Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes in Mecklenburg-Vorpommern ist auch elf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU kaum erfolgt. Das ist höchst problematisch und erstaunlich, da Mecklenburg-Vorpommern mehrfach dem NSU als Tatort diente. Das Bundesland ist nach bisherigem Kenntnisstand das einzige ostdeutsche Bundesland, in dem der NSU mordete. Es ist auch das einzige Bundesland, in dem das Terrornetzwerk sowohl einen Mord als auch Raubüberfälle beging.
Spuren des NSU im Nordosten
Während ihrer „Untergrundzeit“ war das NSU-Kerntrio zudem mehrfach auf Campingplätzen an der Ostsee zu Gast. Das Neonazi-Fanzine „Der Weisse Wolf“ aus Mecklenburg-Vorpommern erwähnte bereits 2002 den NSU öffentlich: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht weiter…“ Der Dankes-Gruß war im Vorwort der 18. Ausgabe zu lesen, nachdem dort eine Spende von angeblich 2.500 Euro eingegangen war. Herausgeber des Fanzines war zu diesem Zeitpunkt der spätere NPD-Landtagsabgeordnete David Petereit.
Im April 2014 wurde während einer Hausdurchsuchung in Krakow am See (MV) eine CD gefunden, die im Wesentlichen dem Inhalt einer „NSU/NSDAP-DVD“ gleicht, die mutmaßlich durch den mittlerweile verstorbenen V-Mann Thomas „Corelli“ Richter erstellt worden war.
KBA und NSU Werbung in der Konzert-Scheune?
Im Mai 2011 feierten zahlreiche bundesweit aktive Führungskader der (militanten) Neonaziszene das 15-jährige Bestehen des „Kameradschaftsbund Anklam“ (KBA) in Salchow. Mit dabei waren auch der NSU-Unterstützer André Eminger, sein Bruder Maik Eminger sowie David Petereit.1 Wenige Tage nach der Jubiläumsfeier schrieb das KBA-Mitglied André Heise an den mutmaßlichen NSU-Unterstützer André Kapke in den sozialen Netzwerken: „Super feier. Kein streß mit den grünen, dafür gäste aus dem ganzen reich. War ne gelungene Veranstaltung:)“.2
Nach Recherchen des Antifaschistischen Infoblatt (AIB) kann nicht ausgeschlossen werden, dass in Salchow zeitweilig das Kürzel „NSU“ im Kontext der Neonazi-Szene offen beworben wurde. Regionalen Polizeiermittlern der Staatsschutz-Abteilung der Kriminalpolizei Anklam (FK4) und der Staatsanwaltschaft Stralsund war dies eigentlich spätestens im Jahr 2004 bekannt geworden.
Dass eine zweite und bisher unbekannte Bedeutung für die Abkürzung „NSU“ in der militanten Neonazi-Szene existierte kann natürlich nicht ganz ausgeschlossen werden, ist aber nach jahrelangen intensiven Ermittlungen und Recherchen hierzu kaum noch realistisch. Auch dass Polizei-Ermittler das Kürzel „NSU“ im Kontext polizeilicher Arbeit in einem anderen Sinn verwendeten, ist im Zuge der NSU-Auklärung bisher nicht bekannt geworden.
Ein Aufsatz mit Folgen
Die Ermittlungen begannen im Februar 2004 mit einem klassischen Schulaufsatz den Maik L. aus Penschow im Rahmen seiner Ausbildung verfasste. Jener schrieb ganz unbefangen über einen Ausflug mit seinen „Kameraden“ Carsten B. aus Groß Lüsewitz und Mario B. aus Dummerstorf zu einem RechsRock-Konzert mit „Sturmwehr“ in einer Scheune in Anklam. Begeistert schilderte er hier die Ausstattung der Scheune mit Hakenkreuzen und Bildern von Adolf Hitler und Rudolf Heß. Für den Inhalt bekam Maik L. immerhin die Note 2 und er brachte es später zum Zeitsoldaten.
Doch sein Aufsatz landete bei der „Mobilen Aufklärung Extremismus“ (MAEX) im LKA Mecklenburg-Vorpommern, welche ein Verfahren gegen Alexander Wendt wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen einleitete. Auf seinem Gelände in Salchow bei Anklam hatte der KBA eine entsprechende Scheune ausgebaut, die immer wieder für RechtsRock-Konzerte genutzt wurde. Dies war kein Geheimnis, denn bereits im Mai 2003 hatte hier in einem Verfahren gegen den (früheren) „Hammerskin“ Marcel N. („Nemo“) wegen Volksverhetzung eine Durchsuchung stattgefunden. Bereits damals war die Scheune mit der NS-Dekoration von Ermittler_innen der Anklamer Kriminalinspektion besichtigt und dokumentiert worden.
Anfang Oktober 2004 durchsuchten Polizeibeamte unter Leitung von Kriminaloberkommissar Uwe P. im Auftrag der Staatsanwaltschaft Anklam das Neonazi-Objekt in Salchow erneut. Das Verfahren richtete sich in diesem Fall gegen den späteren NPD-Funktionär Alexander Wendt („Welpe“), der das Objekt im November 2003 von dem Neonazi und ehemaligen Grundstückbesitzer Markus T. übernommen hatte. Zu dem Zeitpunkt galten die Neonazis Markus T., Alexander Wendt und Marcel N. als „offizielle“ Bewohner des Grundstückes in Salchow. Die Neonazis Mirko G. („Mikro“) und Andreas Sch. waren hier zumindest zeitweilig ebenfalls wohnhaft.
„NSU“-Plakate?
In einem Bericht der „KPI Anklam FK 4, MAEX“ vom 12. Oktober 2004 schildert Kriminalkommissar E. seine Beobachtungen aus der Scheune. Er will hier u.a. drei Plakate „NSU, Rudolf Hess, KBA“ und vier Schilder „NSU Kindergarten, NSDAP und zwei Sprüche des KBA“ wahrgenommen haben, die er sogar in einem Lageplan vermerkte. Die Abkürzungen NSDAP und KBA sind szenekundigen Personen im Jahr 2004 sicherlich bekannt gewesen, doch wofür stand „NSU“? Eine Fotodokumentation der Scheune von Kriminaloberkommissar G. kann das Rätsel der „NSU“-Plakate nicht auflösen. Hier sind nur diverse Plakate und Schilder des KBA, Propagandmotive aus der NS-Zeit, Plakate der RechtsRock-Bands „Kraft durch Froide“ und „Skrewdriver“ und Collagen aus privaten Fotos und Covern von RechtsRock-CDs zu erkennen.
Wurden die „NSU“-Plakate nicht dokumentiert? Auf den Fotos laufen augenscheinlich auch Personen der rechten Szene durch die Scheune. Konnte eine der Personen die Plakate vor der Foto-Dokumentation entfernen? Oder ist „NSU“ eine nicht näher erklärte Bezeichnung für einige diese Plakate? Wurde Propaganda der regionalen Neonazi-Gruppierung „Nationalgermanische Bruderschaft Ueckermünde“ als NBU abgekürzt und mehrfach falsch notiert? Doch auch entsprechende „NBU“-Plakate sind nicht in der Bilddokumentation enthalten. Abgesehen davon traten die Kameradschafts-Neonazis auf Demonstrationen mit einer Fahne auf, die einen Stahlhelm und die Abkürzung „NGB“ zeigte.3 Auch der Verfassungsschutz kürzte die Gruppierung mit „NGB“ ab.4 Das hier zwei Werbeschilder der westdeutschen „NSU Motorenwerke“ prominent platziert wurden, ist ebenfalls unwahrscheinlich und fotografisch nicht dokumentiert. Sollte dies der Fall gewesen sein, dürfte es als eine bewusste Anspielung für Insider gemeint gewesen sein.
In den weiteren Ermittlungen und den Vernehmungen einiger Neonazis wurden die „NSU“-Plakate jedenfalls nicht mehr thematisiert. Das Verfahren selbst wurde ohne Anklageerhebung gegen Alexander Wendt eingestellt.
Vergessene Salchow Plakate?
Der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern hat mittlerweile zwei Untersuchungsauschüsse initiiert, um den NSU-Komplex im Bundesland aufzuklären. Doch von NSU-Plakaten in Salchow war hier bisher nichts zu erfahren. In der Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern am 8. Mai 2020 wird der Polizeibeamte Steffen G. von der Sondereinheit MAEX als Zeuge befragt. Der antifaschistische Blog „nsu-watch“ berichtete von seiner Aussage: „Natürlich habe er sich gefragt, welche Verbindungen der NSU gehabt habe, ‚oder sind die allein hierher gekommen. Im Nachhinein denke ich, das ist schwierig, es muss Verbindungen gegeben haben.‘ Jemand müsse den Tatort ausgekundschaftet haben.“5 Der Polizeihauptkommissar Detlev Sch. (ehemaliger Leiter der MAEX) hatte bei der Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern am 15. Januar 2021 ebenfalls nichts über die von seiner Einheit dokumentierten „NSU“-Plakate zu berichten.6 Auch auf der zweiten Sitzung des NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern am 22. August 2022 berichtete der Mecklenburger Polizeibeamte Michael Ta. lediglich, dass André Eminger am 7. Mai 2011 in einer Kontrolle der Polizei anlässlich der 15- Jahres-Feier des „Kameradschaftsbund Anklam“ erfasst wurde. Er wusste auch noch, dass der Ausrichter Alexander Wendt aus Salchow gewesen sei. Solche Feierlichkeiten mit bundesweiter Anreise zu dessen Anwesen seien nichts Ungewöhnliches gewesen. Diese fanden immer in der Scheune auf dessen Privatanwesen statt.7
Antifa Recherche bleibt nötig
Bereits der NSU-Gruß im „Der Weisse Wolf“ wurde erst durch antifaschistische Recherchen aufgedeckt. Demnach dürfte die Existenz des NSU mindestens ab dem Jahr 2002 einer relativ großen Zahl von Neonazis bekannt gewesen sein. Die „NSU“-Plakate in Salchow wären ein weiteres starkes Argument für die von Antifaschist_innen und der Nebenklage der NSU-Opfer vertretenen These, dass der NSU erheblich mit anderen Gruppen und Einzelpersonen vernetzt war, und ein klarer Widerspruch zur Bundesanwaltschafts-These vom NSU als ein isoliertes Trio.
Nicht ausrecherchierte Spuren in die Region gibt es genug. So hatten die Eminger-Brüder möglicherweise einen weiteren direkten Kontakt nach Anklam. Der Chemnitzer Neonazi Ingolf W. („Inge“) ist Anfang 2004 nach Anklam gezogen.8 Er soll zuvor einer der Herausgeber des sächsischen „Blood & Honour“-Magazins „White Supremacy“ gewesen sein. Eine Ausgabe des Heftes enthielt den Text „Gedanken zur Szene“, den mutmaßlich das NSU-Mitglied Uwe Mundlos verfasst haben soll.
Maik Eminger soll 2011 Ingolf W. angerufen haben, um ihn über die Verhaftung seines Bruders Andre Eminger zu informieren. Einem „Inge“ – mit höchster Wahrscheinlichkeit ist Ingolf W. gemeint – wurde bereits 2004 für die Beteiligung an einer Spendenaktion für den Aus-und Umbau der Salchower Scheune gedankt, wie auch „den Chemnitzern“ im Allgemeinen und einem „Wüste“ im Speziellen. Bei „Wüste“ dürfte es sich um Michael Lorenz aus Chemnitz handeln, einst Aktivist bei „Blood & Honour“ Sachsen um den NSU-Unterstützer Jan Werner. Heute spielt Lorenz u.a. bei der RechtsRock-Band „Blutzeugen“ mit, die im Mai 2011 auf dem 15-Jährigen Jubiläum des KBA in Salchow gespielt haben sollen – einer ihrer ersten Live-Auftritte. Lorenz war schon um 2000 bei der Chemnitzer Band „Might of Rage“ aktiv, aus der später „Blitzkrieg“ wurde. Thomas R., genannt „Dackel“, soll laut Behörden ebenfalls bei „Blitzkrieg“ mitgewirkt haben und wohnte damals mit Ingolf W., sowie weiteren Neonazis in einem Plattenbau-Komplex in Chemnitz. Auch Thomas R. sei an der Produktion des „White Supremacy“-Fanzines beteiligt gewesen und vielmehr noch, er versteckte 1998 für einige Wochen das NSU-Kerntrio in seiner Wohnung im besagten, von einschlägig bekannten Neonazis bewohnten Plattenbau-Komplex.
„Exif Recherche“ veröffentlichte eine weitere Verbindung zwischen dem KBA und den Kreisen um den NSU. Im Zuge der NSU-Ermittlungen wurde demnach auch das Telefonbuch von dem mutmaßlichen NSU-Unterstützer André Kapke ausgewertet. In diesem habe sich eine Telefonnummer KBA-Aktivisten André Heise befunden. Heise war bis Juni 2020 fraktionsloser Stadtvertreter in Strasburg. Heise und Kapke standen laut „Exif Recherche“ nicht nur in einem freundschaftlichen Verhältnis, die beiden arbeiteten auch zeitweilig zusammen. „Exif Recherche“ stellte zu ihm fest: „Heise glorifizierte die Taten des NSU. Öffentlich forderte er die Freilassung von seinem Freund, dem NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben.“9
Die Kreise schließen sich und die Aufklärung des NSU-UnterstützerInnen-Umfeldes in Mecklenburg-Vorpommern steht wohl eher am Anfang als vor ihrem Ende.
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Fußnoten:
[1] Vgl. nsu-watch.info: „Der NSU in Mecklenburg-Vorpommern – Kaum Interesse an Aufklärung“
[2] exif-recherche.org: Das geheime Netzwerk der Hammerskins – Chapter in Deutschland: Teil 1
[3] www.links-lang.de/0312/01.jpg
[4] Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern, Extremismusberichte 1999 – 2002
[5] nsu-watch.info: „Ich habe meine Arbeit gemacht, die mir aufgetragen wurde.“ – Die Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern am 08.05.2020
[6] nsu-watch.info: „Nicht jeder mit Springerstiefeln und Thor Steinar ist gleich ein Neonazi“ – Die Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern vom 15. Januar 2021
[7] nsu-watch.info: „Hat der NSU hier weitere Straftaten geplant?“ Die Sitzung des 2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern vom 22. August 2022
[8] nsu-watch.com: Protokoll 131. Verhandlungstag – 29. Juli 2014
[9] exif-recherche.org: Das geheime Netzwerk der Hammerskins – Chapter in Deutschland: Teil 1
Der Artikel erschien zuerst im Antifaschistischen Infoblatt 4/2022.