Zeuginnenaussage von Martina Renner (MdB Die Linke) am 4. Prozesstag des NSU 2.0-Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt
Am 24. Februar 2022, am 4. Prozesstag im NSU 2.0-Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt, sagte Martina Renner (Bundestagsabgeordnete von die Linke) als Zeugin und Betroffene aus. In ihrer Aussage beschrieb Renner die hohe Frequenz, in der Drohschreiben sie zwischen den Jahren 2018 und 2021 erreichten und wie die ständige Beschäftigung damit ihre Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete und sie persönlich einschränkte. Es sei der Eindruck entstanden, als hätten sich verschiedene Drohserien einen „Staffelstab“ übergeben. So habe sie zunächst Mails von der „Nationalsozialistischen Offensive“ („NSO“) bekommen, dann, nach der Festnahme des mutmaßlichen Täters André M., weitere Mails diesmal vom „Staatsstreichorchester“ und anschließend vom „NSU 2.0″. Auch die tageszeitung „taz“ berichtet aktuell über Hinweise, dass der in Frankfurt vor Gericht stehende Alexander M. mit einem anderen Drohschreiber kooperiert haben könnte. Renner ging in ihrer Aussage ebenfalls darauf ein, dass die Behörden im Gegensatz zu ihr stets nur eine „abstrakte Bedrohung“ gegen sie gesehen haben, sie jedoch durch ihre Beschäftigung mit rechtem Terror wisse, dass auf Worte oft Taten folgen. Die Vermutung, der Verfasser könnte Kontakte zu Behörden haben, verstärkte das Unsicherheitsgefühl, da es ja auch Behörden sind, die sie als Mitglied des Bundestages um ihren Schutz bittet.
Wir dokumentieren im Folgenden die zentralen Punkte der Aussage von Martina Renner vor dem Landgericht Frankfurt.
Der Prozesstag begann damit, dass die Vorsitzende Richterin die Drohschreiben, welche an Martina Renner gesendet wurden, chronologisch durchging, beginnend Anfang Juli 2020. Schnell wurde dabei deutlich, dass die dem Gericht vorliegende Liste mit Drohschreiben nicht vollständig zu sein schien. Frau Renner entgegnete auf die Verlesung der ersten Drohmail, dass es bereits eine andere Email und ein Fax an sie vor der Nachricht vom Juli 2020 gab, die sie in den Kontext des Absenders „NSU 2.0“ rücken würde. An anderer Stelle, als das Gericht Renner eine an sie gerichtete Drohung vorhielt, wurde deutlich, dass sie von der Drohung im Gegensatz zum Gericht nichts wusste: „Es stellt sich die Frage, warum ich nicht informiert werde darüber.“
Auf die Frage der Richterin hin, was sie bei den ersten Drohmails empfunden habe, beschrieb Martina Renner das Vorgehen beim Eingang ein solcher Drohung und inwieweit dies auch Arbeitsabläufe in ihrer Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete beeinträchtigte: „Viele dieser Drohungen kommen am Wochenende: Die Büroleiterin liest die Email am Montag, sie muss dann auch den Inhalt entgegennehmen. Das ist eine besondere Situation. Es gibt Morddrohung wie diese, andere Emails haben kinderpornographische Bezüge. In dem Fall war uns sofort klar, dass das ein strafbarer Inhalt ist. Dann unterrichten wir die Bundestagspolizei. Und das ist eine Besonderheit. Aus historischen Gründen hat im Bundestag allein die Bundestags-Polizei die Ermittlungskompetenz. Da wird dann ein Termin vereinbart, die gehen dann an den Rechner und sichern die Emails. Im zweiten Schritt informieren sie das LKA Berlin, weil das für uns Ansprechpartnerin in anderen Drohserien war. Die ‚BAO Triangel‘ des LKA Berlin ist dann in der Zuständigkeit und zuletzt wird die Email weitergeleitet an die BKA Sicherungsgruppe. Wir als Büro stellen dann noch einen Strafantrag. Jede Email führt zu einer Unterbrechung der Abläufe bei mir im Büro, ich muss ggf. ein Rede vorbereiten und stattdessen sind wir dann stundenlang mit solch einer Email befasst. Und zum zweiten gibt es die persönliche Wirkung. Das sind ja nicht einfach Beleidigungen, es sind zwei Botschaften: Man will mich umbringen, das kommt fast immer vor, und manchmal wird das ausgeschmückt, die Art und Weise der Ermordung.“
Auf die Frage hin, ob Frau Renner so etwas gewöhnt sei und ob es auch Situationen gebe, wo sie einmal keine Anzeige erstatten würde, antwortete Renner: „Ich bin das gar nicht gewöhnt, das sind Sachen wie: man wird gevierteilt, man wir im Blut ersaufen. Ich will Ihnen das ersparen. Das hat eine Wirkung bis dahin, dass man davon träumt. Aber es ist halt auch ein Eingriff in meine Abgeordnetentätigkeit. Mein Job ist ein anderer. Die Frequenz in der zwischen August 2018 bis zur Festnahme des Angeklagten Emails eingingen, war so, dass wir dauernd damit beschäftigt waren. Wir hatten eine Serie ‚Nationalsozialistische Offensive‘, ‚NSO‘ von André M.: 12 Mails. Dann vom sogenannten ‚Staatstreichorchester‘ 24 Mails und in dieser Serie (‚NSU 2.0‘) kommen wir auf 11 Mails und weitere noch von Trittbrettfahrern. Das war in diesen zwei Jahren massiv, jeden Monat 2 x mindestens. Ich ermuntere alle Betroffenen von rechter Gewalt Anzeige zu erstatten, da mache ich es natürlich auch. Wir achten aber darauf, dass persönliche Daten geschwärzt sind und versuchen, die Institution zu suchen, zu der wir das größte Vertrauen haben. In der Regel ist es das LKA Berlin, an das LKA Hessen habe ich mich ungerne gewandt. Sie kennen die Ermittlungen gegen das SEK in Hessen, die Datenweitergabe, den Verlust von Munition. Die Weitergabe der privaten Daten von Seda Başay-Yıldız.“
Besonders die enge Taktung der Drohschreiben und die genannten Hinweise auf möglicherweise mehrere, kooperierende Täter habe diese Drohmailserie besonders bedrohlich wirken lassen. Renner: „Es geht darum, dass die Mails in einem Takt ankamen, man will suggerieren, wir bleiben dran, wir haben Euch im Fokus. Durch die Mehrfachnennung der eigenen Person hat man hat das Gefühl, man steht ganz oben auf einer Todesliste. Allein vom sog. ‚Staatsstreichorchester‘ habe ich 24 Drohmails bekommen. Diese Serie endete mit der ersten mir zugegangenen Drohmail von ‚NSU 2.0‘. Das ist wie die Übergabe eines Staffelstabes. Und die endet tatsächlich mit der ersten für mich zurechenbaren Drohung von ‚NSU 2.0‘. Es gibt die Drohmailserie von André M., die endet mit dessen Festnahme, dann beginnt Staatsstreichorchester, das endet und ‚NSU 2.0‘ beginnt. Das, was die Täter hier ansprechen, dass sie Bezug haben zu einer anderen Drohmailserie, das löst das Gefühl aus, die Dinge hängen miteinander zusammen, es gibt mehrere Täter.“
Auf die Frage der Richterin, was Frau Renner weiteres zum Verfahren gegen André M. sagen könne, der für die Drohmailserie mit dem Kürzel „NSO – Nationalsozialistische Offensive“ verantwortlich gemacht wird, entgegnet Martina Renner: „Es war eine Email-Serie, die im August 2018 begann. Das war nicht wie hier mit demselben Emailabsender, aber die Emails hatten Bezug zueinander, die waren oft mit Namen und Begriffen verfasst, die einen Bezug zum Nationalsozialismus hatten: ‚Wehrmacht‘, ‚Heydrich‘, ‚Kaltenbrunner‘, die machten einen in sich geschlossenen Eindruck. Der Account war identisch, der Absender war anders, inhaltlich bauten sie aufeinander auf. Es war nicht ‚NSU 2.0‘, sondern ‚NSO‘. Aber im Nachgang, beim Durchblättern der Drohmailserie sah ich, dass im Text, im Betreff oder in der Nennung am Ende, auch das Kürzel ‚NSU 2.0‘ vorkam. Das ging los am 04. Dezember 2018 mit einer Email von ‚Wehrmacht Nuke Afrika‘, die hatte im Betreff ‚NSU 2.0 Förderung‘. Ich weiß nicht, ob zu dem Zeitpunkt schon bekannt war, dass Seda Başay-Yıldız ein Drohschreiben mit ‚NSU 2.0‘ bekommen hatte. Ich weiß nicht, ob André M. das zu dem Zeitpunkt kennen konnte. Dann kam zum Beispiel am 11. April 2019 ‚Eylusum‘. Dann geht die ‚Staatsstreichorchester‘-Serie los, die bezieht sich auf André M. Es gibt immer wieder Bezüge zu dieser Person. Es war Gegenstand der Beweisaufnahme, dass der Täter sich im sog. Darkweb auf einer Seite mit anderen Gleichgesinnten austauschte. Den Ermittlungsbehörden ist es aber nicht gelungen, die Personen, die da unter Pseudonym agieren, zu individualisieren. Man könnte sich die Akten natürlich mal mit dem Blick aus heutiger Sicht betrachten. Auf Sprache, auf IP-Adressen, auf Avatare? Es gab dort Kommunikation, das kann ich sagen.“
Durch eine weitere Drohmail vom 6. September 2020, die die Richterin im Laufe des Prozesstages vorhielt, wird erneut deutlich, dass von einer Kooperation der Täter und auch möglichen Kontakten zu Behörden, nicht nur in Hessen, sondern auch in Berlin, ausgegangen werden müsse: „An die E-Mail kann ich mich sehr gut erinnern, die war bemerkenswert. Unter den Adressaten war der Verteidiger von André M., Rechtsanwalt Penneke, und es wird auch die Gefangenenbuchnummer von André M. erwähnt. Ich habe meine Anwältin diesbezüglich gefragt. Das ist nichts was in der Zeitung steht oder was das Gericht veröffentlicht. Das hat eine Wirkung und den Verdacht genährt, dass die Täter nicht nur Zugänge zu der hessischen Polizei haben, wie es sich aus der Nennung der privaten Adressen von Seda Başay-Yıldız und Janine Wissler ergibt. Das ist die richtige Gefangenenbuchnummer, das hat den Verdacht geweckt, dass der Täter auch Kontakt zu Behörden in Berlin hat. Das wirkt verunsichernd, denn da hat jemand Informationen aus einer anderen Drohmailserie, wo ich Nebenklägerin bin. Ich weiß nicht, auf welchem Weg der Autor an die Gefangenenbuchnummer gekommen ist, aber es suggeriert Behördenkontakte. Das soll bewirken, dass man das Vertrauen in die Behörden verliert. Das macht das Ganze sehr gefährlich für die Betroffenen. Man soll niemanden vertrauen am Ende des Tages. Das heißt nicht, dass ich kein Vertrauen mehr habe, aber man soll das Vertrauen dadurch verlieren.“
Mit dem 27. Februar 2021 endete die Drohmailserie, wobei einige Fragen laut Martina Renner weiterhin ungeklärt seien: „Es gibt ja auch Sachverhalte mit Bezug zum ‚Staatsstreichorchester‘, die nicht aufgeklärt wurden. Es gibt einen Beschuldigten, dem nur eine Email zugerechnet werden kann, die er nach Groß-Britannien geschickt hat.“
Gleichzeitig seien die Mails der drei Drohserien nicht mit bisherigen Drohungen vergleichbar. Vor allem da diese immer Morddrohungen und einen Bezug zum Nationalsozialismus beinhalteten, was für sie als Sprecherin für antifaschistische Politik eine besonderen Bezug habe. Renner: „Ebenso die Bezugnahme der Drohschreiber untereinander, die auch den Effekt hat: Wir sollen wissen, die sind nicht alleine, sie sind viele und nicht zu stoppen. Und das unterscheidet diese Drohmailserie von anderen Drohschreiben, die oftmals aber auch nicht so viel Bezug zum Nationalsozialismus hatten.“
Und auch abseits der Abgeordnetentätigkeit zeigen laut Renner solche schwerwiegenden Drohungen ihre Wirkung: „Man macht sich natürlich Gedanken, wer sind die Täter, was haben die für einen Hintergrund, wie kommen die an die Informationen ran, sind die vielleicht auch dort, wo man privat ist oder seinen Dienstort hat? Das hat eine Wirkung, wenn man in das Thema Rechtsterror sehr tief eingearbeitet ist, dann weiß man, dass es nicht bei Worten bleibt, dass Drohungen Leute als Anschlagsziel markieren, das ist die Vorstufe von tatsächlichen Attentaten.“
Bezüglich der Frage seitens der Richterin, ob sie hinsichtlich der Drohungen Sicherheitsvorkehrungen getroffen habe, wird deutlich, dass die Einschätzung der Bedrohung sehr unterschiedlich war. Renner: „Privat ja, aber die zuständigen Behörden, das ist die Sicherungsgruppe des BKA, die zuständig für die Mitglieder des Bundestages ist, und die Landeskriminalämter, die sind zu dem Ergebnis gekommen, dass nur eine abstrakte und keine konkrete Gefährdung besteht und deshalb keine Sicherheitsmaßnahmen veranlasst sind. Das heißt nicht, dass ich mich nicht privat um Sicherheit gekümmert habe. Das habe ich gemacht. Die Einschätzung des BKA habe ich explizit nicht geteilt.“ Dass sich auch nach der Festnahme des Angeklagten Alexander M. und dem Auffinden einer Waffe bei ihm, an der behördlichen Gefährdungseinschätzung nichts geändert hat, verwundere sie: „Nein, auch nachdem bei der Festnahme des hier Angeklagten Waffen gefunden wurden, hat sich die Einschätzung nicht geändert. Es ist immer derselbe Textbaustein in deren Antworten. Da bekommt man Zweifel.“
Inwiefern die in den Drohmails enthaltene Suggestion, dass durch die Täter möglicherweise Kontakt zu Polizei und Sicherheitsbehörden bestehen könnte, gleich mehrfach problematisch und besorgniserregend sei, beschrieb Renner bezugnehmend auf ein Drohschreiben vom Juli 2020, welches neben ihr u.a. auch die stellvertretende Linke-Parteivorsitzende Wissler und Anne Helm, Fraktionsvorsitzende der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, enthielten: „Was mir wichtig ist an dieser und der vorherigen Mail: Ich werde ja zusammen mit Janine Wissler und Anne Helm genannt, und man merkt der Mail an, dass die nicht nur gegen Frauen gerichtet ist, sondern dass auch ein dezidierter Linken-Hass ist ein Motiv ist. Bemerkenswert ist zum Beispiel auch die Nennung der ‚BAO Winter‘ [Anm: Besondere Aufbauorganisation des LKA Hessen zu extrem rechten Polizisten in Hessen] suggeriert, dass Kontakte zu den Behörden vorhanden sind. Das hat eine besondere Wirkung, wenn eine Drohmailschreiber suggeriert, dass er Kontakte in die Behörden hat. Das sind die Behörden, die ich um Schutz bitte. Es soll die Wirkung haben: Man kann sich auf niemanden mehr verlassen. Und es ist ja tatsächlich so, dass das 2020 die allgemeine Diskussion über rechte Netzwerke in der Polizei verstärken kann. Und ich habe dargestellt, was alles passiert, wenn so eine Email kommt. Ich hole Institutionen an meinen Rechner von denen dann später in der Presse zu lesen ist, dass es auch dort rechte Strukturen gibt, das Beamte im LKA Berlin wegen rechter Aktivitäten aufgefallen sind. Das ist so eine Verschränkung von einer grundsätzlichen Verunsicherung. Und wenn dann noch der Täter darauf abstellt, er habe Polizeikontakt, das soll die psychologische Wirkung haben, dass man alleine ist.“
Auf Bitte der Richterin, zu konkretisieren, was sie über die Missstände bei der hessischen Polizei wisse, erklärte Martina Renner: „Rechtsextreme Chatgruppen, dann extrem rechte Chats beim SEK, was zu deren Auflösung geführt hat. Auch ist Munition weggekommen und bei Verdächtigen der extrem rechten Gruppe Nordkreuz in Mecklenburg-Vorpommern wiedergefunden worden. Es gab den Verdacht, dass es illegale Datenweitergabe gab. Dann gab es einen Beamten, der aus der Asservatenstelle Waffen rausgetragen hat, der wiederum mit einem Ermittlungskomplex in Verbindung steht, welcher durch den GBA geführt wird. Ich weiß nicht wo ich aufhören soll bei Hessen, wenn ich einmal anfange. Es geht ja nicht darum, dass jeder einzelne Beamte damit etwas zu tun hat, das würde ich nicht unterstellen. Aber die arbeiten doch zusammen, die bekommen etwas mit. Wenn ich dort meine Sachverhalte bekannt mache, meine Privatadresse angebe, kann ich nicht sicher sein, dass auf diese Daten zugegriffen werden kann angesichts der Dichte der Disziplinar- und Strafverfahren gegen Beamte bei der hessischen Polizei.“
Auch nach der Festnahme des mutmaßlichen Verfassers der „NSU 2.0“-Drohmailserie erhielt Martina Renner zeitgleich mit der damaligen hessischen SPD-Abgeordneten Nancy Faeser und jetzigen Bundesinnenministerin einen mit „NSU 2.0“ unterschriebenen Drohbrief: „Es gab einen Brief an mein Wahlkreisbüro in Erfurt. Mein dortiger Mitarbeiter hatte es beim Öffnen gemerkt, als weißes Pulver aus dem Brief rieselte. Nachdem wir die Polizei unterrichtet hatten, wurde die gesamte Ladengeschäftsstelle von die Linke Thüringen gesichert und geräumt. Der Brief wurde dann ebenfalls gesichert und das Pulver ausgewertet, was sich dann als harmlos herausstellte. Mein dortiger Mitarbeiter musste sich aus Sicherheitsgründen dennoch auf der Straße vor der Geschäftsstelle einer Dekontamination unterziehen. In dem Brief war dann ein Umschlag, der sich auf ‚NSU 2.0‘ bezogen hat. Dieser war wort- und baugleich und ebenfalls mit weißem Pulver und gleicher Briefmarke, an die heutige Bundesinnenministerin Nancy Faeser gegangen.“