Am 4. November 2011 enttarnte sich der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) selbst.
Am Anfang der Beschäftigung mit diesem Jahrestag darf nicht die Beschäftigung mit den Täter*innen stehen. Am Anfang der Beschäftigung mit diesem Jahrestag muss das Gedenken an die vom NSU Ermordeten stehen:
An Enver Şimşek, im Alter von 38 Jahren am 9. September 2000 an seinem Blumenstand in Nürnberg-Langwasser niedergeschossen, zwei Tage später im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzungen verstorben.
An Abdurrahim Özüdoğru, ermordet im Alter von 49 Jahren am 13. Juni 2001 in seiner Schneiderei in der Nürnberger Südstadt.
An Süleyman Taşköprü, ermordet im Alter von 31 Jahren am 27. Juni 2001 in seinem Geschäft in Hamburg-Bahrenfeld.
An Habil Kılıç, ermordet im Alter von 38 Jahren am 29. August 2001 in seinem Laden in München-Ramersdorf.
An Mehmet Turgut, ermordet im Alter von 25 Jahren am 25. Februar 2004 im Imbiss eines Freundes in Rostock-Toitenwinkel, in dem er aushalf.
An İsmail Yaşar, ermordet im Alter von 50 Jahren am 9. Juni 2005, in seinem Imbiss in der Nürnberger Südstadt.
An Theodoros Boulgarides, ermordet im Alter von 41 Jahren am 15. Juni 2005 in seinem Geschäft im Münchener Westend.
An Mehmet Kubaşık, ermordet im Alter von 39 Jahren am 4. April 2006 in seinem Kiosk in der Dortmunder Nordstadt.
An Halit Yozgat, ermordet im Alter von 21 Jahren am 6. April 2006 in seinem Internetcafé in Kassel.
An Michèle Kiesewetter, ermordet im Alter von 22 Jahren am 25. April 2007 in ihrem Streifenwagen auf der Theresienwiese in Heilbronn.
Am Anfang der Beschäftigung mit diesem Jahrestag müssen sich die Gedanken zudem auf die Überlebenden der Anschläge des NSU richten, die vielen Menschen, die beim Bombenanschlag auf die Gaststätte Sonnenschein in Nürnberg am 23. Juni 1999, beim Bombenanschlag in der Probsteigasse in Köln am 19. Juni 2001 und beim Bombenanschlag auf die Keupstraße in Köln am 9. Juni 2004 körperlich und seelisch verletzt wurden – dazu gehört auch das Gedenken an Atilla Özer, der am 23. September 2018 an den Spätfolgen des Anschlags in der Keupstraße verstarb. Die Gedanken müssen sich auch auf Martin A. richten, der beim Mordanschlag in Heilbronn lebensgefährlich verletzt wurde. Am Anfang der Beschäftigung mit diesem Jahrestag muss zudem auch die Erinnerung daran stehen, dass bei den mindestens 15 Raubüberfällen des NSU viele Menschen körperlich und seelisch verletzt wurden.
Wir wissen genug, um jetzt Konsequenzen zu ziehen!
Angehörige und Überlebende, Aktivist*innen und Antifaschist*innen, Journalist*innen und engagierte Abgeordnete: Sie alle haben sich über die vergangenen zehn Jahre viel Wissen über den NSU-Komplex erarbeitet, es dem Staat gegen dessen Widerwillen und Aufklärungsverweigerung abgerungen. Seit 2011 wissen wir mehr über Neonazinetzwerke und rechten Terror, über institutionellen Rassismus und die rassistische Ermittlungspraxis der Polizei. Wir wissen mehr über die Inlandsgeheimdienste und das V-Leute-System von Verfassungsschutz und Polizei. Wir können erahnen, wie viel Wissen die Behörden vor der Selbstenttarnung zum NSU hatten. Und wir wissen mehr über den gesellschaftlichen Rassismus, der den NSU erst ermöglicht hat.
Teile der Gesellschaft haben aus dem Wissen um den NSU-Komplex Konsequenzen gezogen, jetzt muss auch der Rest der Gesellschaft Konsequenzen ziehen: Lasst euch von offenen Fragen und fehlender Aufklärung nicht ohnmächtig machen! Hört den Betroffenen zu! Nehmt Rassismus und Antisemitismus ernst! Beendet die Straf- und Konsequenzlosigkeit für Nazis! Sorgt dafür, dass die Naziszene und rechte Netzwerke entwaffnet und zerschlagen werden!
10 Jahre Wissen um den NSU-Komplex heißt:
Angesichts offener Fragen und verschleppter Aufklärung nicht resignieren, sondern das vorhandene Wissen nutzen und solidarisch handeln.
Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes war von Anfang an von offenen Fragen, von verhinderter und verschleppter Aufklärung geprägt. Die von Angehörigen und Überlebenden eingeforderte und von der Politik versprochene lückenlose Aufklärung hat es nie gegeben. Auf die vielen warmen Worte folgten zu wenige Konsequenzen. Daher stehen wir bei vielen Fragen immer noch am gleichen Punkt wie vor 10 Jahren. Wertvolle Zeit wurde verschwendet, Politik und Behörden vermittelten den Eindruck, die Aufklärung des NSU-Komplexes sei etwas, das man schleifen lassen kann. So haben sie mit dazu beigetragen, dass weiterer Terror nicht verhindert wurde.
Die offenen Fragen und die verschleppte Aufklärung hinterlassen bei vielen Gefühle der Ohnmacht und Resignation: Was können wir noch tun, außer immer und immer wieder die versprochenen Antworten einzufordern? Viel mehr, als wir dachten, denn wir haben auch einiges gelernt. Zum Beispiel, dass wir die Geschichte rechten Terrors gemeinsam aufklären und ein würdiges Gedenken organisieren können, wenn wir solidarische Bündnisse bilden. Angehörige, Überlebende und Betroffene, Gedenkinitiativen und antifaschistische und antirassistische Gruppen haben in den letzten 10 Jahren einen Teil der Geschichte dieses Landes neu geschrieben. Sichtbar werden dabei Konjunkturen und Kontinuitäten rechten Terrors, aus denen wir lernen können, um rechten Terror zu stoppen.
Wir haben aus der Beschäftigung mit dem NSU-Komplex auch gelernt: Bei der Aufklärung rechter Taten können wir uns auf den Staat nicht verlassen. Die meisten Erkenntnisse zum NSU-Netzwerk gehen dabei nicht auf Ermittlungen der Behörden zurück, sondern auf Recherchen von Betroffenen, von Antifaschist*innen und Journalist*innen.
10 Jahre Wissen um den NSU-Komplex heißt:
Den Betroffenen zuhören und solidarische Bündnisse bilden.
Die Angehörigen der Opfer der rassistischen Mordserie des NSU und die Überlebenden der Sprengstoffanschläge wiesen früh auf einen möglichen rassistischen Hintergrund der Taten hin. Die Ermittlungsbehörden und die Presse erkannten sie dennoch nicht als das, was sie waren. Stattdessen gab es rassistische Ermittlungen gegen Angehörige und Überlebende und Berichterstattung voller Gerüchte und rassistischer Stereotype. Aber auch Antifaschist*innen nahmen die Taten nicht als rassistische Taten wahr, obwohl die NSU-Mitglieder immer auf dem Radar antifaschistischer Recherche geblieben waren. Auch die Ermittlungen gegen die Angehörigen und die Berichterstattung kritisierten sie nicht.
Die Erfahrungen aus dem NSU-Komplex zeigen: Die Perspektive der Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt muss endlich ernst genommen werden, sie muss im Vordergrund stehen. İbrahim Arslan, Aktivist und Überlebender der rassistischen Brandanschläge in Mölln am 23. November 1992, stellte fest: „Opfer und Überlebende sind die Hauptzeugen des Geschehenen, wir sind keine Statisten. Das muss immer und immer wieder erwähnt werden“.
Für uns gilt: Jeder Angriff, jeder Mord an potenziell von rechter Gewalt betroffenen Personen muss bis zum Beweis des Gegenteils auch als möglicher rechter Angriff gewertet werden. Seit der Selbstenttarnung des NSU werden Taten mit möglichem rassistischen Motiv von Seiten der Betroffenen, von Antifaschist*innen, aber auch aus der Zivilgesellschaft offensiver als solche benannt. Währenddessen verharmlosen die Behörden weiterhin zu oft.
Konsequenzen aus 10 Jahren Wissen um den NSU-Komplex sehen wir vor allem auf nicht-staatlicher Ebene: Angehörige von Ermordeten, Überlebende und Betroffene von rechtem Terror haben sich zusammengetan, haben Initiativen gegründet, sich mit antifaschistischen, antirassistischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen vernetzt, um auszuloten, ob es nicht auch anders geht. Gegen alle Widerstände kämpfen diese solidarischen Bündnisse um Aufklärung und für ein würdiges Gedenken.
10 Jahre Wissen um den NSU-Komplex heißt:
Rassistische Mobilisierungen und rechte Kampagnen ernst nehmen und früh genug stoppen.
Die Gefahr, die von rassistischen und rechten Mobilisierungen und Kampagnen ausgeht, muss endlich ernst genommen werden. Sie bieten Täter*innen die ideologische Rechtfertigung für rechten Terror. Der Täter von Halle, der Mörder von Walter Lübcke und Mitglieder des Nordkreuz-Netzwerks bezogen sich bei Aussagen zu ihren Motiven auf rechte Narrative rund um das Jahr 2015. Die Mitglieder des NSU-Kerntrios wiederum politisierten sich in der Zeit der rassistischen Pogrome und Anschläge Anfang der 1990er. Rechte Täter*innen sehen sich als Ausführende eines vermeintlichen Volkswillens. Spätestens seit der NSU-Selbstenttarnung ist die Bedeutung bekannt, die rassistische Mobilisierungen für die Entstehung von rechtem Terror haben – vor allem, wenn sie weit über die extreme Rechte hinaus wirken. Während der Münchener NSU-Prozess noch lief, erstarkten in Deutschland dennoch rechte Kräfte. Mit der erfolgreichen rassistischen Kampagne gegen die Aufnahme von Geflüchteten, die unter dem Namen „2015“ lief, nahm diese Mobilisierung noch an Fahrt auf, konnte eine Partei wie die AfD groß werden.
Um rechtem Terror zu verhindern, müssen wir ihm die gesellschaftliche Grundlage entziehen. Rechte Kampagnen und Bewegungen sind an ihren Inhalten erkennbar. Statt immer wieder von Neuem überrascht zu sein und zuerst einmal „mit Rechten reden“ zu wollen, muss ihnen frühzeitig entgegen getreten werden. Wir müssen Rassismus, Antisemitismus und rechte Ideologien bekämpfen, gemeinsam und auf allen Ebenen.
10 Jahre Wissen um den NSU-Komplex heißt:
Die Straf- und Konsequenzlosigkeit beenden.
Auf den ersten Blick scheint es so, als wären die Strafen im Münchener NSU-Prozess hart ausgefallen, immerhin hat die Hauptangeklagte die höchstmögliche Strafe bekommen. Doch das relativiert sich, wenn wir uns die anderen Angeklagten anschauen. Zumindest für zwei Angeklagte war das Urteil eher ein Grund zur Freude. Der eine wurde noch am gleichen Tag aus der U-Haft entlassen, der andere kurze Zeit später. Neonazis, die bei der Urteilsverkündung im Publikum saßen, klatschten denn auch Beifall. In München wurden lediglich fünf Personen angeklagt. Schon das zeigt: Das NSU-Netzwerk wurde nicht vollständig ausgeleuchtet. Ermittler*innen und Justiz halten im Wesentlichen am falschen Konstrukt vom weitgehend isolierten NSU-Trio fest. Die Bundesanwaltschaft ermittelt nach letztem Stand offiziell noch gegen weitere neun NSU-Unterstützer*innen und betreibt ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren. Vermutlich wird in diesen Verfahren jedoch nicht ernsthaft ermittelt und sie hätten daher wohl längst eingestellt werden müssen. Mittlerweile können die Verfahren als Feigenblatt der Behörden gelten: Man kann mit ihrer Hilfe so tun, als ermittele man weiter, als sei man auch selber an einer weiteren Aufklärung zum NSU interessiert.
Das Urteil im NSU-Prozess reiht sich ein in eine Kontinuität der Konsequenzlosigkeit für rechte Täter*innen in der Bundesrepublik. Viele rechte Täter*innen erfuhren weder auf juristischer, noch auf politischer oder gesellschaftlicher Ebene angemessene Konsequenzen. Stattdessen wurde ihnen häufig mit Verständnis begegnet. 1991 prügelte Michael See gemeinsam mit anderen Neonazis einen jungen Mann und dessen Vater aus sozialdarwinistischen Motiven ins Koma, der Vater starb 1997 an den Folgen der Tat. In einem entpolitisierten Verfahren verurteilte ein verständnisvoller Richter den Täter See zu dreieinhalb Jahren Haft, die dieser nicht zur Gänze absitzen musste. Das Schmerzensgeld an die Opfer zahlte See, der sich als Nazifunktionär auch im Umfeld des NSU bewegte, nicht – obwohl er als V-Mann „Tarif“ für Spitzeldienste Geld vom Bundesamt für Verfassungsschutz erhielt
Auch die Behörden erfuhren für ihr Handeln und Nicht-Handeln im NSU-Komplex kaum ernsthafte Konsequenzen. Institutioneller Rassismus in der Polizei wird immer noch nicht als drängendes Problem wahrgenommen, oft sogar geleugnet. Währenddessen werden in verschiedensten Polizeibehörden unterschiedlicher Bundesländer und in der Bundeswehr in beinahe wöchentlichem Rhythmus rechte Netzwerke enttarnt. Diese werden immer noch viel zu oft zu ‚Einzelfällen‘ verharmlost.
Mindestens 40 Informant*innen der Behörden, vor allem von verschiedenen Verfassungsschutzämtern, gab es in mittelbarer und unmittelbarer Nähe des NSU-Kerntrios. Kurz nach der Selbstenttarnung des NSU, als die Rolle der Inlandsgeheimdienste und ihres V-Leute-Systems im NSU-Komplex deutlich geworden war, wurde in weiten Teilen der Öffentlichkeit über eine Abschaffung des Verfassungsschutzes diskutiert. Heute stehen die Verfassungsschutzämter besser da als zuvor. Das V-Leute-System läuft – trotz weiterer Skandale – im Kern unverändert weiter. Als Konsequenz aus dem NSU-Komplex bleiben wir weiterhin bei der Forderung, dass der Verfassungsschutz abgeschafft werden muss.
10 Jahre Wissen um den NSU-Komplex heißt:
Naziszene und rechte Netzwerke entwaffnen und zerschlagen und das Morden stoppen.
Nazis und Rassist*innen besorgen sich – mal legal, mal illegal – Waffen. Sie üben das Schießen im Rahmen von Schützenvereinen oder Schießsportgruppen, bei Reisen zu Schießständen im europäischen Ausland oder einfach im Wald. Der Mörder von Walter Lübcke besaß mehrere illegale Waffen. Wegen seiner Vorstrafen hätte er wohl keine Erlaubnis bekommen, eine Schusswaffe zu besitzen. Trotzdem konnte er in einem Schützenverein legal mit scharfen Waffen schießen. Dort galt er als „Durchschnittsdeutscher“, dessen politische Ansichten nicht auffielen, weil damals ja jeder Kritik an der Flüchtlingspolitik gehabt habe.
Auch im unauffälligen Rahmen eines Schützenvereins können sich rechte Täter*innen das für ihre Taten notwendige Training besorgen. Und sie können sich hier die Bestätigung holen, im Sinne der vermeintlichen Mehrheit, als Ausführende eines angeblichen Volkswillens zu handeln. Ermöglichungsstrukturen für rechten Terror finden sich nicht nur in Neonazi-Organisationen oder rechten Chatgruppen, sie finden sich in der ganzen Gesellschaft und auch in politisch wenig auffälligen Settings. Die Verhinderung von rechtem Terror ist also eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Neonazis müssen entwaffnet werden, ihre Strukturen müssen aufgedeckt und zerschlagen werden. Die V-Leute-Praxis der Inlandsgeheimdienste hilft dabei nicht. Im Gegenteil: Die Geschichte des NSU zeigt besonderes eindrücklich, wie V-Leute, hier Tino Brandt, Strukturen der Naziszene erst aufbauen konnten, aus denen dann rechter Terror entstand. Neonazistische Strukturen und rechte Netzwerke werden in einiger Regelmäßigkeit nicht von Polizei oder Verfassungsschutz aufgedeckt, sondern von antifaschistischer Recherche.
Unter den Bedingungen der weitverbreiteten extremismustheoretischen Gleichsetzung von Rechts und Links und einer insgesamt erstarkten Rechten wird antifaschistische Recherche jedoch zunehmend erschwert. Auch hier gilt also: Wenn es darum geht, rechten Terror zu bekämpfen und das Morden zu stoppen, können wir uns nicht auf den Staat verlassen. Bringt euch ein und unterstützt antifaschistische Recherchegruppen, Initiativen, Archive und Zeitschriften!
Mandy Boulgarides, Tochter von Theodoros Boulgarides: „Schlussendlich haben diese 10 Jahre auch einen Wandel in der Gesellschaft gezeigt. Ich blicke optimistisch auf ein Miteinander und Augenhöhe. Und eines kann ich mit absoluter Gewissheit sagen: Wir werden nicht aufhören zu fragen. Es wird endlich Zeit für klärende Antworten.“