Im Neukölln-Prozess wurde heute, am 15.12.2022, einer der beiden Angeklagten, Tilo P., in Bezug auf die angeklagten Brandstiftungen freigesprochen. Die Entscheidung über den letzten verbliebenen Angeklagten, Sebastian T., steht noch aus. Wir dokumentieren im Folgenden die Bewertung der Nebenklage – Ferat Koçak und seine Rechtsanwältin Franziska Nedelmann – zu diesem Ergebnis.
Bewertung der Nebenklage zur Hauptverhandlung gegen Tilo P. und Sebastian T. vor dem Amtsgericht Tiergarten im Neukölln-Komplex
Berlin, den 15.12.2022
Dieses Gerichtsverfahren war von Beginn an eine Farce und zum Scheitern verurteilt.
Wir wissen, dass es seit vielen Jahren ein Netzwerk von Neonazis und Aktivisten der AfD, der NPD und des III. Wegs in Berlin-Neukölln gibt, das sich zum Ziel gesetzt hat, u.a. durch Brandanschläge auf Autos und durch Morddrohungen an Wohnanschriften Menschen einzuschüchtern und zu bedrohen. Die Anschläge und Morddrohungen richten sich ganz gezielt gegen diejenigen, die sich in Berlin sichtbar als Teil der Zivilgesellschaft und als Politiker*innen für Demokratie, Vielfalt und gegen Rassismus engagieren.
Aus Sicht der Nebenklage bestehen keinerlei Zweifel daran, dass die Angeklagten Tilo P. (2018 Mitglied des AfD-Bezirksvorstands Neukölln) und Sebastian T. (bis 2018 NPD-Mitglied) Aktivisten und treibende Kräfte dieses Neonazi-Netzwerks und strafrechtlich für die angeklagten Taten mit verantwortlich sind.
Trotz der Schwere der Taten haben es die Strafverfolgungsbehörden jedoch versäumt, die Sachverhalte in einer Art und Weise aufzuklären, die einer strafrechtlichen Überprüfung standhält.
Damit hat die Berliner Justiz den gesamten „Neukölln-Komplex“ mit mindestens 23 Brandanschlägen und 50 weiteren Straftaten auf zwei Einzeltäter reduziert.
Aber die Angeklagten haben nicht allein agiert, sondern arbeitsteilig mit anderen Gleichgesinnten gehandelt. Es wäre also unbedingt erforderlich gewesen, dieses arbeitsteilige Verhalten aufzuklären und dabei das Augenmerk auch auf die Helfer und Unterstützer der Angeklagten und ihre Tatbeiträge zu richten. Dies ist nicht geschehen.
Vielmehr hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin mit Anklageerhebung zu diesem Verfahren die Entscheidung getroffen, die Neonazistrukturen nicht weiter aufzuklären. Das ist dem Geschehen in keinerlei Hinsicht angemessen.
Auch das erweiterte Schöffengericht hat in der gut dreimonatigen Hauptverhandlung kein Interesse daran gezeigt, sich eine umfassende Tatsachengrundlage zur Sachaufklärung und damit auch zur Urteilsfindung zu verschaffen. Die Anträge der Nebenklagevertretung, weitere Informationen vom Landesamt für Verfassungsschutz einzuholen und weitere Zeug*innen zu hören, um die weiteren Tatbeteiligten zu ermitteln, wurden abgelehnt. Das Gericht führte hierzu unter anderem aus, dass es nicht Aufgabe des Gerichts sei, das Verhältnis von Straftaten aus dem rechten politischen Spektrum zu den Sicherheitsbehörden aufzuklären.
Es überrascht nicht, dass unter diesen Bedingungen keine Aufklärung stattfinden oder gar eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Anschläge festgestellt werden kann.
„Unsere Angst bleibt weiter bestehen und wir werden weiter für Aufklärung kämpfen.“
Das Verfahren um den Neukölln-Komplex ist unseres Erachtens weiterzuführen.
Nebenkläger Ferat Koçak: „Für mich wirkt dieses ganze Verfahren wie eine Farce. Als wäre diese Anklage nur erhoben worden, damit überhaupt irgendetwas passiert, ganz egal, was dann dabei herauskommt. Dabei kann man die Anschlagsserie in Neukölln nur dann rechtlich aufarbeiten und damit auch uns als Betroffene vor weiteren Taten schützen, wenn man sich auf die Netzwerke konzentriert, die die Neonazis in Berlin aufgebaut haben. Denn nur durch solche Netzwerke sind solche Taten möglich. Das ist ja das Gefährliche daran. Unsere Angst bleibt also weiter bestehen und wir werden weiter für Aufklärung kämpfen. Kein Schlussstrich!“
Rechtsanwältin Franziska Nedelmann: „Das Ergebnis des Prozesses überrascht nicht. Seit Jahren wird angeblich gegen die rechten Strukturen in Berlin-Neukölln ermittelt. Allen ist klar, dass es ein neonazistisches Netzwerk in Berlin gibt. Dafür sprechen nicht nur die Anschläge, die seit 2009 gezielt gegen diejenigen stattfinden, die nicht in das Weltbild der Nazis passen, sondern dafür sprechen auch die Erkenntnisse, die die Strafverfolgungsbehörden gesammelt haben. Trotzdem wird hier lediglich gegen Einzelpersonen Anklage erhoben. Die Justiz nimmt es hin, dass das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz mauert und seine Informationen nicht preisgibt. Die Interessen und vor allem der Schutz der Betroffenen werden damit wieder einmal nicht ernst genommen.“