Zwei Monate nachdem der Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Mordversuch an Ahmed I. endete, beginnt am morgigen Mittwoch der Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages zum Mord an Walter Lübcke. Mit dem Urteil in Frankfurt wurde zwar der Hauptangeklagte Stephan Ernst für den Mord an Walter Lübcke verurteilt, aber die Tat wurde weder vollständig ausgeleuchtet, noch wurde der Angriff auf Ahmed I. anerkannt. Das skandalöse Urteil des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt will aus dem Mord an Walter Lübcke die Tat eines Einzeltäters machen. Diese Darstellung hat mit der Realität allerdings wenig zu tun. NSU-Watch: „Der Ausschuss muss jetzt leisten, was der Prozess versäumt hat. Es müssen die vergangenen 30 Jahre aufgearbeitet werden, in denen Stephan Ernst als Neonazi aktiv war. Die Neonaziszene in Kassel und Hessen muss ebenso zum Thema werden wie die Verantwortung der Behörden, vor allem des Verfassungsschutzes.“
Die Arbeit des Untersuchungsausschusses zum Mord an Walter Lübcke muss dabei an den hessischen NSU-Untersuchungsausschuss anknüpfen, der im 2018 endete. Zu einem Zeitpunkt, an dem der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke noch lebte, fand dieser Ausschuss den Namen seines späteren Mörders bereits in den Akten – mit dem Vermerk „brandgefährlich“ – und befragte eine Zeugin dazu. NSU-Watch: „Der Ausschuss muss die neonazistische Geschichte von Stephan Ernst lückenlos nachzeichnen. Die Erklärung der Behörden, Ernst sei seit 2009 ‚abgekühlt‘ und somit nicht mehr auf dem Schirm der Behörden gewesen, kann nicht stimmen. Noch 2010 wurde Ernst wegen eines Angriffs auf eine DGB-Kundgebung verurteilt. 2016 befragte die Polizei ihn nach dem Angriff auf Ahmed I. – eben weil sie wusste, dass er ein bekannter Neonazi ist. Hat der Verfassungsschutz nach dem Fund des NSU-Untersuchungsausschusses nicht einmal nachgesehen, was aus dem ‚brandgefährlichen‘ Neonazi geworden ist?“
Um den Mord an Walter Lübcke aufzuklären, wird der Untersuchungsausschuss den Blick weiter öffnen müssen, als es die Bundesanwaltschaft und der Senat am OLG Frankfurt bereit waren zu tun: „Welche Rolle spielte die Szene, aus der Ernst kommt, beim NSU-Mord an Halit Yozgat 2006? Können weitere Angriffe wie die Schüsse auf einen Bauwagenplatz 2001 endlich aufgeklärt werden? Diese Fragen zu beantworten ist auch deshalb wichtig, weil die Kasseler Szene nach wie vor gefährlich ist. Zudem ist die Gefahr rechten Terrors allgemein weiter sehr hoch, das haben neben dem Mord an Walter Lübcke auch der antisemitische und rassistische Anschlag von Halle und der rassistische Anschlag von Hanau gezeigt. Die Verantwortung, rechten Terror zu stoppen, muss endlich ernstgenommen werden. Aufklärung spielt dafür eine wichtige Rolle.“
Der Ausschuss kann mit einer entschlossenen und lückenlosen Aufklärung den Familien von Halit Yozgat und Walter Lübcke, Ahmed I. und anderen Betroffenen rechter Gewalt vielleicht ein Stück der Gerechtigkeit geben, die ihnen von Behörden und Justiz bislang versagt wurden. NSU-Watch: „Wenn Betroffene sprechen möchten, sollten sie die Gelegenheit dazu zu Beginn des Ausschusses bekommen und nicht erst am Ende. Ihre Perspektiven sollten die Abgeordneten in ihrer Arbeit leiten.“ Dazu würde aber auch gehören, dass Familie Lübcke und Ahmed I. unkompliziert den Ausschuss begleiten können, wenn sie das wollen. Dies verhindert allerdings die komplizierte Vergabe von nur wenigen Plätzen und eine fehlende Tonübertragung der Aufklärung in einen anderen Saal.
NSU-Watch beobachtet den Untersuchungsausschuss in Wiesbaden: „Wir wissen, dass wir uns, – entgegen aller Versprechen – auf staatliche Institutionen nicht verlassen können, wenn es darum geht, rechten Terror aufzuklären und zu verhindern. Daher werden wir die parlamentarische Untersuchung des Mordes an Walter Lübcke kritisch begleiten.“