NSU-Watch: Aufklären und Einmischen. Der Newsletter #1

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Seit dem 3. April melden wir uns einmal im Monat mit unserem Newsletter „Aufklären & Einmischen“ bei euch. Passend zum Titel des Newsletters findet ihr im ersten Teil – Aufklären – Berichte zu unserer Arbeit. Außerdem werfen wir einen Blick auf aktuelle Ereignisse im Themenfeld rechter Terror und seine Aufarbeitung. Im zweiten Teil des Newsletters wird es praktisch: Einmischen. Wir sammeln für euch aktuelle Termine beispielsweise für Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen, an denen ihr euch beteiligen könnt. Hier könnt ihr euch für den Newsletter anmelden.

Wenn ihr genauer wissen wollt, was euch erwartet, könnt ihr hier die aktuelle, erste Ausgabe, des Newsletters in der Webversion nachlesen. (Aus technischen Gründen wird der Newsletter hier grafisch leicht abweichend von der Mail-Version dargestellt.)

Willkommen zur ersten Ausgabe des NSU-Watch-Newsletters: „Aufklären und Einmischen“! Ab jetzt melden wir uns einmal im Monat bei euch.

Hallo,

willkommen zur ersten Ausgabe des NSU-Watch-Newsletters: „Aufklären und Einmischen“! Ab jetzt melden wir uns einmal im Monat bei euch.

Wir wollen euch im ersten Teil des Newsletters  –  Aufklären – über unsere aktuellen Prozess- und Untersuchungsausschussbeobachtungen informieren:

  • Beim 2. NSU/Rechter Terror Untersuchungsausschuss Mecklenburg Vorpommern wird in diesem Monat das Thema NSU-Komplex nach anderthalb Jahren Arbeit vorerst beendet. Obwohl noch einige Fragen offen sind, konnten weitere Teile des NSU-Komplexes in Mecklenburg-Vorpommern aufgearbeitet werden.
  • In Berlin hat der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex die Polizist*innen zum Komplex gehört, dabei konnte immer noch nicht zufriedenstellend geklärt werden, warum bis heute kein Täter rechtskräftig verurteilt wurde.
  • NSU-Watch NRW unterstützt den Solidaritätskreis Mouhamed bei der Beobachtung des Prozesses zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé. Der Prozess in Dortmund gegen fünf Polizist*innen musste erkämpft werden, ob er jedoch für Gerechtigkeit sorgen kann, werden erst die nächsten Monate zeigen.
  • Gemeinsam mit der Soligruppe 9. Oktober haben wir den zweiten Gerichtsprozess gegen den Attentäter des antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlags von Halle und Wiedersdorf begleitet. Das Urteil wegen Geiselnahme und Verstoß gegen das Waffengesetz vor dem Landgericht Stendal war von Entpolitisierung geprägt.
In „Gut zu wissen“ geht es um Aktuelles aus dem Themenbereich Rechter Terror und Antifaschismus:
+++ Zweiter NSU-Prozess gegen Susann Eminger? +++
+++ Bundesgerichtshof hebt Urteil im Fretterode-Prozess auf +++
+++ Zweiter Prozess wegen des Brandanschlags auf eine Geflüchtetenunterkunft in Saarlouis im Jahr 1991 gestartet +++
+++ Drei Prozesse gegen die „Patriotische Union“ +++
+++ Ermittlungen gegen Berserker-Clan eingestellt +++

Im zweiten Teil des Newsletters wird es praktisch: Einmischen! Wir sammeln für euch aktuelle Termine beispielsweise für Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen, an denen ihr euch beteiligen könnt.

Wir gedenken im April Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Sie wurden 2006 und 2007 vom NSU ermordet. Termine der Gedenkveranstaltungen findet ihr neben anderen Terminen am Ende des Newsletters.

Kein Schlussstrich!
Eure Antifaschist*innen von NSU-Watch

Kein Schlussstrich in Mecklenburg-Vorpommern!

Seit Sommer 2022 tagt der 2. Untersuchungsausschuss zum Thema NSU/Rechter Terror im Landtag in Schwerin. Zunächst ging es weiterhin um den NSU-Komplex und hier um die Taten in Mecklenburg-Vorpommern, also den Mord an Mehmet Turgut in Rostock am 25. Februar 2004 und die beiden Überfälle des NSU auf eine Sparkasse in Stralsund am 7. November 2006 und 18. Januar 2007. Thema war auch das den NSU unterstützende Neonazi-Netzwerk im Bundesland. Dieser Themenkomplex wird voraussichtlich am 8. April vorerst abgeschlossen. Ab dem 15. April soll das immer noch aktive Nordkreuz-Netzwerk in den Blick genommen werden. Auch weitere rechte Netzwerke stehen auf der To-Do-Liste im Nordosten.

In den ersten Sitzungen im Schweriner Schloss lag der Schwerpunkt auf den Ermittlungen zum NSU-Komplex in den Monaten nach der Selbstenttarnung. Den größten Raum nahm in Mecklenburg-Vorpommern offenbar eine größere Datenbankabfrage unter anderem mit den von der Bundesanwaltschaft gelieferten Namenslisten ein. Hinweise zu potenziellen Unterstützungsstrukturen wurden nicht tiefergehend ausrecherchiert, auch weil die Ermittlungen von Seiten des BKA und Bundesanwaltschaft ausgebremst wurden. Ein Polizist aus Mecklenburg-Vorpommern berichtete, man habe auf eine Anfrage nur die lapidare Antwort bekommen, man betreibe „keine Historienforschung“.

Auch den Neonazi-Netzwerken des NSU wandte sich der Ausschuss zu. Dabei war immer wieder der ehemalige NPD-Abgeordnete David Petereit Thema. Er hatte ab dem Jahr 2000 die Herausgeberschaft des Neonazi-Fanzines „Der Weisse Wolf“ inne, in dem 2002 ein Gruß an den NSU veröffentlicht wurde. Außerdem steht inzwischen im Raum, dass er die NSU/NSDAP-CD/DVD erstellt haben könnte, eine Daten-CD mit 15.000 rechten Bilddateien aus dem Jahr 2003. Bekannt wurde die CD der breiteren Öffentlichkeit Anfang 2014, als sie in Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg gefunden wurde.

Befragungen im Ausschuss ergaben, dass Bundesanwaltschaft und BKA nach eigenen Angaben erst kurz vor den Funden durch einen Artikel in einer rechtslibertären Zeitschrift auf die CD aufmerksam wurden, obwohl sie seit 2005 beim Bundesamt für Verfassungsschutz vorlag. Selbst durch eine oberflächliche Suche nach dem Kürzel NSU hätte man auf die CD stoßen müssen. Im Ausschuss wurde eine E-Mail öffentlich, in der David Petereit 2000 dem Neonazi Thomas Richter alias V-Mann Corelli wegen Bildern für eine „Propaganda-CD“ anfragte. Dies wurde von den Behörden aber nicht weiter ermittelt, da sie ein Verbindung zwischen der CD/DVD und dem NSU-Kerntrio ausschlossen.

Darüber hinaus rückte der Kameradschaftsbund Anklam (KBA) und deren rechte Konzertscheune in Salchow mehrfach in den Fokus des Ausschusses. Der KBA pflegte Beziehungen nach ChemnitzZum Geburtstag der Kameradschaft in der Konzertscheune im Mai 2011 reiste unter anderem NSU-Unterstützer André Eminger an.

Trotz einiger weiterhin offener Fragen wendet sich der Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern ab dem 15. April dem Nordkreuz-Netzwerk zu. Das bedeutet aber nicht, dass ein Schlussstrich unter den NSU-Komplex im Nordosten gezogen werden darf. Die gesellschaftliche und parlamentarische Aufarbeitung muss weitergehen.

Unsere Berichte und Hintergründe zu beiden Untersuchungsausschüssen in Mecklenburg-Vorpommern findet ihr hier.

Welche Rolle spielt die Polizei im Neukölln-Komplex?

Nach jahrelangen Forderungen von Betroffenen und Initiativen wurde 2022 im Berliner Abgeordnetenhaus ein Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex eingesetzt. Nach der Wahlwiederholung 2023 wird der Ausschuss in geänderter Besetzung unter dem Namen „1. Untersuchungsausschuss (Neukölln II)“ fortgesetzt.

Der Ausschuss soll insbesondere die Arbeit von Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz angesichts einer jahrelangen neonazistischen Straftatenserie – vor allem im Süden des Berliner Bezirks Neukölln, teilweise aber auch in Nordneukölln und anderen Bezirke – untersuchen. Von den Brandstiftungen und Sachbeschädigungen an Fahrzeugen und Gebäuden, Drohschmierereien und der Veröffentlichung von Feindeslisten waren vor allem Personen betroffen, die sich gegen Rechts engagieren.

Im Kern handelt es sich um eine militante Anti-Antifa-Kampagne einer relativ kleinen, gut vernetzten Neonaziszene. Obwohl die mutmaßlichen Täter lange bekannt sind, waren die Behörden anscheinend nicht in der Lage, sie zu überführen. Erst 2022 standen zwei Neonazis, Sebastian Thom und Tilo P., u.a. wegen zweier Brandstiftungen an Fahrzeugen 2018 vor Gericht. Der Brand am Fahrzeug des heutigen Linken-Abgeordneten Ferat Koçak drohte auf das Wohnhaus überzugreifen. Von diesen Vorwürfen wurden die Angeklagten jedoch freigesprochen, verurteilt wurden sie wegen kleinerer Delikte.

Zum Neukölln-Komplex gehören auch der unaufgeklärte Mord an Burak Bektaş am 5. April 2012 und der rechte Mord an Luke Holland am 20. September 2015. Insbesondere geht es um die Frage, warum die Behörden auch nach mehr als zehn Jahren keine Ermittlungserfolge bei dem wahrscheinlich rassistisch motivierten Mord an Burak Bektaş vorzuweisen haben.

In Bezug auf den Neukölln-Komplex insgesamt steht die Frage im Raum, ob die fehlenden Ermittlungserfolge strukturelle Gründe in den Behörden haben oder auch an einer Form politischer Deckung der Taten durch Mitarbeitende liegen. Bislang wurden im Ausschuss Betroffene, Sachverständige und zuletzt Zeug*innen aus der Polizei Berlin gehört. Letztere zeigten sich selbst weitgehend zufrieden mit ihrer Arbeit und verorteten die Verantwortung für ausbleibende Erfolge meist an anderer Stelle.

Beamte aus dem Staatsschutz betonten immer wieder, dass sie die rechten Taten in Südneukölln bereits früh als Serie erkannt hätten, bei der Staatsanwaltschaft seien zusammenhängende Taten jedoch teilweise wieder auseianandergerissen worden. Dem Berliner Verfassungsschutz warfen Zeug*innen vor allem im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Fahrzeug von Koçak vor, Erkenntnisse nicht angemessen mit dem LKA geteilt zu haben. Ein entsprechendes Behördenzeugnis des Geheimdienstes sei für die Polizei nicht nutzbar gewesen. Es ist zweifelhaft, dass diese Darstellungen so zutreffen.

Den Darstellungen von Polizist*innen stehen teilweise auch Aussagen von Betroffenen und Sachverständigen entgegen. Diese hatten etwa von nicht sachgemäßer Spurensicherung nach Anschlägen berichtet. Den Hinweisen auf den Täterkreis durch Betroffene und Antifaschist*innen sei die Polizei nicht ausreichend nachgegangen. Betroffene fühlten sich von der Polizei nicht ausreichend informiert. Offensichtliche und bereits bekannte Versäumnisse räumten einige Polizei-Zeug*innen im Ausschuss durchaus ein.

Insgesamt blieb der Erkenntnisgewinn durch den Ausschuss bisher vergleichsweise gering, aber es gab auch Überraschungen. Da war etwa das Eingeständnis eines hochrangigen Kriminalbeamten, dass er vom Berliner Neonazi-Netzwerk „NW-Berlin“ erst durch die Nachfrage einer Abgeordneten erfahren habe, oder die Aussage eines anderen Beamten, dass er von einem Informationsabfluss aus dem Polizeiapparat in die rechte Szene ausgeht.

Der Ausschuss wird von zahlreichen Initiativen beobachtet, darunter NSU-Watch. Betroffene und Initiativen haben die Arbeit der Abgeordneten bereits in mehreren Offenen Briefen kritisiert. Vor beinahe jeder Sitzung findet eine antifaschistische Kundgebung vor dem Abgeordnetenhaus statt.

Informationen, die offenen Briefe und Berichte zu den Ausschusssitzungen findet ihr hier.

#Justice4Mouhamed – Zum Prozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé, erschossen von der Polizei in Dortmund am 8.8.2022

Seit dem 19. Dezember 2023 verhandelt die 39. Strafkammer am Landgericht Dortmund gegen fünf Polizeibeamt*innen der Dortmunder Wache Nord. Sie sind angeklagt mit dem Vorwurf des Totschlags, der gefährlichen Körperverletzung im Amt und der Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung im Amt.

Am 8. August 2022 hatten die Polizist*innen den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé mit sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole tödlich verletzt, zuvor mit Tasern angeschossen und mit Pfefferspray eingedeckt. Mouhamed Lamine Dramé – so eine Strafanzeige, die noch am Abend seines Todes von einer leitenden Beamtin der Polizeiwache Nord gegen (!) ihn gestellt worden war – habe die Polizeibeamt*innen mit einem Küchenmesser „bedroht“.

Das Messer hatte er, zurückgezogen in eine Gebäude-Nische im Garten einer Einrichtung der Jugendhilfe, allerdings zweifellos gegen sich selbst gerichtet. Weil die Mitarbeitenden der Einrichtung sich Sorgen gemacht hatten, Mouhamed Lamine Dramé könnte sich selbst verletzen, hatten sie die Polizei gerufen. Der 16-Jährige war erst wenige Wochen in Dortmund. Am Wochenende vor seinem Tod hatte er von seiner Wohngruppe aus eine jugendpsychiatrische Einrichtung aufgesucht, sei in Gedanken an seine Fluchterfahrungen versunken und voller Sorge um seine Familie im Senegal gewesen, so die Sozialarbeiter*innen der Jugendeinrichtung in ihren Aussagen am 3. und 5. Verhandlungstag.

Der Prozess, der mit Hauptverhandlungsterminen bis in den Herbst 2024 angesetzt ist, wird zu beurteilen haben, ob die Polizist*innen in einer „rechtmäßigen Einsatzsituation“ handelten, als sie wegen vorgeblicher „Fremdgefährdung“ einen Menschen erschossen, den sie eigentlich vor einem Selbstmord hätten bewahren sollen. An den bisher sieben Verhandlungstagen wurde deutlich: Sie hatten kaum den Versuch unternommen, mit Mouhamed Lamine Dramé zu sprechen oder durch nonverbale Kommunikation in Kontakt mit ihm zu treten.

Statt räumlich Distanz zu wahren, traten die Beamt*innen zu nah an Mouhamed Lamine Dramé heran. Sie selbst waren es, die sich so eng vor Mouhamed aufstellten, dass die Verteidigung zum Einsatz von Schusswaffe und Taser jetzt auf den vermeintlichen Nachweis eines rechtskonformen Vorgehens drängen könnte, da die Angeklagten nicht außer Reichweite des Messers und in ihren Augen somit „bedroht“ gewesen seien.

Die Brüder Sidy und Lassana Dramé, vertreten von den Rechtsanwält*innen Lisa Grüter und Thomas Feltes, können seit Ende Januar als Nebenkläger persönlich an den Hauptverhandlungstagen dabei sein. Sie müssen erleben, dass die Polizist*innen, die bisher als Zeug*innen ausgesagt haben, keine Spur von Empathie zeigen. Die Angeklagten selbst schweigen.

Dass es überhaupt einen Prozess gibt, ist zugleich alles andere als selbstverständlich und nur dem hartnäckigen Kampf vor allem der Initiative „Solikreis Mouhamed“ zu verdanken. NSU-Watch unterstützt, wie viele andere solidarische Menschen und Initiativen, dessen Prozessbeobachtung. Der Solikreis veröffentlicht regelmäßig (Kurz-)Berichte zum Prozess. Das freie Radio Nordpol ist mit einer Podcast-Reihe dabei. Eine Mahnwache ist an den Prozesstagen Anlaufpunkt.

Informationen zum den kommenden Verhandlungsterminen, Berichte und Podcast-Folgen findet ihr hier.

Entpolitisierung im Prozess gegen den Attentäter des antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlags von Halle und Wiedersdorf wegen Geiselnahme und Verstoß gegen das Waffengesetz

Der Attentäter des antisemitischen, rassistischen und misogynen Anschlags von Halle und Wiedersdorf an Yom Kippur 5780, dem 9. Oktober 2019, bei dem er Jana L. und Kevin Schwarze brutal ermordete, wurde am 27. Februar 2024 wegen Geiselnahme und Verstoßes gegen das Waffengesetz zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Am 12. Dezember 2022 hatte der Attentäter im Hochsicherheitsgefängnis der JVA Burg mittels einer im Gefängnis selbst gebauten Waffe zwei JVA-Beamte als Geiseln genommen und diese gezwungen, mehrere Sicherheitsschleusen zu öffnen, um seine Flucht zu ermöglichen. Auch Wochen und Monate zuvor war er bereits wegen unkooperativen Verhaltens und anderer Vergehen aufgefallen.

Seit der Geiselnahme sind die beiden Hauptbetroffenen berufsunfähig. Im Prozess vor einer Kammer des Landgerichtes Stendal, aber im Gebäude des Landgerichtes Magdeburg, schilderten sie die Auswirkungen der Tat. Sie waren Nebenkläger im Prozess und ihnen wurde im Urteil auch Schmerzensgeld und Ersatz für Verdienstausfall zugesprochen.

„Es ist an der Zeit, die tief verwurzelten Kontinuitäten strukturellen Behördenversagens aufzuarbeiten. Nur so können wir eine Gesellschaft schaffen, die wachsam gegenüber menschenfeindlichen Ideologien ist und die Perspektiven der Betroffenen ernst nimmt. In Gedenken an Jana L., Kevin Schwarze und alle Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt!“ forderte Naomi Henkel-Gümbel, Überlebende des Anschlags und Nebenklägerin im ersten Prozess gegen den Attentäter zu Beginn des Verfahrens.

Die Kontinuität des Behördenversagens, die auch im Zusammenhang mit strukturellem Rassismus und Antisemitismus steht, hätten in diesem Gerichtsprozess thematisiert und aufgearbeitet werden müssen. Denn rechte Täter*innen wollen mit ihren Taten andere zu weiteren Anschlägen motivieren. Das wollte der Attentäter am 9. Oktober 2019 und auch heute noch sieht er sich selbst als Teil eines größeren rechtsterroristischen Zusammenhangs.

Im Verfahren gab er an, auf die Festnahmen angehender Rechtsterrorist*innen reagiert zu haben, nämlich der Gruppe „Patriotische Union“ um Prinz Reuß und Rüdiger von Pescatore im Dezember 2022. Offen blieben – wie schon im Prozess zum Halle-Anschlag – mögliche konkrete Unterstützer*innen: Der Täter schützt weiterhin sein Netzwerk und verweigert beispielsweise Angaben zur Herkunft des Pulvers in seiner nach eigenen Angaben aus Bauteilen aus dem JVA-Verkauf gefertigten Waffe.

Nach der Beweisaufnahme muss gefragt werden: Hätte die Tat verhindert werden können, wenn die Funktionsweisen rechten Terrors ernst genommen worden wären?

Um die Kontinuität rechten Terrors zu brechen müssen die antreibenden Ideologien von Antisemitismus, Rassismus, Misogynie und White Supremacy klar benannt werden. Die Beweisaufnahme hat gezeigt, dass diese auch die Geiselnahme am 12. Dezember 2022 angetrieben haben.

Im Urteil war davon kein Wort mehr zu hören, vielmehr stellte die Kammer psychische Merkmale des Attentäters als tatbestimmend in den Vordergrund. Durch diese Entpolitisierung setzt das Gericht die körperliche und psychische Gesundheit weiterer Menschen aufs Spiel.



Gut zu wissen:
Aktuelles aus dem Themenbereich Rechter Terror und Antifaschismus

+++ Zweiter NSU-Prozess gegen Susann Eminger? +++

Am 28. Februar gab die Bundesanwaltschaft eine Pressemitteilung heraus: Gegen Susann Eminger wird vor dem Oberlandesgericht Dresden Anklage wegen Unterstützung des NSU und wegen Beihilfe zu einer schweren räuberischen Erpressung mit Waffen erhoben. Der Verdacht habe sich weiter erhärtet, heißt es in der Pressemitteilung.

Das Ermittlungsverfahren gegen Susann Eminger läuft bereits seit der Zeit kurz nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Der Berichterstattung zur Anklage-Erhebung war Tagen zu entnehmen, dass die Anklage gegen Eminger wohl auf Aussagen von Beate Zschäpe zurückgeht. Diese wurde erneut durch die Ermittlungsbehörden vernommen, nachdem sie vor dem 2. Bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss ausgesagt hatte.

Sollte die Anklage zugelassen werden, wird es einen zweiten NSU-Prozess geben und damit durchaus die Chance auf weitere Aufklärung und Aufarbeitung. Dies hängt jedoch auch vom öffentlichen Interesse an dem Verfahren ab. Anklagen gegen das Unterstützungsnetzwerk des NSU wären in den Jahren nach der Selbstenttarnung jederzeit möglich gewesen – wenn umfassend ermittelt worden wäre.

Doch die Ermittlungen wurden eng geführt und auf das NSU-Kerntrio konzentriert. Das konnten auch die Befragungen im 2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern erneut zeigen. Die Ermittlungen gegen weitere Unterstützer*innen sind größtenteils eingestellt.

Sich auf die Aussagen der Haupttäterin zu verlassen wird auch in einem zweiten NSU-Prozess nicht ausreichen. Nichts spricht dafür, dass Zschäpe zu einer wirklichen Aufklärung des NSU-Komplexes beitragen möchte, vielmehr dürfte die Hoffnung auf einen möglichst günstigen Ausgang der in den kommenden Jahren anstehenden Haftprüfung im Vordergrund stehen. Die Deutungshoheit darf in diesem Prozess weder den Neonazis noch den Behörden überlassen werden. Sie gehört den Angehörigen und Überlebenden.

+++ Bundesgerichtshof hebt Urteil im Fretterode-Prozess auf +++

Am 29. April 2018 überfielen die beiden Neonazis Gianluca Bruno und Nordulf Heise zwei Journalisten und verletzten sie schwer. Nach einer Verfolgungsjagd von Fretterode bis ins ca. 8 km entfernte Hohengandern, wurde das Auto der Journalisten vorm Ortseingang zum Stehen gebracht. Die Neonazis zerstörten die Scheiben, zerstachen alle vier Reifen und versprühten Reizgas ins Wageninnere. Einem der Journalisten schlug Gianluca Bruno mit einem unterarmlangen Schraubenschlüssel so heftig auf den Kopf, dass es zu einer Schädelfraktur kam. Dem zweiten Journalisten wurde durch Heise mit einem Messer eine Stichwunde am Oberschenkel zugefügt und die Kameraausrüstung geraubt.

Am 15. September 2022 fällte das Landgericht Mühlhausen ein Urteil das von vielen als skandalös bewertet wurde. „Die Kammer geht nicht von einem gezielten Angriff auf die freie Presse und Journalisten aus,“ sagte die Richterin in dem von Täter-Opfer-Umkehr und Verständnis gegenüber Neonazis geprägten Urteil.

Dieses Urteil hat der Bundesgerichtshof am 13. März 2024 nach der Revision eines Nebenklägers und der Staatsanwaltschaft wegen sachlich-rechtlicher Fehler aufgehoben. Das Verfahren wird nun an eine andere Kammer des Landgerichts Mühlhausen zurückverwiesen und es wird neu aufgerollt.

In der Pressemitteilung der Nebenklage-Vertreter Sven Adam und Rasmus Kahlen heißt es: „Das Landgericht hatte mit einem ersichtlich milden Urteil die zwei Neonazis Gianluca B. und Nordulf H. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von lediglich einem Jahr, ausgesetzt zur Bewährung bzw. zu einer Arbeitsauflage von 200 Arbeitsstunden nach Jugendstrafrecht verurteilt. Die Nebenklage hatte eine Verurteilung insbesondere auch wegen schweren Raubes mit deutlich höheren Strafen und insbesondere die Berücksichtigung der neonazistischen Beweggründe bei der Strafzumessung gefordert. Die Verurteilung wegen schweren Raubes hatte das Landgericht verweigert, weil es die Aussagen der Nebenkläger hinsichtlich des Raubes einer Spiegelreflexkamera in Zweifel gezogen hat und stattdessen insoweit den Neonazis mehr Glauben geschenkt hat, die den Raub und weite Teile des Tatgeschehens insgesamt bestritten haben. Auch neonazistische Beweggründe der Täter wollte das Landgericht nicht erkannt haben.“

Weitere Informationen zum Tatort Fretterode: tatort-fretterode.org/

+++ Zweiter Prozess wegen des Brandanschlags auf eine Geflüchtetenunterkunft in Saarlouis im Jahr 1991 gestartet +++

Am 19. September 1991 wurde Samuel Kofi Yeboah bei einem rassistischen Brandanschlag auf die Geflüchtetenunterkunft ermordet, die er in Saarlouis bewohnte. Immer wieder – und bis zum Jahr 2020 vergeblich – wiesen Antifaschist*innen auf bekannte saarländische Neonazis mit Verbindungen in bundesweite Neonazinetzwerke der späten 1980er und frühen 1990er Jahren als mutmaßliche Täter des Brandanschlags hin.

Doch Ermittlungsbehörden im Saarland zeigten kein Interesse an einer Aufklärung des Mordes an Samuel Kofi Yeboah und einem halben Dutzend weiterer mutmaßlich rechter Anschläge im Saarland der 1990er Jahre. Das änderte sich erst, als sich eine Zeugin bei der Polizei meldete, vor der Neonazi Peter Schlappal, jetzt Peter Schröder, mit seiner Täterschaft im Jahr 2007 geprahlt hatte, und die Generalbundesanwaltschaft im Jahr 2020 die Ermittlungen übernahm.

Im Oktober 2023 wurde Peter Schlappal in einem ersten Prozess zum rassistischen Brandanschlag wegen Mordes, besonders schwerer Brandstiftung, versuchtem Mord und versuchter besonders schwerer Brandstiftung zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Während dieses Prozesses wurde der ehemalige Anführer der Saarlouiser Nazikameradschaft Peter St. festgenommen, weil sich der Verdacht erhärtete, dass er Beihilfe zur Tat geleistet hatte, indem er Schlappal zur Tat ermunterte.

Am 27. Februar 2024 begann vorm OLG Koblenz der zweite Prozess zum Brandanschlag in Saarlouis 1991. Die Anklage dreht sich darum, dass es am Abend vor dem Anschlag in einer Kneipe in Saarlouis ein Gespräch zwischen Schlappal, St. und einem weiteren Neonazi über pogromartige Ausschreitungen in Leipzig-Grünau und Hoyerswerda gab. Laut Anklage soll St. gesagt haben, dass „hier auch mal so etwas passieren“ oder „hier auch mal so etwas brennen“ müsse. Dies wertet die Bundesanwaltschaft als psychische Beihilfe.

Anfang März hob das OLG den Haftbefehl gegen St. nach der Zeugenaussage des dritten Gesprächspartners auf. Dieser hatte angegeben, er habe die Worte St.s lediglich als Aufforderung zu „Randale“ verstanden.

Aus Sicht der Nebenklage ist diese Aussage jedoch in dem Kontext zu werten, dass der Zeuge selbst als Beschuldigter geführt wird und Angst vor dem Angeklagten hat. Zudem hatte er dies bei der Polizei mehrfach deutlich anders geschildert. Insofern bleibt abzuwarten, wie das OLG diese und andere Aussagen, Indizien und Beweise wertet.

Blog aus Sicht der Nebenklage im Prozess wegen des Brandanschlags auf eine Geflüchtetenunterkunft in Saarlouis im Jahr 1991: www.prozess-sls-1991.de/

+++ Drei Prozesse gegen die „Patriotische Union“ +++

In diesem Frühjahr beginnen die Prozesse gegen Mitglieder der rechten Gruppe „Patriotische Union“, bekannt auch als die Gruppe um Prinz Reuß. Der Generalbundesanwalt (GBA) hat nun zunächst 26 Personen angeklagt, die in Untersuchungshaft sitzen. Und zwar an drei verschiedenen Oberlandesgerichten. In Frankfurt sollen unter anderem Heinrich XIII. Prinz Reuß und der ehemalige Bundeswehroffizier Rüdiger von Pescatore vor Gericht stehen, die als Rädelsführer des sogenannten Rats, einer Art Schattenkabinett, beziehungsweise des sogenannten militärischen Arms der Gruppe gelten. In Frankfurt sind außerdem weitere sieben Personen angeklagt, darunter die Richterin und ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, der ehemalige Bundeswehroffizier Maximilian Eder und der Polizist Michael Fritsch. Eine weitere in Frankfurt angeklagte Person, Norbert G., ist zwischenzeitlich verstorben. Das Verfahren in Frankfurt wird wahrscheinlich der wichtigste der drei Prozesse werdenm er beginnt am 21. Mai 2024.

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat die Anklage des GBA ebenfalls zugelassen, hier stehen ab dem 29. April 2024 neun mutmaßliche Angehörige des „militärischen Arms“ vor Gericht. Außerdem wird es ab dem 18. Juni 2024 einen weiteren Prozess in München gegen acht Angeklagte aus „Rat“ und „militärischem Arm“ geben. Darüber hinaus laufen noch diverse weitere Ermittlungsverfahren gegen Personen, die nicht inhaftiert sind.

Die Gruppe war im Dezember 2022 bekannt geworden, als der Generalbundesanwalt diverse Objekte durchsuchen und 25 Personen festnehmen ließ. Vorgeworfen wird der Gruppe, eine terroristische Vereinigung zu sein und ein „hochverräterisches Unternehmen“, also einen gewaltsamen Umsturz, geplant zu haben. Zusätzliche Vorwürfe gegen einzelne Angeklagte umfassen unter anderem Verstöße gegen das Waffengesetz oder die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Einer der in Stuttgart Angeklagten hat bei einer Durchsuchung seiner Wohnung im März 2023 auf die eingesetzten Polizist*innen geschossen und zwei verletzt. Er ist deshalb auch wegen versuchten Mordes angeklagt.

+++ Ermittlungen gegen Berserker-Clan eingestellt +++

Das Ermittlungsverfahren gegen die Gruppierung „Berserker-Clan“ ist von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin bereits im November 2023 wegen nicht hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden. Das ergab eine Kleine Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus „Die Linke“. Als Hauptbeschuldigter war ein namentlich unbekannter 40-jähriger Mann aus Berlin-Marzahn geführt worden. Die Gruppe wurde aufgrund von Zeugenaussagen verdächtigt, sich auf einen „Tag X“ vorzubereiten.

Bereits am 20. Oktober 2021 hatten die Ermittlungen gegen 15 Personen zwischen 26 und 55 Jahren wegen Rädelsführerschaft oder Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation zu bundesweiten Razzien in vier Ländern geführt. Bei den Durchsuchungen wurden entsprechend Waffen und Datenträger, aber auch Devotionalien der Vereinigung sowie Betäubungs- und Dopingmittel beschlagnahmt. Wie aus der dürren Antwort der Berliner Innensenatorin hervorgeht, waren in Berlin vier Wohnungen in Hohenschönhausen, Hellersdorf und Treptow von drei Berliner Verdächtigen von der Razzia im Oktober 2021 betroffen. Hinzu kamen Objekte in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Hessen.

Die Kleine Anfrage findet ihr hier. 

Wir gedenken: 
Mehmet Kubaşık

Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk in Dortmund vom NSU ermordet. Er wurde 39 Jahre alt. Mehmet Kubaşık wurde am 1. Mai 1966 in Hanobası(Türkei) geboren, wo er aufwuchs und schon als Jugendlicher seine spätere Ehefrau Elif kennenlernte. 1991 floh er gemeinsam mit ihr und der gemeinsamen Tochter Gamze nach Dortmund. Dort bekam das Paar zwei weitere Söhne. Die Familie nahm später die deutsche Staatsbürger*innenschaft an. Nach einem Schlaganfall machte sich Mehmet Kubaşık selbstständig. Er eröffnete einen Kiosk in der Dortmunder Nordstadt, in dem die ganze Familie aushalf.

Der Mord an Mehmet Kubaşık war der achte Mord des NSU. Obwohl 2006 vollkommen klar war, dass es zwischen den Opfern der Mordserie keine persönliche Verbindungen gab, richteten sich die Ermittlungen – wie zuvor schon bei den anderen Opfern der rassistischen Morde – gegen die Familie und das Umfeld des Ermordeten.

Seine Familie kämpft bis heute um Aufklärung. Im November 2021, vor dem Hintergrund von 10 Jahren Wissen um den NSU-Komplex, schrieb seine Frau Elif Kubaşık:

„Ich frage mich immer wieder, wie alle im Verfassungsschutz, der Polizei oder Staatsanwaltschaft, die mehr wissen als sie sagen, die nicht alles aufgeklärt haben, ruhig schlafen können. Ich kann bis heute nicht ruhig schlafen, weil es noch so viele offene Fragen gibt.

Es bleibt für mich die Frage nach Gerechtigkeit. Diese hat das Verfahren in München nicht für mich gebracht. […] Es ist so viel bekannt geworden über das Netzwerk. Jeder hätte bestraft werden müssen, der zum NSU gehörte, ihm geholfen hat. Sie haben nur die wenigen vor Gericht gebracht.

Dann ist da die Frage des Gewissens. Ich frage mich immer wieder, wie alle im Verfassungsschutz, der Polizei oder Staatsanwaltschaft, die mehr wissen als sie sagen, die nicht alles aufgeklärt haben, ruhig schlafen können. Ich kann bis heute nicht ruhig schlafen, weil es noch so viele offene Fragen gibt.

Aber in der Gesellschaft hat sich etwas getan, das spüre ich. Wir werden viel eingeladen, die Leute sind neugierig, sie wollen etwas tun, Studierende, Schüler und Schülerinnen wollen von uns lernen, wollen solidarisch sein. Die Erinnerung an Mehmet wird hier hochgehalten. Das zeigt, wie sehr Dortmund unser Zuhause ist.“

Halit Yozgat

Am 6. April 2006, wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel vom NSU ermordet. Er wurde 21 Jahre alt. Halit Yozgat wurde 1985 in der Holländischen Straße in Kassel geboren. Er war das vierte Kind seiner Eltern Ayşe und İsmail Yozgat, die aus der Türkei stammen.

Nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, eröffnete Halit Yozgat im Jahr 2004 mit der Unterstützung seiner Familie ein Internetcafé in der Holländischen Straße. Neben seiner Arbeit dort besuchte er die Abendschule, um sein Abitur nachzuholen. Er wollte Informatik studieren.

Am 6. April 2006 sollte İsmail Yozgat seinen Sohn im Internetcafé ablösen. An diesem Tag verspätete sich İsmail Yozgat. Sein Sohn hatte ihm Geld gegeben, damit er sich selber ein Geschenk zu seinem Geburtstag am darauffolgenden Tag aussuchen könne. Als İsmail Yozgat in das Café kam, fand er seinen Sohn leblos hinter dem Tresen. Seinen Geburtstag feierte İsmail Yozgat 15 Jahre lang nicht mehr. Auf Wunsch seiner Enkel feiert er ihn wieder.

Schon 2006, nur kurze Zeit nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, schloss sich die Familie mit anderen Angehörigen zusammen und ging in Kassel und Dortmund auf die Straße. Ihre Botschaft und ihr Aufruf: „9 Opfer – Wir wollen kein 10. Opfer“. Sie forderten eine umfassende Aufklärung und die Berücksichtigung eines möglichen rechten Motivs in der Ermittlungsarbeit.

Nach der Selbstenttarnung des NSU zeigte sich, dass die Familien mit ihrer Vermutung eines rechten Hintergrundes der Mordserie recht hatten. Doch bis heute ist der Mord an Halit Yozgat nicht vollständig aufgeklärt.

So kämpft die Familie von Halit Yozgat weiterhin um eine umfassende Aufklärung aller Fragen zum Mord in Kassel – besonders zur Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme, der zum Tatzeitpunkt des Mordes am Tatort war.

Michèle Kiesewetter

Am 25. April 2007 wurde Michèle Kiesewetter in ihrem Streifenwagen auf der Theresienwiese in Heilbronn vom NSU ermordet. Sie wurde 22 Jahre alt. Ihr Kollege Martin A. überlebte schwer verletzt. Michèle Kiesewetter wurde am 10. Oktober 1984 in Oberweißbach in Thüringen geboren. Ihr Onkel war Polizist und 2002 entschied auch sie sich, zur Polizei zu gehen. Ab 2003 war sie Teil der Landesbereitschaftspolizei Baden-Württemberg.

Am 25. April 2007 verbrachte sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Martin A. die Mittagspause auf der Theresienwiese in Heilbronn. Im gemeinsamen Dienstwagen sitzend sahen sie die sich von hinten nähernden Täter nicht kommen. Die Täter schossen dann vermutlich unvermittelt. Martin A. überlebte den Anschlag schwer verletzt.

A. sagte am 75. Verhandlungstag im Münchener NSU-Prozess aus. Im Krankenhaus, so A., habe es zunächst geheißen, er habe einen Unfall gehabt. Schließlich sei ihm auf die Frage nach seiner Kollegin erklärt worden, dass „Michèle nicht mehr da“ sei und dass er mit einem Kopfschuss im Koma gelegen habe. Da sei er in Tränen ausgebrochen und habe dem Kollegen in den Bauch geboxt, weil er gedacht habe, der wolle ihn hochnehmen.

Zu weiteren Auswirkungen des Anschlags auf sein Leben heute befragt, erzählte A., dass es da sehr viele gebe. Vor allem das Trauma: „So’n Attentat steckt man nicht so einfach weg!“ Seine Kollegin sei danach einfach weg gewesen. Er schlafe nicht gut, wache auf. Sein Kindertraum, ein normaler Polizist zu werden, sei dahin.

Der Mord an Michèle Kiesewetter hätte wohl verhindert werden können, wenn die Polizei auf die Angehörigen der Mordopfer der rassistischen Mordserie gehört und in Richtung eines rechten Motivs ermittelt hätte. Die Angehörigen demonstrierten 2006 in Kassel und Dortmund und forderten: „Kein 10. Opfer“. Dieses zehnte Opfer wurde ein knappes Jahr später Michèle Kiesewetter. Sie ist das letzte bekannte Mordopfer des NSU. Der Mord ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.



+++ Termine +++

3. April, Kassel: Podiumsgespräch: „Warum kein Schlussstrich?“ Ein Gespräch mit Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek. 18 Uhr, Kunsthochschule Kassel. Weitere Infos hier.

4. April, Dortmund: 12. Tag der Solidarität 2024 – in Erinnerung an Mehmet Kubaşık und alle Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt! 17 Uhr in der Mallinckrodtstr. 190. Weitere Infos hier.

4. April, Berlin: Kundgebung „Luke Holland erinnern“ anlässlich des 40.Geburtstag von Luke Holland. 17.30 Uhr an der Todesstelle Ringbahnstrasse /Walter Straße. Weitere Infos hier.

6. April, Kassel: Öffentliche Gedenkveranstaltung anlässlich des 18. Todestags von Halit Yozgat. Veranstaltung der Familie Yozgat und der Stadt Kassel 15 Uhr auf dem Halitplatz. Weitere Infos hier.

6. April, Berlin: Gedenkkundgebung zum Gedenken an Burak Bektaş: „12 Jahre ohne Burak – 12 Jahre ohne Aufklärung“. 15 Uhr, Gedenkort Burak Bektaş, Rudower Straße / Möwenweg. Weitere Infos hier.

8. April, Schwerin: Vorerst letzte Sitzung des 2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern zum NSU-Komplex. Sachverständigenanhörungen von Prof. Barbara John und Heike Kleffner. Ab 10 Uhr im Schweriner Landtag. Weitere Infos hier.

9. April, Schwerin: Aufarbeitung des NSU in MV – Infoveranstaltung in Schwerin mit NSU-Watch. 19 Uhr im Schleswig-Holstein Haus, Puschkinstraße 12. Weitere Infos hier.

13. April, München: Feministisch und selbstbestimmt: Pro Choice. Gegen den rechten Marsch fürs Leben. Demonstration 10:30 Uhr am Odeonsplatz. Weitere Infos hier.

15. April, Schwerin: Erste Sitzung des  2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern zum Nordkreuz-Netzwerk. Sachverständigenanhörungen von Dirk Laabs und Prof. Dr. Matthias Quent. Ab 10 Uhr im Schweriner Landtag. Weitere Infos hier.

3., 17. und 22. April, Dortmund: Prozess gegen fünf Polizist*innen wegen des Todes von Mouhamed Lamine Dramé. Mahnwachen vor dem Gericht ab 7:30 Uhr. Weitere Infos hier.

12. und 26. April, Berlin: Erste Sitzungen des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex zum unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş. Kundgebungen voraussichtlich ab 8:30 Uhr vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Weitere Infos hier.

29. April, München: „’Eisen und Feuer‘ – Warum die Taten der rechtsterroristischen ‚Gruppe Ludwig‘ aus dem Bild gefallen und ihre Opfer in Vergessenheit geraten sind.“ Vortrag von Eike Sanders. 19 Uhr im Feierwerk, Orangehouse, Hansastr. 41. Weitere Infos hier.

30. April, DortmundMehmet Kubaşık Cup 2024. 16 Uhr, Nordstadt-Liga Stadion.



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(Redaktion: ck, scs)