf Neonazi-Demonstrationen. Nach 2009 zog er sich aus der Neonazi-Szene zurück, seine extrem rechte Ideologie behielt er bei. Zeugenaussagen beim Prozess in Frankfurt geben einen Einblick in seine Normalität. Spätestens ab 2013 ersetzten der Pausenraum seiner Firma und der Schützenverein die Kameradschaftsabende. Offen konnte Ernst in seiner Firma für seine Lieblingszeitschriften Junge Freiheit und Compact werben, die inzwischen Holger M., einer seiner Kollegen, dorthin mitbringt. Zwei weiteren Kollegen soll Ernst Waffen verkauft haben, weil sie laut seiner Aussage seine Ideologie und die Ansicht, »Deutsche« müssten sich zur »Selbstverteidigung« bewaffnen, teilten.
Hessische Normalität
Im Schützenverein konnten Ernst und Hartmann ungestört auf eine Zielscheibe mit dem Gesicht von Angela Merkel schießen. Gegen deren »Flüchtlingspolitik« waren hier schließlich alle, ist aus medialer Berichterstattung zu erfahren. Auch konkrete Absprachen zum Mord trafen Hartmann und er Ernst zufolge hier. Anschluss fanden sie auch bei der AfD, deren Stammtische und Demonstrationen sie besuchten. Ernst half sogar beim Plakatekleben für den Wahlkampf. Kurz gesagt: Auch ohne Neonazi-Szene blieben Ernst und Hartmann die Ermöglichungsstrukturen für rechten Terror erhalten. Täglich muss ihnen während der Tatplanung der Rücken gestärkt worden sein. Im Prozess scheint immer wieder eine erstaunliche Offenheit durch, mit der sie über den geplanten Mord kommuniziert haben müssen.
Kein Netzwerk, kein Trio, sondern Einzeltäter?
Trotzdem sitzen nur zwei Personen auf der Anklagebank, keine terroristische Vereinigung. Nach derzeitigem Stand der Beweisaufnahme und von Recherchen wäre eine größere Anklage problemlos möglich gewesen. Nur durch Intervention seines Verteidigers hielt Ernst beispielsweise den Neonazi Alexander Sch. aus der Tatvorbereitung heraus, dieser wird im Prozess nur als Zeuge vernommen. Und hier fällt der Blick erneut auf die Vorbereitung des Prozesses. Die Anklageschrift und die Ermittlungen machen deutlich: Die Behörden gaben sich mit dem ersten Geständnis von Stephan Ernst, das sie auch zur Tatwaffe führte, offenbar zufrieden. Er allein habe die Tat begangen, so sagte er kurz nach seiner Festnahme aus. Die vielen Stunden anderer Einlassungen, in denen Ernst den heute Mitangeklagten Markus Hartmann schwer belastete und viele weitere Namen nannte, wurden mit einer Bemerkung des Oberstaatsanwalts Killmer nach dem zweiten Geständnis im Januar 2020 vom Tisch gewischt: »Ich gehe von einem politischen Attentat aus, das sie alleine begangen haben.« Dies scheint bis heute die Linie der Bundesanwaltschaft zu sein, die auch den NSU für ein »isoliertes Trio« hält. Fraglich ist, inwiefern anderen Spuren, seien es die von Mitwisser*innen oder die von anderen Anschlägen, nach dem ersten Geständnis überhaupt nachgegangen wurde.
Und so wird die Aufklärung, wie im NSU-Prozess, an der Bereitschaft der Verfahrensbeteiligten liegen, den Blick über die Anklage hinaus zu öffnen. Die Tat an Ahmed I. leugnet Ernst bislang. Doch I.s Nebenklagevertreter Björn Elberling ist sich sicher: »Diese Tat wird ihm nachgewiesen werden.« Die Nebenklage der Familie Lübcke verfolgt zusätzlich das Interesse, dass der bislang im Prozess unterbeleuchteten Rolle des Mitangeklagten Markus Hartmann größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Sie gaben bekannt, dass sie Stephan Ernsts Angabe glauben, dass Hartmann am Tatort des Mordes an Walter Lübcke war. Noch lässt der Senat rund um den Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel nicht erkennen, wieviel Aufklärungsinteresse er wirklich hat. Klar ist hingegen jetzt schon: Bis ein Urteil erreicht ist, wird es noch Monate dauern.
Dieser Artikel erschien zuerst im September 2020 in der analyse & kritik 663