In Folge #79 von „NSU-Watch: Aufklären & Einmischen. Der Podcast über den NSU-Komplex, rechten Terror und Rassismus“ blicken wir in Episode #27 der Podcastserie mit dem VBRG e.V. „Vor Ort – gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt“ nach Bayern, wo in diesen Tagen der zweite NSU-Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufnimmt.
Vor Ort in Bayern: Das vergessene NSU-Sprengstoffattentat in Nürnberg im Juni 1999 mit Mehmet O., Patrycja Kowalska, Beraterin bei B.U.D Bayern und Robert Andreasch, Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München München. Im Mittelpunkt der Folge #27 steht der bis heute weitgehend vergessene erste Sprengstoffanschlag des NSU-Netzwerks am 23. Juni 1999 auf Mehmet O. und die von ihm betriebene Pilsbar „Sonnenschein“ in der Scheuerlstraße in Nürnberg sowie die Aufklärungsarbeit des 2. NSU Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag. Im Gespräch mit dem Überlebenden Mehmet O., dessen Leben durch das Sprengstoffattentat auf die von ihm betriebene Pilsbar „Sonnenschein“ in Nürnberg bis heute beeinträchtigt ist, und in Interviews mit Patrycja Kowalska, Beraterin bei B.U.D Bayern sowie Robert Andreasch von a.i.d.a.-Archiv in München geht es um rassistische Täter-Opfer-Umkehr, verschleppte Ermittlungen und die mangelnde Strafverfolgung gegen Helfer*innen und Unterstützer*innen des NSU-Kerntrios in Nürnberg. Weitere Schwerpunkte sind die Erwartungen an den im Mai 2022 eingesetzten 2. NSU-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag und die Notwendigkeit solidarischer Öffentlichkeit angesichts der Forderungen der Überlebenden und Hinterbliebenen der NSU-Mord- und Anschlagsserie, der alleine in Bayern fünf Menschen zum Opfer fielen.
Institutioneller Rassismus in allen Ermittlungen nach NSU-Attentaten und Morden in Bayern
Das NSU-Sprengstoffattentat am 23. Juni 1999 in Nürnberg ist der bis heute erste bekannte rassistische Sprengstoffanschlag, den das NSU-Kerntrio mit Hilfe von neonazistischen Unterstützer*innen vor Ort nach seiner Flucht vor einer Polizeifestnahme im Januar 1998 und dem Beginn des Lebens in der Illegalität in Chemnitz und Zwickau verübte. Hätte die Nürnberger Polizei bei den Ermittlungen nach dem Rohrbombenattentat in der wenige Tage zuvor durch Mehmet O. eröffneten Pilsbar „Sonnenschein“, bei dem der damals 18-jährige Barbetreiber Mehmet O. schwer verletzt wurde, die Möglichkeit eines Neonazi-Attentats und Rassismus in Betracht gezogen, wären möglicherweise die rechtsterroristische NSU-Mord- und Anschlagsserie verhindert worden. Stattdessen waren die Ermittlungen von institutionellen Rassismus gegen Mehmet O. geprägt und wurden sieben Monate nach der Tat ergebnislos eingestellt. Erst im zweiten Jahr des NSU-Prozesses am Oberlandesgericht München wurde durch eine Aussage des mittlerweile rechtskräftig als NSU-Unterstützer verurteilten Carsten Schulze bekannt, dass das NSU-Netzwerk auch für die Rohrbombe verantwortlich war, die das Leben von Mehmet O. zerstörte und bis heute beeinträchtigt. Bis heute wurde jedoch niemand für das Rohrbombenattentat auf Mehmet O. strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.
NSU-Tatortstadt Nürnberg, verschleppte Aufklärung und der 2.NSU-Untersuchungsausschuss in Bayern
15 Monate nach dem Rohrbombenattentat auf Mehmet O. wird der damals 38-jährige Enver Şimşek am 9. September 2000 an seinem mobilen Blumenstand in Nürnberg-Langwasser durch acht Schüsse regelrecht hingerichtet; die Täter aus dem NSU-Netzwerk verwenden dabei zum ersten Mal auch eine Pistole der Marke Česká 83. Am 13. Juni 2001 stirbt Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg in der Änderungsschneiderei, die er neben seiner Arbeit als Metallfacharbeiter betreibt. Am 9. Juni 2005 wird der 50-jährige İsmail Yaşar, Inhaber eines beliebten Dönerimbisses am Scharrer in Nürnberg als sechstes Opfer der rassistischen Mordserie an seinem Arbeitsplatz ermordet.
Obwohl antifaschistische und journalistische Recherchen viele Informationen über das Netzwerk militanter Neonazis in Nürnberg öffentlich gemacht haben, die seit den frühen 1990er Jahren eng mit dem späteren NSU-Kerntrio und deren Unterstützer*innen aus Thüringen und Sachsen zusammenarbeiteten, fehlt es bis heute an strafrechtlichen Konsequenzen – und einer offiziellen Anerkennung von Mehmet O. als vergessenes Opfer der rassistischen NSU-Terrorserie.