„Meine Hoffnung in den Untersuchungsausschuss ist, dass hier dazu beigetragen werden kann, überzeugende Antworten zu bekommen.“ – 3. Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex (2. September 2022)

0

Mit den Aussagen dreier Betroffener des Neukölln-Komplexes startete der „1. Untersuchungsausschuss (‚Neukölln‘)“ des Abgeordnetenhauses am Freitag, 2. September, in die Zeug*innenvernehmungen. Der Ausschuss trat bei dieser Sitzung bereits zum dritten Mal zusammen, bei den vorherigen Sitzungen ging es jedoch um Formalia und Beweisbeschlüsse.

Mangelnde Öffentlichkeit

Teile der Sitzungen des UA, etwa Beweisanträge oder die Beratung des weiteren Verfahrens, sind nicht-öffentlich. Die Öffentlichkeit ist im Neukölln-UA allerdings auch bei den eigentlich öffentlichen Teilen nur in einem eingeschränkten Sinn hergestellt. Die Mitglieder des Ausschusses, ihre Referent*innen und die Zeug*innen sitzen in einem Saal im Abgeordnetenhaus. Presse und Besucher*innen können das Geschehen in einem anderen, größeren – mit mehreren großen Luftfiltergeräten ausgestatteten – Saal per Bild- und Tonübertragung verfolgen. Die Öffentlichkeit bekommt so immer nur einen Teil des Geschehens mit. Wenn eine Person spricht, dann zoomt die Kamera auf diese Person. Wie sich währenddessen die anderen Anwesenden verhalten, sieht die Öffentlichkeit zum Beispiel nicht.

Umgekehrt können die Ausschussmitglieder in ihrem Saal auch die interessierte Öffentlichkeit nicht wahrnehmen. Sie sitzen dort abgeschottet von der Öffentlichkeit, als gäbe es niemanden, der sich für ihre Arbeit interessiert oder diese kritisch begleitet. Und schließlich sind auch Zeug*innen, insbesondere Betroffene, bei ihren Aussagen mit dem Ausschuss alleine. Bei der 3. Sitzung hatten die drei Zeug*innen nicht einmal einen Beistand etwa durch eine*n Opferberater*in.

Grund für die fehlende Öffentlichkeit im Sitzungssaal ist eine allgemeine Bestimmung des Abgeordnetenhauses zum Schutz vor Corona. Dennoch kritisiert ein offener Brief von Initiativen und Betroffenen (den auch NSU-Watch unterschrieben hat) die Regelung: „Wir, die unterzeichnenden Betroffenen und Initiativen, fordern den Ausschuss und seine Mitglieder daher auf, die räumlichen Bedingungen herzustellen, die auch in anderen Bundesländern in ähnlichen Ausschüssen eingehalten werden können, damit die Öffentlichkeit pandemiekonform in einem Raum mit dem Ausschuss sitzen kann.“

Die Mitglieder des Ausschusses

Sämtliche Abgeordnetenhaus-Fraktionen haben Vertreter*innen im Ausschuss, die aber nicht alle bei den Sitzungen anwesend sind. Abgesehen von der SPD, die den Vorsitzenden stellt, hat bei der vergangenen Sitzung nur ein Ausschussmitglied pro Fraktion Fragen gestellt (im Folgenden fett markiert). Ausschussmitglieder für die SPD sind Florian Dörstelmann als Ausschussvorsitzender, Orkan Özdemir und Sevim Aydin, für die Grünen Vasili Franco und André Schulze (später vertreten durch Susanna Kahlefeld), für die CDU Stephan Standfuß und Scott Körber, für die Linkspartei Niklas Schrader und Anne Helm und für die FDP Stefan Förster. Kritik hatte es zuvor daran gegeben, dass das Abgeordnetenhaus auch einen Vertreter der AfD in den Ausschuss gewählt hat. Anders als in anderen Bundesländern werden in Berlin die Mitglieder eines Untersuchungsausschusses nicht einfach von den Fraktionen entsendet, sondern müssen alle vom Plenum des AGH mit Mehrheit in den Ausschuss gewählt werden. Die juristische Sicht des Ausschussvorsitzenden Dörstelmann und der Koalitionsfraktionen (SPD, Grüne, Linkspartei) war, dass der Ausschuss ohne einen AfD-Vertreter nicht rechtmäßig zusammengesetzt sei, so dass schließlich Antonin Brousek in den Ausschuss gewählt wurde.

Für Betroffene ist dieser Umstand schwer zu ertragen. Die erste Zeugin im Neukölln-UA, Claudia von Gélieu, stellte zu Beginn fest, es sei „unerträglich, dass ich hier als Zeugin den Vertretern einer Fraktion Auskunft geben soll, deren Partei in den Neukölln-Komplex verstrickt ist.“ Die Zeug*innen haben sich dennoch den Fragen des Ausschusses gestellt und sie haben eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig es ist auch bei der parlamentarischen Aufarbeitung von rechtem Terror zunächst den Betroffen zuzuhören, ihre Perspektive an den Anfang zu stellen.

Zeugin Claudia von Gélieu

Auf das Fahrzeug von Claudia von Gélieu wurde im Februar 2017 ein Brandanschlag verübt. Sie berichtet, dass laut der Einschätzung eines Sachverständigen ihrer Versicherung das Feuer auf das Wohngebäude hätte übergreifen können, wo sie und ihr Mann zum Tatzeitpunkt schliefen. Das Fahrzeug, so von Gélieu, habe nur knapp einen Meter vom Haus entfernt gestanden, es habe eine „enorme Rauchentwicklung“ gegeben. Dennoch habe die Polizei in einer Pressemitteilung behauptet, dass Menschenleben nicht in Gefahr gewesen seien.

Claudia von Gélieu ist eine der Betroffenen, ohne die es nie zu einem Untersuchungsausschuss gekommen wäre. Der Beharrlichkeit von Betroffenen und Initiativen und den Enthüllungen durch kritische Journalist*innen ist es zu verdanken, dass der Neukölln-Komplex nun endlich parlamentarisch untersucht wird. Es ist, darauf weist von Gélieu hin, das erste Mal, dass sich ein offizielles Gremium des Parlamentes für die Sicht der Betroffenen interessiert. Von Gélieu: „Meine Hoffnung in den Untersuchungsausschuss ist, dass hier dazu beigetragen werden kann, überzeugende Antworten zu bekommen.“

Die Zeugin ist wegen ihres jahrzehntelangen antifaschistischen Engagements, unter anderem in der Galerie Olga Benario in Neukölln, in den Fokus von Nazis geraten. Die Galerie stand bereits in den 1990ern auf Anti-Antifa-Listen. Claudia von Gélieu stellt auch den Angriff auf sie persönlich in einen Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit für die Galerie. Um die Kontinuität von rechten Angriffen zu demonstrieren, hatte sie Fotos mitgebracht, die unter anderem Nazi-Schmierereien an der Galerie Olga Benario zeigen, die in der Vergangenheit immer wieder aufgetaucht waren. Einmal, so von Gélieu, sei ein Hakenkreuz am Rollladen der Galerie von der Polizei entfernt worden, dies hätten sie jedoch erst aus der Nachbarschaft erfahren, von der Polizei seien sie nicht informiert worden. Zu ihrer Irritation sahen sich Ausschusssekretariat und Vorsitzender nicht dazu in der Lage, im Vorfeld Kopien von den Fotos anzufertigen und sie auch der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Dafür musste sie selbst sorgen.

Claudia von Gélieu begann ihre Aussage – wie vorgesehen – mit einem längeren zusammenhängenden Bericht. Dieser Bericht war eine konzise Einführung in wesentliche Aspekte des Neukölln-Komplexes. Sie formulierte zentrale Fragen, die sich auch die anderen beiden heute gehörten Zeugen stellen: „Was wird eigentlich dem Neukölln-Komplex zugerechnet, was ist mit der Brandstiftung an einem Haus in Rudow, wo Geflüchtete lebten?“ Es sei, so von Gélieu, bekannt, dass Verdächtige im Neukölln-Komplex auch Geflüchtetenunterkünfte ausgespäht haben. Wie später auch der Zeuge Heinz Ostermann wies Claudia von Gélieu auf die Morde an Burak Bektaş und an Luke Holland hin. Es sei, so von Gélieu, „für uns ständig die Frage“ gewesen, wen die Nazis als nächstes als Opfer auswählen. Sie habe immer mit den Sicherheitsbehörden kommuniziert, sagt Claudia von Gélieu, aber sie habe es so empfunden, dass sie belogen wurde. Der Neukölln-Komplex habe keine Priorität für Behörden und Politik gehabt, sei nicht als Komplex behandelt worden. Sie stellt sich die Frage, ob Ferat Koçak eigentlich der einzige Betroffene war, der trotz vorliegender Erkenntnisse der Behörden nicht gewarnt wurde: „Seit wann wussten die Behörden von meiner Gefährdung?“ Zur Frage des Vertrauens in Behörden sagt sie: „Jeder Fall, der bekannt wird, wo sich Polizisten nicht regelkonform verhalten haben, besonders extrem bei Zusammenhängen mit rechten Straftaten, erweckt die Frage: Tun Sie das auch in meinen Fall?“

Bereits kurz nach Beginn ihrer Ausführungen sah sich Florian Dörstelmann offenbar genötigt, darauf hinzuweisen, dass Claudia von Gélieu Wertungen unterlassen solle. Das wiederholte sich auch bei den anderen Zeugen. Und es überrascht, denn auch wenn sich der Untersuchungsausschuss bei den Regelungen zur Zeug*innenbefragung an der Strafprozessordnung orientiert, hat der Vorsitzende – vor allem im parlamentarischen Setting des UA – sicher einen weiten Ermessensspielraum. Das Ermessen hier so eng auszulegen ist eine politische Entscheidung. Und legt man das Ermessen bei Zeug*innen, zumal bei Betroffenen, so eng aus, müsste es umgekehrt auch für Ausschussmitglieder gelten, die sich bei der Befragung immer wieder vom Untersuchungsgegenstand entfernt und auch mal Suggestivfragen gestellt haben. Hier intervenierte Dörstelmann aber kaum. Stephan Standfuß etwa durfte sich bei seiner Fragerunde darüber ergehen, ob die CDU-Fraktion nun die Annahme einer Unterschriftenliste verweigert hat oder nicht.

Zeuge Christian von Gélieu

Nächster Zeuge war Christian von Gélieu, der Mann von Claudia von Gélieu. Er wurde nie als Zeuge für den Brandanschlag auf das Auto gehört. Stattdessen führte die Polizei kurzzeitig Ermittlungen gegen ihn, ausgerechnet im Bereich „Politisch motivierte Kriminalität rechts“. Hintergrund der absurden Ermittlungen gegen den mittlerweile pensionierten Richter am Kammergericht war eine Beleidigung der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft durch ein rechtes Facebook-Profil unter dem Namen Gélieus. Die Hamburger Behörden fragten in Berlin nach und dort wurde in den Akten offenbar von Gélieus Name gefunden – vermutlich wegen des Brandanschlags auf das Auto seiner Frau. Die Ermittlungen gegen ihn wurden später eingestellt, der wirkliche Täter hinter dem Fakeaccount wurde ermittelt.

Auch für Christian von Gélieu stellen sich Fragen danach, wie die Polizei nach dem Anschlag ermittelt hat. Die Polizei, so von Gélieu, habe behauptet, es habe nach dem Brandanschlag einen Großeinsatz in der Nachbarschaft auf der Suche nach Zeug*innen gegeben. Sie könnten aber, da sie in Kontakt mit der Nachbarschaft stünden, sagen, dass es diesen Einsatz nicht gab, „es sei denn, er war sehr getarnt“. Von Gélieu stuft die Taten in Neukölln als rechten Terror ein. Es habe ihn verwundert, dass das Verfahren wegen des Anschlags auf ihr Auto so schnell eingestellt wurde, obwohl die Taten laut Polizei als Serie behandelt wurden: „Plötzlich wurden aus der Serie wieder Einzelfälle.“

Zeuge Heinz Ostermann

Letzter Zeuge war Heinz Ostermann, der die Buchhandlung Leporello in Rudow betreibt und wiederholt zum Ziel rechter Gewalt wurde. Auf Ostermanns Autos wurden 2016 und erneut 2018 Brandanschläge verübt. Ostermann engagiert sich gegen Rechts, vor allem gegen die AfD, und veranstaltet in seiner Buchhandlung Lesungen auch zu den Themen extreme Rechte und Rassismus.
Kurz vor dem ersten Brandanschlag im Jahr 2016 war nach einer Veranstaltung zur AfD die Schaufensterscheibe seines Ladens mit Pflastersteinen beschädigt worden. Als politisch motivierte Tat wollten die Streifenpolizisten, die die Tat aufnahmen, diese nicht einstufen. Die Anschläge – vor allem der zweite Anschlag auf sein Auto, der in der Nähe seiner Wohnung stattfand – haben im engen Umkreis von Ostermann zu tiefer Verstörung und traumatischen Belastungen geführt.

Auch Heinz Ostermann fragt sich angesichts der ausgebliebenen Warnung von Ferat Koçak durch die Behörden, ab wann die Hauptverdächtigen bereits unter Observation standen. Obwohl der konkrete Kontakt mit den Behörden okay gewesen sei, hätten die vielen kleinen Geschichten im Neukölln-Komplex das Vertrauen in sie gebrochen – etwa die fehlende Warnung an Koçak oder jüngst die Erkenntnisse zu einer Videoüberwachung, die den Hauptverdächtigen Thom zeigt (Antifaschistisches Infoblatt: Gegen Linke ermittelt und Rechte überführt? Immer Neues vom Neukölln-Komplex). Die Gespräche von Betroffenen mit leitenden Beamt*innen und der Politik, etwa mit Innen-Staatssekretär Torsten Akmann, seien seinem Gefühl nach „eher placebomäßig“ gewesen, so Ostermann. Auf Nachfrage von Standfuß bejahte er, dass er es so empfunden habe, dass es darum gegangen sei, die Gemüter zu beruhigen. Heinz Ostermann: „Meine Hoffnung in diesen Ausschuss ist, dass hier dazu beigetragen werden kann, die Anschlagsserie zu beleuchten, Antworten zu bekommen, vor allem überzeugende Antworten zu bekommen.“ Er wünscht sich, dass es bei den Sicherheitsbehörden mehr Zugewandtheit und Vertrauen in die Opfer gibt, mehr Transparenz, und dass, wenn Behörden Fehler machen, es nicht erst die Zivilgesellschaft sein muss, die das erkennt und drauf hinweist.

Es deutete sich bei den Befragungen in der 3. Sitzung des UA schon an, welche Ziele die einzelnen Fraktionen im Ausschuss verfolgen und wem es dabei um die Aufklärung des Neukölln-Komplexes geht. Für eine ernsthafte Einschätzung hierzu ist es aber wohl noch zu früh. Lediglich beim AfD’ler Brousek ist schon recht klar erkennbar, in welche Richtung seine Fragen auch in Zukunft gehen werden. Sie waren geprägt von einem raunenden, unterstellenden Ton und waren ersichtlich auf die anschließende Verwertung in Social Media ausgerichtet, wo dann Aussagen sinnentstellend oder schlicht falsch wiedergegeben werden für die Propaganda gegen Linke und ‚die Antifa‘.

Der Ausschuss wird am Freitag, den 16. September, um 10 Uhr fortgesetzt.