In der 8. Sitzung des „1. Untersuchungsausschusses (‚Neukölln‘)“ des Berliner Abgeordnetenhauses wurden zwei Sachverständige gehört. Nachdem in den vergangenen Wochen schon die Betroffenen und Aktiven ihre Expertise zum Neukölln-Komplex vorgetragen hatten, stellten mit Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) und Özge Pınar Sarp von ReachOut zwei Expertinnen aus der Beratungspraxis ihre Gutachten vor und beantworteten Fragen. Dabei zeigte sich, wie sehr dieser Untersuchungsausschuss auf Expertise von außen angewiesen ist und wie wenig aktiv er seine Rechte zu gebrauchen weiß.
Sachverständige Bianca Klose
Für die MBR stellt Bianca Klose das Gutachten, das der Ausschuss in Auftrag gegeben hatte, vor. Klose gehört auch selbst zu den im Rahmen des Neukölln-Komplexes bedrohten Personen. Ihre Anschrift und Fotos von ihrem Wohnort fanden sich in einer Feindesliste.
Zunächst stellt Klose die Arbeit der MBR vor, deren Ansatz bei der Unterstützung von Engagierten aus der Zivilgesellschaft eine menschenrechtsorientierte Haltung mit dem Leitgedanken einer demokratischen Kultur sei. Die MBR arbeite entlang einer Akteurs- und Nachfrageorientierung, des Problem- und Fallbezugs sowie einer Ressourcenorientierung im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe. Die Informationen im Gutachten stammen vor allem aus der Beratungspraxis der MBR, also von Aktiven und Betroffenen, sowie aus begleitendem Monitoring.
Die MBR spricht in ihrem Gutachten von zwei Angriffsserien: die erste von 2009 bis 2015 und die zweite seit Sommer 2016 bis 2019. Diese beiden Serien seien jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern es sei davon auszugehen, dass hinter den Angriffen jeweils ein ähnlicher Täterkreis steckt. Es seien, so Klose, immer mal wieder neuere Personen dazu gekommen, es sei auch rekrutiert worden, aber da es einen bestimmten Modus Operandi gab (zum Beispiel ähnliche Handschriften bei Drohschmierereien, wiederkehrende Formulierungen, ähnliche Tatmittel wie Farb- oder Bitumengläser), seien sie sehr früh von einem bestimmten sehr überschaubaren Personenkreis ausgegangen. Das Vorgehen gegen antifaschistisch Aktive und zivilgesellschaftlich Engagierte sei dabei zwar „einerseits Ausdruck einer bewussten Strategie, um politische Wirksamkeit zu erlangen und die demokratische Öffentlichkeit einzuschüchtern“. Andererseits sei sie aber auch ein Ausdruck von Schwäche, denn auf andere Weise sei die Berliner Neonazi-Szene nicht in der Lage gewesen, effektiv auf sich aufmerksam zu machen.
Klar sei: Diese Strategie ist keine Erfindung der gewaltbereiten Berliner Neonazi-Szene, sondern eine Fortsetzung der bereits Anfangs der 1990er-Jahren in Neonazi-Strukturen entwickelten „Anti-Antifa“-Kampagne. In Berlin finden sich hierbei sogar deutliche personelle Kontinuitäten von den 1990ern bis heute. Zur „Anti-Antifa“-Kampagne gehört das Anlegen von Listen mit Daten politischer Gegner*innen. Im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand der Angriffsserie seit 2016 seien, so Bianca Klose, vier solcher Feindeslisten belegt. Eine sei beim Neukölner Neonazi Julian B. [Klose kürzt Vor- und Nachnamen der Neonazis ab], gefunden worden. Drei Listen würden dem Hauptverdächtigen Sebastian T. zugeordnet, davon sei allerdings eine bei Björn W. gefunden worden. Björn W. war eine Führungsfigur der gewaltbereiten Neonazi-Szene in Berlin, er war zu Beginn der 2000er Anführer der 2005 verbotenen „Kameradschaft Tor“ und danach zeitweilig Chef der JN in Berlin. Klose: „Er war, so kann er bezeichnet werden, einer der Protagonisten im Netzwerk NW-Berlin mit Blick auf die sogenannten ‚Anti-Antifa‘-Aktivitäten.“ Björn W. stammt nicht aus Neukölln, sondern aus Lichtenberg, was belegt, dass eine Verengung des Blicks auf Neukölln das Bild des Neukölln-Komplexes verzerren kann. Der Fund dieser Liste war purer Zufall, denn sie wurde nicht etwa vom Berliner LKA gefunden, sondern bei einer Durchsuchung des Zolls in W.s Arbeitsplatz in Berlin-Mitte im Oktober 2020. Die Behörden gehen davon aus, dass Sebastian T. dem Durchsuchten die Unterlagen zur sicheren Aufbewahrung gegeben hatte.
Ebenfalls ein bloßer Zufallsfund war eine Aufnahme, auf der laut Ermittlungsergebnissen T. und der seit den 1990ern aktive Neonazi und führende Berliner „Anti-Antifa“-Aktivist Oliver W. zu sehen sind. Oliver W. werde, so Klose, als „politischer Ziehvater“ von Sebastian T. beschrieben, es gebe diverse Verweise auf Straftaten von W. seit den 1990ern, unter anderem auf einen Brandanschlag auf einen Jugendclub und den Bau von Rohrbomben. Oliver W. und T. wurden laut der Ermittlungsergebnisse im März 2019 von einer Überwachungskamera dabei gefilmt, wie sie am Hauseingang einer Person Drohparolen schmierten. Die Überwachungsmaßnahme richtete sich allerdings nicht gegen T. oder W., sondern gegen die bedrohte Person (Antifaschistisches Infoblatt: Gegen Linke ermittelt und Rechte überführt?). Die Informationen aus der Auswertung der Videoaufnahmen seien frühzeitig an die BAO Fokus des LKA übermittelt worden waren, es seien aber keine zeitnahen Maßnahmen gegen die Tatverdächtigen gefolgt. Das Gutachten der MBR hierzu: „Es steht somit die Vermutung im Raum, dass Ermittlungsbehörden Beweismittel zur rechtsextremen Angriffsserie zurückgehalten haben, um ihre Informationsgewinnung in der linken Szene weiterführen zu können. Das würde bedeuten, dass eine Forderung übergangen wurde, die nach der Mordserie des ‚Nationalsozialistischen Untergrund‘ erhoben worden war: nämlich den Quellenschutz nicht über den Schutz potenzieller Opfer zu stellen.“ Oliver W. stand bis vor kurzem zusammen mit Sebastian T. und Tilo P. vor Gericht, allerdings nicht wegen des Schmierens dieser Drohparolen sondern wegen anderer Propagandadelikten; sein Verfahren wurde mittlerweile abgetrennt.
Klose stellt dar, dass im Zusammenhang mit den Neukölln-Komplex immer wieder die gleichen Namen auftauchen, die aus Antifa-Recherchen schon lange bekannt sind: unter anderem Sebastian T., Julian B., Oliver W. Ein wichtiger Name in der Berliner Neonazi-Szene ist aber auch Sebastian Schmidtke. Schmidtke war, so das Antifaschistische Infoblatt, „über Jahre Aushängeschild des NW-Berlin, sei es als Verantwortlicher im Sinne des Presserechtes, als Redner auf Veranstaltungen oder als Demonstrationsanmelder“ (Antifaschistisches Infoblatt: nw-berlin: Keine Anklage ohne Admin?). Der „Nationale Widerstand Berlin“ oder „NW-Berlin“ war jahrelang das wichtigste Netzwerk der militanten Neonazi-Szene in Berlin. Dabei hatten die Angehörigen der Szene ein eher strategisches Verhältnis zu unterschiedlichen Organisations-Labels, traten mal als NW-Berlin auf, mal unter dem Namen der NPD oder in Neukölln auch als „Freie Kräfte Rudow“. Auf der Webseite „nw-berlin.net“ waren unter anderem Daten und Informationen zu politischen Gegner*innen veröffentlicht und mit kaum verhohlenen Aufforderungen, diese anzugreifen, versehen worden. Dort fand sich etwa die Feindesliste „Linke Läden“. Die Behörden, so Klose auf Frage des Abgeordneten Özdemir (SPD), hätten, so sei ihr Eindruck gewesen, aber nicht die „militanten Rechtsextremen, die bekannt waren“ in den Blick genommen, sondern sich bei ihren Ermittlungen auf die Webseite „nw-berlin.net“ konzentriert. Die Strafverfolgungsbehörden hätten, nach dem Eindruck der MBR, den Netzwerkcharakter des NW-Berlin nicht erkannt: „Ein Netzwerk, das sich koordinierte, auch durch zahlreiche Zulieferer von Daten.“ Dabei habe sich, so das Gutachten der MBR, dieses Neonazi-Netzwerk seit seiner Entstehung im Jahr 2005 bis zur Abschaltung der Webseite 2012 zum „führenden aktionsorientierten und militanten Akteur der Berliner rechtsextremen Szene“ entwickelt. Sebastian T. und sein Umfeld seien in diesem Netzwerk politisch sozialisiert worden und hätten dort von älteren Szeneangehörigen gelernt, was ein Hauptbetätigungsfeld der Neonazi-Szene in Berlin ist: die Bekämpfung politischer Gegner*innen. Schmidtke war dann von 2012 bis 2016 NPD-Vorsitzender in Berlin. Der Hauptverdächtige Sebastian T. war lange Zeit Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes Neukölln. Ab 2016 sei auch das Label „Freie Kräfte Berlin Neukölln“ verwendet worden.
Die MBR zählt bei der ersten Angriffsserie 102 Angriffe und bei der zweiten 55 Angriffe. Das sind deutlich mehr als die Behörden zählen. Die MBR zählt dabei auch solche Angriffe, die zwar nicht in Neukölln stattfanden, aber etwa durch Tatbegehung oder zeitliche und räumliche Nähe dem gleichen Täterkreis zuzurechnen seien. Die beiden Serien unterscheiden sich dabei vor allem im Hinblick auf die Ziele der Angriffe. Bei der ersten Serie seien hauptsächlich Einrichtungen wie Ladenlokale und Vereinsheime angegriffen worden – oft solche, die auf der „Linke Läden“-Liste bei „nw-berlin“ auf der Webseite zu finden waren. Bei der zweiten Serie habe es dann verstärkt Angriffe an den Wohnadressen politischer Gegner*innen gegeben. Zu der kurzen Lücke zwischen den beiden Serien, das „sagenumwobene Jahr, wo nichts stattfand“, sagt Klose: „Viele bringen das in der Öffentlichkeit mit der Haft von S.T. ins Verhältnis.“
Klar ist, dass die Neonazis Personen regelrecht observiert haben (siehe zum Beispiel Ferat Koçak, 4. Sitzung) und dass sie versucht haben, über fälschlich gestellte Strafanzeigen und den Besuch folgender Gerichtsverfahren an Adressen zu kommen. Einige Daten müssen aus Einsichtnahmen ins Vereinsregister stammen. Im Jahr 2011 wurden außerdem einige Briefkästen aufgebrochen und es wurde wahrscheinlich Post entwendet. Offen sind für die MBR Fragen nach der Herkunft anderer Daten. Ein Neonazi etwa sei zeitweise beim Finanzamt beschäftigt gewesen und habe Zugang zu sensiblen Daten gehabt. Ein anderer Neonazi war als Zusteller bei der PIN AG in Nord-Neukölln angestellt. Einige Daten stammen offensichtlich aus Mitgliederlisten der Rechtshilfe-Organisation „Rote Hilfe“. Mitgliederlisten der „Roten Hilfe“ waren bei der Durchsuchung am Arbeitsplatz von Björn W. im Oktober 2020 beschlagnahmt worden. Die Hinweise auf die Postzustellung sieht Klose „nicht ausreichend bearbeitet beim LKA“. Problematisch sind auch polizeiliche Datenabfragen zu Personen, deren Daten sich auf Feindeslisten finden. Laut der „BAO Fokus“ gebe es keine Hinweise zu missbräuchlichen Datenabfragen im polizeilichen Informationssystem, alle Abfragen seien dienstlich gerechtfertigt gewesen. Dem widerspricht allerdings die Berliner Datenschutzbehörde. Ein entsprechendes Verfahren der Datenschutzbehörde sei noch nicht abgeschlossen, das lasse sie, so Klose, eine Rechtmäßigkeit der Abfragen als zweifelhaft ansehen.
Kritik an den Ermittlungsbehörden formuliert das Gutachten an diversen Stellen. Die Betroffenen selbst etwa hätten, so Klose, zum Teil „wunderbare Recherchearbeiten“ geleistet und sie der Polizei zur Verfügung gestellt. Auf Frage des Abgeordneten Franco (Grüne) verweist Klose aber darauf, dass sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Angriffsserie viele Betroffene den Eindruck gehabt hätten, dass die Polizei ihren Einschätzungen nicht ausreichend Gehör schenkt. Zu entsprechenden Ermittlungsverfahren sei vielen Betroffenen nichts übermittelt worden, sie hätten zum Teil erst davon erfahren, wenn die Verfahren eingestellt wurden. Es fehle Sensibilität im Umgang mit Betroffenen, viele hätten den Eindruck gehabt, dass die Polizist*innen alles besser wüssten, auch wenn es um die Frage der Einordnung als Serie ging. Taten seien als Dumme-Jungen-Streiche betrachtet worden. Einer von einer Drohschmiererei (Vor- und Zuname und der Satz: „Wir denken an dich“) betroffenen Person sei von einem Polizisten entgegengehalten worden, das sei „doch nett gemeint“. Auch die mangelnde Sorgfalt der Polizei an den Tatorten selbst thematisiert Klose (siehe hierzu etwa Aussage von Christiane Schott, 7. Sitzung). Auf Frage des Abgeordneten Özdemir sagt Klose: „Nach wie vor wird Betroffenen nicht Gehör geschenkt, ihren Analysen nicht zugehört, die Mosaiksteine nicht zusammengelegt. Betroffene werden zum Teil sogar selbst als Teil des Problems dargestellt.“
Auf Frage des Abgeordneten Schrader (Linke) weist Klose auch auf das Thema „Ostburger Eck“ hin. Diese Kneipe in Rudow ist deshalb im Neukölln-Komplex relevant, weil der Verfassungsschutz im Rahmen einer Observation eines Rechtsextremen im Jahr 2018 zufällig beobachtet haben will, wie sich ein LKA-Beamter privat mit Sebastian T. in der Kneipe getroffen habe. Am Tisch mit dem LKA-Beamten hätten laut Verfassungsschutz außerdem drei weitere Rechtsextreme gesessen. Die Identifizierung Sebastian T.s gilt zwar als widerlegt, aber es ist zumindest weiterhin unklar, mit welchen Rechtsextremen sich der LKA-Beamte warum getroffen hat. In den Medien gab es zu diesem Treffen unterschiedliche, sich teilweise widersprechende Darstellungen. Klose: „Kurzum, die Frage, die sich Betroffenen und uns stellt, ist: Warum so viele Geschichten um ein und den gleichen Fall? (…) Und ich sage Ihnen, wenn es so viele widersprüchliche Geschichten gibt zu einem Fall, dann macht sich bei allen breit: Wie kann das sein?“
Personen, deren Daten auf Feindeslisten stehen, so die Sachverständige auf Frage des Abgeordneten Standfuß (CDU), seien vom LKA informiert worden, dass ihre Namen auf „Datensammlungen“ stehen, wie das LKA die Listen nenne. Die entsprechenden Briefe erklärten sich aber nicht von selbst, sondern ließen die Betroffenen mit Fragen zurück. Es gebe auch keine Telefonnummer zum Rückruf, stattdessen müsse man sich an eine Mailadresse wenden, um zu erfragen, was denn an Daten vorliege. Es sei ein Missstand, dass Betroffene nicht informiert werden, was von ihnen vorliegt. Auf Nachfrage von Özdemir berichtet Klose, dass die Betroffenen bei Nachfragen ans LKA etwa die Auskunft bekämen, von ihnen lägen Fotos vor „von unterschiedlicher Qualität, die von Externen gemacht wurden“. Die Fotos würden den Betroffenen nicht gezeigt. Özdemir: „Warum?“ Klose: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da wäre ich Ihnen ja dankbar, wenn Sie das beantworten würden.“
Überhaupt musste die Sachverständige bei einigen Fragen der Ausschussmitglieder darauf hinweisen, dass sie sich erhoffe, dass der Ausschuss hierzu im Rahmen seiner Untersuchungen Antworten findet. Der Abgeordnete Förster (FDP) wollte wissen, ob sich
durch Corona etwas verändert habe in der Neonazi-Szene. Klose: „Ich sehe keine relevante Veränderung. Viel mehr habe ich meine Einlassung damit beendet, dass real existierende Formationen wie etwa der ‚Dritte Weg‘ auch vor Ort [in Neukölln]unterwegs sind, um Propagandamaterial zu verteilen, mit auch wieder den ähnlichen oder gleichen rechtsextremen Protagonisten. Und auch da möchte ich die Wichtigkeit Ihrer Arbeit betonen, denn auch jetzt findet durch Verteilen von Propagandamaterial durch den gleichen Kreis, der sich auf ‚Anti-Antifa‘-Arbeit fokussiert, die Datensammlung wieder statt. Also: Es wird Zeit.“
Sachverständige Özge Pınar Sarp
Zweite Sachverständige an diesem Sitzungstag ist Özge Pınar Sarp von ReachOut, Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Bedrohung in Berlin. Ihr Gutachten stützt sich auf das Monitoring von ReachOut und Erkenntnisse aus der Beratungspraxis. Sarp legt den Fokus auf die Betroffenen und die Auswirkungen des Behördenhandelns auf sie. Sie weist darauf hin, dass die Angriffsserien in Berlin-Neukölln in einer Tradition und Kontinuität rechter Angriffe in Deutschland nicht erst seit den 2000er-Jahren, sondern seit den 1990ern und 1980ern stehen. Sie weist auch auf die Alltäglichkeit rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hin. Bei ReachOut seien sie fast täglich mit Betroffenen und Ratsuchenden zusammen, für die Gewalt, Bedrohung, Beleidigung alltäglich sind: „Von vielem erfährt die Öffentlichkeit, von vielem aber auch nicht.“
Selbst in der Zeit der Heilung und Trauer müssten Opfer und Angehörige dafür kämpfen, dass sie als Betroffene anerkannt werden, dass die Polizei ermittelt. Hier verweist Özge Sarp auf den Neukölln-Komplex, wo Betroffene jahrelang gekämpft, sich vernetzt und einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss gefordert haben. Dass die Betroffenen zu Beginn des Untersuchungsausschusses berichten durften, hält ReachOut für eine gute Entscheidung. Auch Özge Sarp weist darauf hin, dass es Jahre gedauert habe, bis die Taten des Neukölln-Komplexes als Serie gewertet wurden. Die Anerkennung sei für Opfer nach wie vor ein Kampf. Nazis bzw. rechte TäterInnen seien als harmlos angesehen worden, die Einschätzungen der Betroffenen nicht oder nicht genug wahrgenommen worden. Sarp kritisiert auch den häufigen Wechsel der zuständigen Beamt*innen im Neukölln-Komplex.
Sie kritisiert, dass es seitens der Polizei selten Vermittlungen von Betroffenen an die Beratungsstelle gebe; Opfer kämen selten zu ihnen, weil die Polizei sie über ReachOut informiert habe. Opfer, so Sarp, gehen unterschiedlich mit Angriffen um, Angriffsfolgen begännen nicht erst mit einem Angriff auf den Körper. Im Neukölln-Komplex seien durch die Behörden zahlreiche Taten lediglich als Sachbeschädigungen betrachtet worden, das erlebten die Betroffenen als Verharmlosung. Sarp: „Für die Bewältigungsprozesse kann es bedeutsam sein, ob sie als Opfer behandelt werden oder nicht.“ Betroffene könnten nicht mit dem Erlebten abschließen, wenn Ermittlungen nichts weiter ergeben. Sachbeschädigung als Straftatbestand stehe zudem nicht im Katalog für die Opferentschädigung.
Die Betroffenen hätten die verschiedenen Taten als Serie identifiziert und sich deshalb vernetzt. Beispielhaft nennt Sarp einige Fälle rechter Gewalt in Neukölln vor 2009, etwa einen Angriff auf migrantische Jugendliche am U-Bahnhof Rudow, einen Angriff auf die Evangelische Kirchengemeinde in Rudow, einen Angriff an der Rudower Spinne. Hierzu sei die Frage, wie viele dieser Taten noch zum Neukölln-Komplex gehören oder gehören könnten, und wie viele Taten in Neukölln registriert wurden, die im Hinblick auf eine Serie neu zu bewerten wären.
Die Sachverständige geht auch auf den Mord an Burak Bektaş 2012 ein. Sie zitiert Buraks Mutter Melek Bektaş: „Unser Schmerz findet kein Ende, unser Schmerz ist zu groß. Und die, die wir verloren haben, können wir nicht wieder zurückbringen. Unsere ganze Hoffnung ist, dass keine weiteren Buraks sterben müssen. Entweder sagen wir ‚Das war Schicksal‘ und tun es damit ab oder wir gehen der Aufklärungsarbeit weiter nach.“ Es sei, so die Sachverständige, der Aufklärungsarbeit der Angehörigen zu verdanken, dass Burak nicht einfach in der Liste unaufgeklärter Taten steht, sondern im Gedächtnis in der Öffentlichkeit weiterlebt.
Sarp sagt zum Schluss ihrer Ausführungen: „Sehr geehrte Abgeordnete, wie sie aus den Aussagen von Betroffenen erfahren haben, wurden ReachOut und MBR mehrmals erwähnt. Ich beobachte auch den Gerichtsprozess [gegen Sebastian T. und Tilo P.], da wurden von einigen Betroffenem unsere Organisation und die MBR erwähnt und auch OPRA mit seiner Unterstützung auf psychologischer Ebene.“ Sie hätten erfahren, was einem Betroffenen von einem Polizeibeamten über die Arbeit der Beratungsstellen gesagt wurde. Über diese Abwertung durch Polizeibeamte könne man, so Sarp, hinwegsehen, aber dass Betroffene bei der Polizei nicht auf ReachOut und andere Beratungsstellen hingewiesen würden, das sei ein Problem.
Auf Nachfrage von Özdemir berichtet Sarp, dass sie in der Beratung tätig sei und in den zweieinhalb Jahren keinen Fall gehabt habe, wo die betroffene Person von Polizeibeamt*innen an ReachOut vermittelt wurde. Es gebe aber zwei Lücken, einmal bereits bei der Aufnahme von Taten, wenn der rechte, rassistische oder antisemitische Hintergrund von Taten nicht ernst genommen werde, und dann beim LKA beim fehlenden Verweis auf ReachOut.
Die Befragung durch den Abgeordneten Standfuß zielt dann, wie mehrfach in den vergangenen Sitzungen, vor allem darauf ab, die Behörden vor allzu scharfer Kritik zu schützen. Standfuß bedient sich dabei eines Strohmann-Arguments und sagt, es gebe ja auch bei „Parkvergehen“ unterschiedliche Behandlungen durch verschiedene Beamte: „Kann es auch sein, dass das Behördenversagen ist, ohne dass es bewusst war, ohne dass es von irgendwelchen rechtsradikalen Netzwerken gesteuert wurde?“ Sarp: „Ich kann sagen, was die Wirkung ist, wenn es als harmlos gewertet wird. Ob die Beamten das absichtlich gemacht haben, ist nicht so unser Punkt, sondern die Wirkung auf Betroffene ist unser Punkt.“ Absichtlich oder nicht, gebe es, so Sarp, in Deutschland ein strukturelles Problem in den Ermittlungsbehörden. Sarp verweist diesbezüglich auch auf den NSU-Komplex. Sarp: „Bitte nicht auf Absicht oder nicht fokussieren. Sicherheitsbehörden müssen transparent werden und es muss gründlich ermittelt werden.“
Auf Frage der Abgeordneten Kahlefeld (Grüne) sagt die Sachverständige, dass Intransparenz oft schon mit ganz einfachen Sachen anfange, etwa der Frage, mit wem man spricht. Das sei Betroffenen oft unklar. Wenn die Polizei nach der Tat komme, so Sarp auf eine weitere Frage Kahlefelds, müssten die Opfer und ihre Einschätzungen ernst genommen werden, eine sekundäre Viktimisierung müsse vermieden, die Opfer als Opfer behandelt werden. Wichtig sei außerdem, dass auf fachspezifische Beratungsstellen hingewiesen wird: „Und auch wichtig ist: Beweismittel sichern.“ Dass das oft nicht passiere, sei auch bei alltäglichen Angriffen festzustellen, wenn etwa bei einem Angriff in der Tram die Kamerabilder nicht gesichert würden. Auf Fragen von Schrader betont Sarp, dass Hinweise von Betroffenen auf die Tatmotivation oft nicht sofort aufgenommen würden, auch würden Betroffene oft nicht auf ihre Rechte – etwa, eine andere als ihre Privatadresse als ladungsfähige Anschrift anzugeben – hingewiesen.
„Querlesen“
Dem einen oder anderen Abgeordneten scheint die Arbeit, die der Untersuchungsausschuss zu leisten hätte, wenig zu bedeuten. Darauf deutet jedenfalls der Hinweis des Abgeordneten Standfuß hin, er gebe zu, das schriftliche Gutachten der MBR noch nicht „in allen Details“ gelesen zu haben. Das Gutachten hat 36 Seiten, ist großzügig gelayoutet und wurde den Abgeordneten am Mittwoch vor der Anhörung zur Verfügung gestellt. Auch der FDP-Abgeordnete Förster wies bei seiner Befragung der Sachverständigen Klose noch einmal darauf hin, ihm sei beim „Querlesen“ etwas aufgefallen.
Sollten die Behörden diesem Untersuchungsausschuss tatsächlich einmal Akten zur Verfügung stellen, dann müssten die Ausschussmitglieder noch sehr viel mehr mindestens „querlesen“. Wenn bereits die zwar faktenreiche und analysestarke, gleichzeitig aber komprimierte und pointierte Darstellung des Untersuchungsgegenstandes durch die Sachverständigen Abgeordnete an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit bringt, lässt das nichts Gutes für diesen Moment erwarten.
Durch eine solch mangelhafte Vorbereitung lassen die Abgeordneten die Chance verstreichen, im Gespräch mit den Sachverständigen wirklich in der Sache voran zu kommen. Stattdessen werden Tatsachen wiederholt, die Expert*innen seit Jahren bekannt sind, oder es wird auf Nebenschauplätzen herumgetrödelt und so dem Ermittlungsauftrag nicht nachgekommen.