„Wir wollten uns frei machen vom Faktor der Überstrahlung“ – 29. Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex (26. April 2024)

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Kundgebung vor dem Abgeordnetenhaus Berlin. Zu sehen ist ein blaues Banner mit der Aufschrift: "Burak unvergessen. Aufklären & Gedenken! Burak´ı unutma. Hatırla ve Aydınlat!" Auf dem Banner ist eine stilisierte rote Kappe dargestellt.In der 29. Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex im Berliner Abgeordnetenhaus ging es erneut um den Mord an Burak Bektaş. Helga Seyb sagte als erste Zeugin aus. Seyb war bis zu ihrer Pensionierung bei „ReachOut“ (Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Bedrohung in Berlin) tätig. Sie begleitet die Familie Bektaş seit Jahren. Neben der Befragung von Seyb sagten in der 29. Sitzung der Polizist Christian S. sowie der Staatsanwalt Martin Knispel aus. Geprägt wurde die Sitzung neben der Aussage von Helga Seyb besonders durch die Ausführungen von S. von der „AE OFA“.

Die Sitzung leitete zu Beginn der CDU-Abgeordnete Stephan Standfuß als „lebensältester“ Abgeordneter in Vertretung seines zeitweise abwesenden Parteikollegen Stephan Lenz. Der wiederum übernahm als Vertreter des heute gänzlich verhinderten eigentlichen Vorsitzenden Vasili Franco (Grüne) später die Sitzungsleitung.

Die Aussagen der Zeugen werden im Folgenden nach bestem Wissen und Gewissen sinngemäß und zusammenfassend wiedergegeben.

Zeugin Helga Seyb

Ihre einleitenden Bemerkungen bezeichnete Seyb selbst als „ein bisschen eine Abrechnung“. Seyb berichtete über verschiedene Erlebnisse, die sie in ihrer Beratungstätigkeit mit Vertreter*innen der Polizei hatte. Sie berichtete etwa von der folgenden Situation: Als sie einem Beamten nach einem rassistischen Angriff in der Weitlingstraße in Berlin-Lichtenberg einen Vorschlag für einen Ermittlungsansatz gemacht habe, habe der Beamte geantwortet, dass im Hinblick auf den zuvor stattgefundenen dschihadistischen Anschlag auf dem Breitscheidplatz 2016 „jeder“ diese Tat begangen haben könnte. Schon vor der NSU-Selbstenttarnung habe man oft nicht gewusst, was hinter einer Tat steckt, so Seyb, weil es Gründe gebe der Definition der Polizei nicht zu vertrauen. Nach dem November 2011 hätten die Nerven aber blank gelegen, weil man bis dahin zu sehr auf die Behörden vertraut habe. Seyb benennt diesen Umstand als einen der Gründe, warum 2012 die Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş gegründet wurde.

In Bezug auf die Beratung der Familie Bektaş kritisierte Seyb etwa, dass sie wegen des Handelns der Behörden erst spät mit ihrer Beratungstätigkeit habe beginnen können. Seyb berichtet davon, dass eine Beamtin namens „Susanne“ regelmäßig bei der Familie gewesen sei, aber bis heute unklar sei, was diese Person eigentlich gemacht habe. Vorschlägen der Familie zu möglichen Ermittlungshandlungen sei die Polizei nicht gefolgt, so Seyb. Sie geht auch auf diffamierende Berichterstattung über Burak im Boulevardblatt „Berliner Kurier“ ein, die laut der Zeitung auf Informationen aus der Polizei basierte. Diese Berichterstattung habe die Familie Bektaş verletzt. Von Seiten der Polizei habe es dann auf Nachfrage geheißen, es sei bei einem aus 27.000 Personen bestehenden Polizeiapparat nicht möglich zu ermitteln, von wem die Informationen stammen. Seyb: „Das würde bedeuten, je größer der Apparat, umso unbehelligter können sie agieren.“

Helga Seyb wies auch darauf hin, dass Melek Bektaş, die in der 28. Sitzung noch als Besucherin anwesend war, an der aktuellen Sitzung nicht teilnehmen könne. Die letzte Sitzung sei, so Seyb, insbesondere wegen der Aussage des Staatsanwaltes Horstmann zu belastend für Frau Bektaş gewesen. Die Familie habe nie gedacht, dass der Mörder ihres Sohnes nicht gefunden wird, und sei darüber sehr enttäuscht. Insbesondere Melek Bektaş könne es auch bis heute nicht verwinden, wie sie vom Mord an ihrem Sohn erfahren hat. Die Familie habe nicht von der Polizei, sondern von einem Verwandten erfahren müssen, dass Burak etwas Schlimmes passiert ist. Melek Bektaş habe auf dem Polizeiabschnitt am frühen Morgen eine Dreiviertelstunde warten müssen, ohne Informationen zu erhalten. Nach Einschätzung der Familie, so Seyb, komme Rolf Z., der verurteilte Mörder des am 20. September 2015 getöteten Luke Holland, auch als Mörder von Burak in Betracht. Es stelle sich die Frage, warum die Polizei ihre Arbeit nicht richtig mache, warum sie eine Mauer gegen die Familie errichtet habe, warum die Familie selbst so viel Kraft aufbringen müsse, damit ermittelt wird. Der Untersuchungsausschuss wiederum agiere, so Seyb, spontan und ungeplant. Das aktuelle Thema sei kurzfristig anberaumt worden und auch noch in zeitlicher Nähe zum Jahrestag des Mordes an Burak.

Die vollständigen einleitenden Bemerkungen von Helga Seyb finden sich auf der Webseite der Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş (PDF).

In ihrer Befragung ging Seyb auf viele weitere Punkte ein. Angesichts der Arbeit der Polizei kommt sie zu dem Ergebnis, dass man den Polizeiapparat vielleicht verkleinern müsse. Zur Frage von Standfuß, was sie sich bei den Ermittlungen gewünscht hätte, sagt Seyb, dass es zwischenzeitlich umfangreiche Ermittlungen gegeben habe, aber das sei ein bisschen zu spät gewesen. Ihr Wissen stamme, so Seyb, aus der Begleitung der Familie Bektaş zu Anwält*innen. Sie nennt dann den Umstand, dass es Funkzellenabfragen und Haus-zu-Haus-Befragungen gegeben habe, diese aber nicht zu Ende bearbeitet worden seien. Sie zitiert indirekt Ayşe Yozgat, die Mutter des am 5. April 2006 in Kassel vom NSU ermordeten Halit Yozgat. Diese hatte nach dem Urteil im Münchener NSU-Prozess gesagt, das Gericht habe gearbeitet wie die Bienen, aber keinen Honig gemacht. Es sehe so aus, so Seyb im Weiteren, dass es zum Teil ein „Fleißproblem“ gebe. Es sehe so aus, als hätten die Ermittelnden gearbeitet, aber es sei nicht so. Seyb berichtet unter anderem, dass am Tatort Leute gestanden hätten, die mindestens von Zeug*innen so beschrieben wurden, dass es vorher eine Begegnung mit denen gegeben habe. Und die seien nicht einmal befragt worden. Von Zeug*innen sei die Situation am Tatort als extrem chaotisch und ohne Plan beschrieben worden. Leute, die die Opfer getröstet hätten, seien von der Polizei schlecht behandelt worden. Seyb: „Es geht nicht nur ums LKA, es ist auf allen Ebenen ein Desaster. Wenn die mit einer Tat konfrontiert werden, die nicht ins Raster passt, wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen.“

Auf Frage geht die Zeugin auf eine Veranstaltung in Gropiusstadt am 4. April 2012 ein, bei der Neonazis des Platzes verwiesen worden waren. Gropiusstadt sei „nicht sehr weit weg, für die Polizei aber schon“. Wenn die Polizei sage, sie erkenne ihre „Schweine am Gang“, dann müsse sie auch wissen, wer die weggeschickten Personen waren. Es sei jahrelang so getan worden, als sei das nicht klar, dabei sei es in den Akten gewesen: „Sie wussten nicht mal, welche Beamte das waren.“ Seyb kritisiert außerdem die „Ignoranz“, dass die Polizei nicht klar habe, welche Bedrohungssituationen Menschen mit Migrationsgeschichte und mittlerweile auch alle als links betrachteten Personen haben. Die Beamtin E., die später die Ermittlungen übertragen bekam, sei da vielleicht die löbliche Ausnahme. Seyb fragt in Bezug auf Ermittlungsschritte, die lange Zeit ausgeblieben sind: „Warum ging es, als es eigentlich zu spät war. Ich stehe nicht auf Verschwörungen, aber man kriegt eine Krise: Warum machen die das nicht, warum fragen sie da nicht nach? Oder machen sie es und dokumentieren es nicht?“ Seyb verweist auf den Zeugen Hübner, der gesagt habe, dass Rolf Z. nichts mit Neukölln zu tun habe: „Weiß der nicht, dass die Ringbahnstraße in Neukölln ist?“ [Der Tatort des Mordes an Luke Holland liegt in der Ringbahnstraße.] Mit Blick auf die 387 liegengebliebenen Akten beim Staatsschutz [unter Verantwortung von Hübner]sagt Seyb: „Da sind wir wieder bei der Frage: 27.000 Leute sind offensichtlich 26.500 zu viel.“ Seyb empfiehlt den Podcast „Wer hat Burak erschossen?“. Dessen Autor Philip Meinhold habe relativ leicht herausgefunden, was es mit dem Hinweisgeber auf Rolf Z. auf sich hat.

Auf die Frage des Grünen-Abgeordneten André Schulze, wann die Polizei der Familie gegenüber ein rechtsextremes, rassistisches Motiv erwähnt habe, sagt Seyb: „Unser Gefühl war ein bisschen so: Als es einen Anwaltswechsel gegeben hat und Mehmet Daimagüler in Rahmen einer Pressekonferenz das nochmal thematisiert hat, möglicherweise da. Aber das war dann so was wie 2015.“ Sie wisse, so Seyb, dass Rechtsanwalt Daimagüler von einer Liste von Nazis gesprochen habe, die Teil der Akten sein solle: „Aber uns und auch den Anwälten ist nicht aufgefallen, dass größere Aktivitäten entfaltet wurden in Richtung von mehr als zwei Nazis. Sie haben Listen erstellt – das machen Sie gerne, Listen erstellen – und dann nicht weiter ermittelt.“ Der Staatsschutzbeamte Lars M. habe gesagt, die Neuköllner Nazis hätten keine Waffen: „Woher wissen sie das?“ Seyb fragt, ob es da eine V-Person gebe oder andere Hinweise, oder ob das nur Lars M. sei, der das sagt. Die Ermittelnden hätten sich auf eine „ältere Person zwischen 40 und 60“ konzentriert, was einige ausschließe.

Auf Frage der SPD-Abgeordneten Wiebke Neumann sagt Seyb, in Bezug auf den Mord an Burak Bektaş habe sie selbst keinen direkten Kontakt zu Ermittlungsbehörden gehabt außer zu Hübner, „um ab und zu ihm mal was anzutragen“. Seyb: „Der Hübner redet, Herr Horstmann hat in den 12 Jahren nicht geredet, außer vielleicht im Podcast und auf der Pressekonferenz.“ Horstmann habe, obwohl er der Chef des Ermittlungsverfahrens sei, keine Idee ins Verfahren eingebracht, außer der, es einzustellen. Seyb: „Da kann man sagen: Okay, das hat Herr Hübner vielleicht verhindert.“ Ob sich im Laufe der Jahre etwas geändert habe bei der Polizei, könne sie nicht sagen. Die Führung des Apparates habe gelernt, dass man kommunizieren muss. Seyb verweist auf den Tempelhofer Dialog des LKA, bei dem NGOs eingeladen würden und „sinnloses Zeug“ geredet werde. Seyb: „Wenn sie ihre Arbeit machen, braucht es das nicht. Ja, die kommunizieren mehr, aber ich kann nicht beurteilen, ob sich das ausschlaggebend was geändert hat. Sie sagen, Personal ist nicht das Problem, Struktur ist nicht das Problem. Dann muss man sich fragen: Was ist das Problem?“

Seyb rekurriert auf den 2023 verstorbenen Michael Knape, der vor seiner Pensionierung 2014 die Polizeidirektion 6 leitete, die große Teile Ost-Berlins umfasste. Knape war für sein hartes Vorgehen, vor allem gegen Neonazis, bekannt. Seyb: „Das war vielleicht nicht immer vom Rechtsstaat gedeckt, aber es war an vielen Stellen unterhaltsamer, sag ich mal. Er hat die Nazis offenbar so genervt, dass er selber bedroht wurde. Von den Beamten, über die wir hier reden, muss sich niemand bedroht fühlen.“ Auf die Frage, ob sie meine, dass es an den handelnden Personen liegt, sagt Seyb unter anderem: „Ich würde es gerne verhindern, dass wir hier sitzen und sagen: Okay, es gibt so’ne und solche. Das würde bedeuten, es ist zufällig: Nee, also schwierig.“ Weiter fragt Neumann unter anderem, ob und wie die Frage der möglichen Verfahrenseinstellung bei der Familien angekommen sei. Seyb: „Der Anwalt holt regelmäßig die Akten und da stehen solche Dinge drin, dass Horstmann an einer Stelle Hübner nahelegt, das Verfahren einzustellen.“ Auf eine Kleine Anfrage hin sei behauptet worden, das sei nie der Fall gewesen aus den Akten ergebe sich laut Anwalt aber etwas anderes.

Auf Frage des Abgeordneten Niklas Schrader (Linke) zu einer möglichen Vermittlung Betroffener zu anderen Beratungsstellen statt ReachOut durch die Polizei sagt Seyb, sie glaube, dass der Weiße Ring bei der Polizei sehr beliebt sei; der vergebe Beratungsschecks. Es habe solche Versuche durch die Polizei gegeben, so Seyb, „aber wir wissen natürlich nicht, wie viele dann wirklich nicht zu uns kommen deswegen.“ ReachOut sei die einzige Stelle, die eine Fachberatung macht. Deswegen sei es möglich, dass Menschen zu ihnen kommen, wenn der Weiße Ring einen Beratungsscheck ausgibt. Schrader verweist auf die Aussage des Zeugen Lars M. im Ausschuss [der sich abfällig über ReachOut geäußert hat]und fragt Seyb nach ihrer Sicht. Die Zeugin berichtet, sie sei am Anfang am Telefon als Linksextremistin angeschrien worden. Sie beschwere sich dann immer. Die Idee bei der Polizei sei immer gewesen, sie hätten es mit irgendwelchen Leuten zu tun, die ihnen nur auf die Nerven gehen. Wenn sie mit einem Jugendlichen dahin gehe, so Seyb, den die Beamt*innen für einen Antifa halten, fragten die den Jugendlichen, was der in seiner Freizeit macht. Seyb: „Ja, Herr M. hat sich geärgert, erheblichen Ausmaßes, ganz einfach weil Betroffene damals wegen eines Angriffs meine ich von Thom nicht mit denen sprechen wollten, sondern direkt zur Staatsanwaltschaft gegangen sind. Dann fühlen die sich auf den Schlips getreten, fühlen sich gestört in ihrem Arbeitsablauf. Die haben am Anfang glaube ich nicht verstanden, dass Opferberatung, wenn ich mit denen gut arbeite, für alle gut ist. Wenn sie aber immer weiter ihren Quatsch machen, gibt es eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Ich verstehe, dass das nervig ist, aber das ist ja unser Job.“ Weiter fragt Schrader unter anderem: „Ist die Tatsache, dass die Familie in der Tatnacht alleine gelassen wurde, aufgearbeitet worden?“ Ihres Erachtens nicht, so die Zeugin. Die Familie sei auf dem Weg zum Polizeiabschnitt an der Absperrung des Tatorts vorbeigefahren, und habe gedacht, dass da vielleicht ein Rohr geplatzt ist. Seyb: „Dass jemand das erklärt hätte, ist zumindest bei der Familie nicht angekommen.“ Die Frage, ob sich die Familie in Bezug auf den Hinweis auf Rolf Z. ausreichend informiert gefühlt habe über den Ermittlungsstand, verneint Seyb. Hübner habe immer gesagt, dass es keinen Bezug zu Neukölln gebe: „Frau Bektaş hat immer gesagt: Woher weiß der das?“ Frau Bektaş habe Hübner genau zweimal getroffen, es habe keinen Rücklauf oder eine Erklärung gegeben, was er gemacht hat. Der Anwalt habe irgendwann mal zu dem Bereich Rolf Z. einen Fragekomplex zur Staatsanwaltschaft geschickt und der sei komplett nicht beantwortet worden. Seyb: „Es heißt, Z. habe gesagt, er war es nicht. Für die Familie stellt sich die Frage: Was macht ihr um herauszufinden, ob der irgendwie in Frage kommt?“

Auf Frage von Standfuß nach der Beamtin „Susanne“ sagt Seyb, dass es sich bei Melek Bektaş so angehört habe, als habe die sich häufiger bei der Familie gezeigt. Diese „Susanne“ habe nie etwas aufgeschrieben. Der Anlass sei unklar gewesen und auch, ob es sich um eine Polizistin oder eine Psychologin handelt. Sie selbst habe „Susanne“ mal in Uniform auf einer Versammlung gesehen, so Seyb, und da habe „Susanne“ gesagt, sie sei für die Familie da. Der Beamte, der bei der Versammlung die Polizei geleitet habe, habe gesagt, die „Susanne“ mache „irgendwas mit Interkultureller Arbeit“. Es sei unsinnig, so Seyb, schon weil es nicht dokumentiert worden sei: „Immer mit Blick auf unsere 27.000.“ Die Beamtin sei von der Direktion 5 gewesen, das sei auch komisch, denn es handele sich ja um ein Mordermittlungsverfahren. [Mordermittlungen tätigt in Berlin nur das LKA.] Auf Frage zum Zeitraum des Einsatzes von „Susanne“ sagt Seyb, das wisse sie nicht, am Anfang und 2013, 2014 und 2015 immer noch. Sie wisse aber nicht in welchem Umfang. Erinnerungen von ganz am Anfang seien bei Melek Bektaş schwierig. Aber die „Susanne“ sei auf eine Art und Weise präsent gewesen, dass es in Erinnerung blieb. Auf Nachfrage, ob es vielleicht um Ermittlungsansätze in der Familie gegangen sei, sagt Seyb, dass es dann aber Aufzeichnungen hätte geben müssen. Standfuß: „Es gab ja die Kritik, dass es zu wenig Informationen gab. Kann es gewesen sein, dass diese Susanne sich darum kümmern sollte?“ Seyb: „Die Idee hatte ich auch, dann müsste sie aber Opferbeauftragte gewesen sein.“ Das sei die „Susanne“ aber nicht gewesen, genauso wenig wie Polizeipsychologin. Mit den Opferbeauftragten der Polizei habe sie sich selbst auch getroffen, so Seyb. Standfuß fragt, ob es Ermittlungsansätze gegeben habe, die man der Polizei geben wollte, die abgelehnt worden sind. Seyb: „Abgelehnt, das ist schwierig. Wenn ich einen Hinweis gebe oder sage, die Person könnte etwas dazu sagen, das sind ja eher Hinweise, die abgearbeitet werden müssten. Und die Frage wäre, wie werden sie bearbeitet. Ein Hinweis kann ja nicht abgelehnt werden, aber die Bearbeitung kann dann unvollständig oder gar nicht erfolgen, also dass man sagt: Hat nichts damit zu tun. Leuchtendes Beispiel ist Z., wo gesagt wird, das hat nichts mit Neukölln zu tun.“

Auf Frage von Schulze auf den Hinweisgeber auf Rolf Z. sagt Seyb: „Es gab die Information, dass das von jemandem kam, der ihn mitgenommen hat. Da war immer die Rede von einem Pornokinobesitzer, glaube ich, der auch gerne mit der Polizei geredet hat.“ Der Hinweis darauf, dass Z. zu seinem Bruder gewollt habe, um dort zu „ballern“, sei schon aus 2013, so Seyb, und sei dann „eigentlich nicht bis oberflächlich“ bearbeitet worden. Seyb: „Das ist auch der Vorwurf, den die Familie Holland der Polizei macht, dass sie das damals nicht genügend untersucht haben.“ Es sei einfach beschlossen worden, dass das nichts mit Neukölln zu tun hat. Seyb: „Im Nachhinein stellte sich raus, es gab den Bruder und es war länger her. Der Bruder war gestorben, aber es gab ihn. Für Hübner gab es ihn halt nicht, so habe ich das in Erinnerung.“ Herausgefunden worden sei es, weil die Eltern von Luke Holland zusammen mit Rechtsanwalt Daimagüler in einem Raum gewesen seien seien und deren Anwalt Onur Özata habe den Namen eingegeben. Die Frage, ob mal geklärt worden sei, warum in der rechtsextremen Szene in Neukölln nicht stärker ermittelt wurde, verneint Seyb: „Mein Eindruck war, dass er nicht der Fachmann ist für die rechte Szene in Neukölln.“ Schulze: „Ist es hier besonders auffällig gewesen, dass insbesondere der Staatsanwalt nicht kommuniziert hat?“ Der Staatsanwalt Horstmann habe mit niemandem gesprochen, kein einziges Mal, jedenfalls nicht öffentlich, so Seyb: „Wer spricht ist Herr Steltner [Pressesprecher der Berliner Staatsanwaltschaft], der seine Hülsen gesagt hat: ‚Wir haben jeden Stein umgedreht, blabla.‘“ In anderen Verfahren habe sie ihn angerufen und gefragt, kann das rassistisch sein: „Da sagte er, nee, rassistisch ist es nicht, eher Frauenhass. Also er kann sprechen, auch wenn er das mit dieser auffälligen Kälte tut.“ Jetzt nach Horstmanns Aussage im Ausschuss wisse man, dass die Staatsanwaltschaft sich nicht als Herrin des Verfahrens gesehen habe. Es sei neu, dass die Staatsanwaltschaft sich hinsetzt und sagt, sie habe da nichts zu tun gehabt: „Früher haben sie immer gesagt, wir haben zu viel zu tun, wir können erst nach drei Jahren anklagen.“ Schulze: „Wir hatten auch den Eindruck, dass er sich quasi als Durchlaufstelle der Kommunikation mit der Mordkommission verstanden hat.“ Seyb ergänzt, dass Horstmann nach ihrem Verständnis auch nichts davon gewusst habe, als es um das „leidige Thema“ ging, ob es eine Fallanalyse gab oder nicht. Seyb: „Da wusste Horstmann nichts davon. Aber ich glaube, er wusste einfach von allem nichts, weil er sich nicht drum gekümmert hat. Inzwischen denke ich, dass es ihm scheißegal war.“ Auf die Frage, ob die Besuche der „Susanne von der Polizei“ angekündigt oder spontan gewesen seien, sagt Seyb, sie glaube, dass die nicht angekündigt waren. Melek Bektaş habe auch noch von zwei anderen Männern erzählt, die gekommen seien und hätten wissen wollen, wie es ihr geht: „Befremdlich.“

Auf Frage von Neumann verneint Seyb, dass die Opferbeauftragten der Polizei von selber Kontakt mit der Familie aufgenommen hätten. Sie selbst habe mal ein Treffen mit denen gehabt und da habe die Opferbeauftragte aus Neukölln oder Kreuzberg, gesagt, dass der Mord aufgrund von Ruhestörung, Lärmbelästigung stattgefunden habe. Seyb: „Meine Idee war: Wenn in dieser Stadt lauter Morde wegen Lärmbelästigung stattfinden, dann wüssten wir das.“ Sie habe sich gefragt, was die Opferbeauftragten der Polizei eigentlich machen außer Flyer verteilen. Sie habe aber insgesamt mit diesen Beauftragten Schwierigkeiten, so Seyb. Das Treffen sei ehrlich gesagt, so Seyb, ein bisschen vertane Zeit gewesen: „Die hatten relativ viele Ideen zu häuslicher Gewalt. Zu rechter Gewalt, Nazis gar nichts. Ich erinnere mich an die vom Wedding, die mir sagte: ‚Nee, Nazis gibt es bei uns nicht, es gibt hier ja so viele Türken.‘“ Sie habe die dann nicht für kompetent gehalten, so Seyb. Seyb weiter: „Ich kann das auch alles sagen, ich bin ja auf Rente.“

Schrader fragt zu dem Vorgang mit dem „Berliner Kurier“. Die Zeugin sagt, dass ihre Idee, um die Quelle aus der Polizei zu finden, gewesen sei, dass man sich mal das Raubdezernat anschaut, denn es sei ja die Rede von einem Raubüberfall gewesen. Seyb: „Meiner Kenntnis nach hat es keinen Versuch gegeben irgendwo zu ermitteln: Woher kommt die Information?“ Der Kurier habe unter Androhung von erheblichen andernfalls zu zahlenden Geldern eine Gegendarstellung veröffentlicht. Die Familie habe die Anwaltskosten dafür aber auch zahlen müssen: „Natürlich haben die das gemacht, weil das so verletzend war. Das wird von vielen Leuten gelesen, erscheint im Netz, die Familie wird drauf angesprochen. Wenn ich an den Gedenkort gehe, kommen immer noch Leute und sagen: ‚War es vielleicht nicht doch was mit Drogen?‘“ Schrader: „Die Entscheidung kein Ermittlungsverfahren einzuleiten wegen des zu großen Personenkreises kam von Horstmann?“ Das verneint Seyb und sagt, das sei Herr von Hagen gewesen: „Das war der Staatsanwalt beim Verfahren zu Luke Holland, der hat Herrn Daimagüler vorgeworfen, dass er versuche durch die Hintertür einen anderen Mord aufzuklären. Wo ich sage: Vielleicht geht es nur durch die Hintertür.“ Seyb sagt auf Frage, dass sie glaube, dass Hübner die Befragung der Mandy P. [Neonazi-Aktivistin, die sich nach dem Mord auf Facebook gewünscht hatte, dass möglichst wenige Hinweise bei der Polizei eingehen] alleine gemacht habe. Hübner habe gesagt, die sei ein „dummes Mädchen oder irgendwie so was“. Bei einem Termin beim LKA 53 [Staatsschutzbereich Rechts] habe sie das angesprochen und ihr sei gesagt worden, dass sie es überprüfen würden, aber das sei wohl auch eher zu ihrer, Seybs, Seelenhygiene gewesen. Auf Frage, welche Auswirkung die fast 400 unbearbeiteten Fälle beim Staatsschutz auf die Familie Bektaş gehabt habe, antwortet Seyb: „Die Familie hat verstanden, dass es nichts mit ihrer Akte zu tun hat, aber sie hat auch verstanden, dass es sein könnte, dass es da auch schon sozusagen, sag ich mal, seine Arbeitsweise war, Dinge liegen zu lassen innerhalb der Akte. Aber es ist natürlich beunruhigend. Das Gefühl, dass nicht alles gemacht worden ist, was hätte gemacht werden können, wird durch so eine Meldung nicht bestätigt, aber die Idee wird konkreter: ‚Aha, da auch?‘“

Zeuge Christian S.

Nach der Mittagspause geht es weiter mit der Befragung des Zeugen Christian S. Dieser leitet die Auswerteeinheit (AE) OFA [= Operative Fallanalyse] im LKA. Zur Erstellung einer Operativen Fallanalyse hatte es zunächst gegenüber der Familie Bektaş geheißen, dass es keine solche Analyse gebe. S. sagte aus, er habe die Erstellung einer OFA zunächst abgelehnt, weil es bei der Tat zu wenig Täterhandeln gegeben habe. Schließlich gab es aber – neben einem zuvor erstellten Auswertebericht zu den Fallakten durch eine Mitarbeiterin der AE OFA – doch eine Analyse des Falls durch die AE OFA. Diese Analyse trug zwar nicht den Namen „Operative Fallanalyse“, wurde aber wie eine OFA erstellt.

S. führt zu Beginn aus, dass er von 1992 bis 2000 bei einer Mordkommission tätig gewesen sei, dann mit Kollegen die AE OFA aufgebaut und irgendwann zum Dienststellenleiter aufgestiegen sei. Er habe seit 2005 das BKA-Zertifikat als Fallanalytiker. Im Folgenden macht S. längere Ausführungen zum Thema „Operative Fallanalyse“. Diese diene dazu, das Fallverständnis zu vertiefen, an ihrem Ende sollten wenn möglich neue Ermittlungsansätze stehen. Ein Täterprofil könne, aber müsse nicht erstellt werden. Ihm würden die Fälle in der Regel von den ermittelnden Beamten vorgestellt mit der Frage, ob sie eine OFA machen könnten. Dann gebe es eine Machbarkeitsprüfung, ob der Fall überhaupt geeignet ist. Je weniger persönliches Verhalten der Täter gezeigt habe, desto weniger Ansätze gebe es für eine Analyse.

S. erläutert dann, wie es weitergeht, wenn es eine positive Entscheidung gibt. Er berichtet von drei bis fünf Fallanalytiker*innen, die den Fall analysieren. Eine Person moderiere das „Brainstorming“, in der Regel er selbst. Dann bekämen sie die kompletten Akten, jede*r lese sie und es würden „sogenannte Spezialisten“ bestimmt, die etwa die Bereiche „Rechtsmedizin“, „Tatort“ oder „Opfer“ besonders vertiefen. Bei der anschließenden Analyse wisse der „Spezialist“ dann sofort, wo ein Punkt in der Akte zu finden ist. Als Moderator kümmere er selbst sich darum, dass die Methodik eingehalten wird. Fragen, die beim Lesen der Akte aufkommen, würden gesammelt und in der Regel zur Beantwortung an die ermittelnde Mordkommission gegeben. Das könnten Fragen sein, die für die Mordermittlung nicht so wichtig waren, aber für die OFA wichtig sein könnten.

Außerdem berichtet S. von sogenannten Fallkonferenzen, zu denen die in dem Fall tätigen Experten, etwa aus der Kriminaltechnik und der Rechtsmedizin, eingeladen würden. Wichtig sei, so S., dass man sich überlege, welche Problemfelder man in dem Fall habe, welche Zeugenaussagen man als Basis für die Analyse nehmen könne. Unterscheidungskriterium zu den vorherigen Ermittlungsmethoden sei, dass ausschließlich Objektives wie etwa die kriminaltechnischen Ergebnisse oder die Ergebnisse der Obduktion herangezogen würden, weswegen es sich verbiete, dass Hinweise hereingenommen werden. Das einzige Subjektive sei das Opferbild, das man habe. Da diskutiere man dann, was man aufnimmt: „‚Mein Kind würde nie in ein fremdes Auto steigen, also kann es kein Fremder gewesen sein‘: Das wäre uns zu wenig.“ Bekomme man aber eine genauere Erläuterung oder die gleichen Angaben von verschiedenen Seiten, dann gehe man davon aus, dass das Kind tatsächlich vorsichtig ist. Der zweite Faktor bei der Fallanalyse sei der Teamansatz. Alle aufkommenden Gedanken würden in die Runde geschmissen und diskutiert, nicht belächelt. Die „Spezialisten“ stellten die einzelnen Bereiche vor, dann gehe es in die Tathergangsrekonstruktion, das „Herzstück“. Man müsse bei Tötungsdelikten zunächst das Was rekonstruieren, um dann das Warum zu rekonstruieren. Bei zugezogenen Vorhängen am Tatort stelle sich zum Beispiel die Frage, ob dies Täterhandeln oder Opferhandeln war. Wichtig sei das auch, wenn sich bei der ermittelnden Mordkommission zwei oder drei verschiedene „Fraktionen“ mit unterschiedlichen Hypothesen gebildet hätten. Dritter Faktor bei einer Analyse sei, dass sie bei der OFA im Unterschied zu Mordkommissionen frei von Ermittlungsdruck seien. Alle Telefone würden ausgeschaltet, ein Schild an der Tür angebracht, dass nicht gestört werden solle. Ein vierter Punkt sei, dass alles verschriftet werde, es am Ende eine Präsentation und einen Bericht gebe.

Auf Frage des CDU-Abgeordneten Stephan Lenz, der nun die Sitzung leitet, sagt S., dass ein wesentlicher Unterschied bei der OFA sei, dass sie nicht selbst ermittelten, sondern sich auf das stützten, was die Ermittler*innen lieferten. Offene Fragen versuchten sie noch vor der Analyse zu klären und wendeten sich dazu an die ermittelnde Mordkommission. Pro Jahr würden sie drei bis vier solcher Fallanalysen erstellen, so S. auf Frage, sie würden aber auch Recherchen im System machen, um zum Beispiel Serien von Sexualdelikten zu erkennen; das sei das „Tagesgeschäft“.

Auf Frage von Schulze sagt S., die Fallanalyse selbst dauere in der Regel fünf Tage, die Informationsgewinnung selbst hänge von der Dicke der Akte ab, aber in der Regel dauere sie zwei Wochen. S. weist auf das System ViCLAS [= Violent Crime Linkage Analysis System] hin, das zu 85 Prozent Sexual- und zu 15 Prozent Tötungsdelikte umfasse, da hätten sie bundesweit Zugriff auf 26.000 gespeicherte Fälle. Das Dezernat 11 habe jede Woche eine Kommissariatsleiterrunde, bei der entweder er selbst oder sein Vertreter anwesend sei. Schulze sagt, ViCLAS-Daten seien auch beim Mord an Burak Bektaş durchsucht worden: „Ist das auch über Sie erfolgt?“ Nach kurzer Beratung mit seinem Zeugenbeistand Rechtsanwältin Bertheau bejaht S. das, er wisse aber nicht mehr, wer es konkret eingegeben hat. Auf Frage sagt er: „Soweit ich mich erinnere, kam kein Fall raus, wo man einen ganz klaren Tatzusammenhang sieht.“ Das liege auch daran, dass man „nicht sehr viel Tat“ habe. S.: „Das war das Problem. Um nicht zu konkret zu werden. Man muss dann vorsichtig sein: Welche Taten kann ich verknüpfen? Das Verhalten ist ja kein Geheimnis: ‚Kommen, schießen, gehen‘ ist wenig.“

Schulze verweist auf die Befragung von Lukas Theune (Bericht zur 28. Sitzung), der berichtet habe, dass kein Abgleich auf den Bereich Hassverbrechen oder möglicher rechter Hintergrund, den man aus Kontext und Zeitpunkt schließen könne, erfolgt sei. S. entgegnet, in ViCLAS würden sexuell motivierte Delikte und Tötungsdelikte, wo das Motiv nicht klar ist, stehen. Wenn ein Motiv vorliege, komme die Tat nicht in ViCLAS. Je weniger Verhalten es gebe, desto schwieriger werde es, dieses Verhalten zu interpretieren, so S. auf Nachfrage. Da gehe es dann viele Richtungen. Nur durch das Verhalten auf das Motiv schließen zu können, sei „verdammt schwer“. Schulze: „Sie haben dann eine erweiterte Fallbetrachtung in diesem Fall hier durchgeführt, wo ist der Unterschied?“ S. sagt, sie hätten es „ergänzende fallanalytische Betrachtung“ genannt, aber es sei eine Fallanalyse gewesen, mit weniger Kriterien als sonst.

Schulze fragt, warum S. es zunächst abgelehnt habe, eine OFA zu machen, es später aber doch gemacht habe. S. antwortet, der damalige Leiter der Mordkommission habe ihnen den Fall angeboten. Auf seine Frage, was es denn an Anhaltspunkten gebe, habe der Kommissariatsleiter gesagt, dass jemand gekommen sei und in die Menge geschossen habe. Es habe keinerlei weitere Spuren gegeben. S. sagt dann, man komme jetzt langsam ins Täterwissen. Lenz: „Wir haben gerne viel öffentlich, aber Sie müssen wissen, wie weit Sie gehen können.“ S.: „Ich versuche es allgemeiner.“ Er habe gesagt, so S., dass erst mal lieber mit konventionelle Methoden weitergemacht werden solle. Ein halbes Jahr später sei er dann auf den Kommissariatsleiter zugegangen und habe gesagt: „‚Lass es uns trotzdem machen.‘ Da sagte er: ‚Können wir gerne machen, aber jetzt ist erst mal der Staatsschutz dran und macht eine Analyse.“ Das hätten sie abgewartet. Er verneint, dass die Staatsschutz-Ergebnisse in die Fallanalyse eingeflossen seien, die seien ja ebenfalls subjektiv. Im Weiteren erläutert S., dass seitens der AE OFA bereits 2012 eine sogenannte Auswertung zum Fall Burak Bektaş erstellt worden sei. Bei einer solchen Auswertung würden durch jemand Neutrales die Akten überprüft, zum Beispiel geschaut, ob noch irgendwelche Vernehmungen offen sind.

Auf Frage von Neumann sagt S., dass die AE OFA gefühlt 90 Prozent der Fälle von den jeweiligen Ermittler*innen angeboten bekämen. Dabei sei die Zeit, die seit der Tat bis zum Angebot vergangen ist, unterschiedlich. Sie würden auch Cold Cases bearbeiten, etwa aus dem Jahr 1973. Auf Neumanns Frage, warum sie sich bei der Fallanalyse keine Hinweisordner anschauen, antwortet S.: „Das machen wir definitiv nicht vor der Analyse, um uns nicht subjektiv durcheinander bringen zu lassen. Der wesentliche Unterschied zwischen uns und der Mordkommission ist Objektivität.“ Er sei, so S., ja selber acht Jahre bei einer Mordkommission gewesen. Da gebe es subjektive Dinge, etwa wenn sich jemand in der Vernehmung komisch verhalten habe. Zu Recht müsse die Mordkommission jedem Hinweis nachgehen. Da gab es dann Hinweise aufgrund von Wünschelrutengehen, denen man dann nachgehen müsse. Hinweise, die in die Hauptakte gelangen, würden sie aber auch lesen und es komme schon auch vor, dass sie sich nach der Fallanalyse einen Hinweisordner anschauen: „Jetzt wissen wir, was passiert ist, jetzt gucken wir auch in die Hinweisordner, ob es sinnvolle Hinweise gibt.“ Das Täterprofil sei, so der Zeuge auf Frage, das Unsicherste in der Fallanalyse und komme erst ganz am Ende, wenn man verstanden habe, was passiert ist, das Warum entwickelt habe, so S. Wenn etwa zwei verschiedene Waffen verwendet worden seien, stelle sich die Frage nach dem Warum. Der Leitsatz sei: Jedes Verhalten ist bedürfnisgesteuert. Bei der Fallanalyse versuche man immer „das Pferd von hinten aufzuzäumen.“ S. sagt, ein Hinweis sei so etwas wie die Aussage eines Zeugen, dass er einen Nachbarn in Brandenburg habe, der auf dem Auto stehen habe: ‚Ich hasse Ausländer‘. Wenn aber jemand sagen würde, dass er den Täter gesehen hat, dann lande das in der Akte und werde für die Fallanalyse verwendet.

Schrader fragt, ob im Hinblick auf ähnliche Fälle, auch auf andere Art als über ViCLAS abgeglichen werde. Das werde natürlich gemacht, so S., es gebe das Einheitliche Fallbearbeitungssystem in Berlin: „Aber da stellt sich die Frage: Was ist denn ähnlich? Also da hat jemand auf offener Straße geschossen? Oder jede rechts motivierte Tat?“ S. sagt, es habe bei der AE OFA unterschiedliche Meinungen gegeben und man habe sich nicht einigen können. Schrader verweist darauf, dass es ja eine kurz davor begangene Serie von Taten, die in ähnlicher Weise begangen wurden, gegeben habe, nämlich den NSU. S. antwortet, sie seien nicht aufgefordert gewesen, ähnliche Taten zu suchen. S.: „Wir hatten einen anderen Auftrag.“ Die Mordkommission, dagegen müsse, so S., in alle möglichen Richtungen ermitteln und dann auch gucken, ob es vielleicht ähnliche Taten gebe, die man einbeziehen müsse. Schrader entgegnet: „Aber es gab ja auch andere Kontextinformationen.“ Er verweist auf Briefe von Reichsbürgern und Bedrohungen gegen ausländische oder vermeintlich ausländische Personen kurz vorher und auf einen Racheaufruf im Netz für die Tötung des Neonazis Gerhard Kaindl. Schrader fragt, ob S. diese Informationen einbezogen habe. S.: „Nein, das sind subjektive Daten, die wir nicht einbeziehen, das unterscheidet uns von einer herkömmlichen Mordkommission.“

S. sagt, er greife mal vor und bezieht sich dann darauf, dass man annehmen könne, dass das Motiv in der Zusammensetzung der Gruppe zu finden sei. Aber man könne sich, so S., da nicht nur aufgrund des Verhaltens des Täters festlegen. Schrader: „Aber sich dann so einzuengen, hat das was gebracht oder war das für die Katz?“ S.: „Einengen würde ich nicht sagen.“ Er müsse für die Analyse mehr haben, so S., und bringt ein Beispiel, das sinngemäß zum Ausdruck bringt, dass man nicht sagen könne, ob der Täter nicht auch auf eine Gruppe weißer Jugendlicher geschossen hätte. S. sagt, es sei auch wichtig bei einer Fallanalyse, dass man versuchen müsse, „Überstrahlungsfaktoren“ auszuschalten. Ihnen seien, so S., „schon mal die zwei weiteren Opfer zu kurz gekommen“, deswegen verwendeten sie auch den Begriff „Tötungsdelikt Rudower Straße 51“. Es werde sonst nur der Name von Burak Bektaş benutzt, „weil der arme Junge das Pech hatte, dass er gestorben ist, und die anderen das Glück überlebt zu haben.“ Schrader fragt im Weiteren unter anderem nach den Empfehlungen aus dem ersten Auswertungsbericht 2012: „Haben Sie oder jemand anders sich angeguckt, ob die Empfehlungen umgesetzt wurden?“ S.: „Ich bin der Meinung, dass den Empfehlungen nachgegangen wurde durch die ermittelnde Mordkommission.“ Schrader fragt nach der Umsetzung der Empfehlungen nach der Fallanalyse. S. antwortet, sie hätten eine bestimmte Hypothese gehabt, die hätten sie in der Umsetzung priorisiert, und das sei auch zu ihrer Zufriedenheit umgesetzt worden. Schrader fragt, was S. damit meine, wenn er sage, dass die Hypothese umgesetzt worden sei, es gehe ja um Empfehlungen aus der Fallanalyse. S. entgegnet, dass er das gerne anhand des konkreten Falles [also im nicht-öffentlichen Teil]darstellen wollen, sonst sei es schwierig für ihn, noch abstrakt zu bleiben. Schrader: „Ist es üblich bei der OFA in das Team auch Externe rein zu nehmen aus anderen Polizeibehörden, Fachleute oder Ähnliches?“ S. sagt, ganz wichtig sei die „Objektivität“. Es habe, so S., viel Wirbel in den Berliner Medien gegeben, viele Berichte, deswegen hätte sie eine Kollegin aus Mecklenburg-Vorpommern eingeladen: „Wir dachten, wenn jemand objektiv ist, dann jemand, der nicht aus Berlin ist. Wir Fallanalytiker lesen ja auch Presse, aber wir versuchen nicht passend zu machen, was nicht passt.“ Sie würden, so S., ganz nüchtern herangehen.

Es fragt dann wieder Stephan Lenz. S. bejaht dessen Frage, ob es der AE OFA um die objektive Sachlage gehe. Auf Frage von Lenz sagt S.: „Je weniger wir an Verhalten haben, desto schwieriger wird es.“ Im Folgenden führt S. länger zu einem Beispielfall aus, bei dem ein junger Mensch nach Hause gekommen sei und die Polizei informiert habe, dass seine Wohnung aufgebrochen worden sei. Kurze Zeit später sei der Anrufer vom Balkon gestürzt und tot aufgefunden worden. Es hätten mehrere Motive im Raum gestanden, auf die man aufgrund von Postings des Toten in Social Media gekommen sei. Die Mordermittler seien in einer Kneipe gewesen und hätten ein Foto gezeigt, woraufhin ihnen gesagt worden sei, dass der Tote letzte Woche mit einer Frau in der Kneipe gewesen sei und immer aus der Tasche heraus bezahle. Bei der AE OFA hätten sie dann mehrere Arbeitshypothesen gebildet und nach objektiven Kriterien geprüft, unter anderem auch einen Suizid. Schließlich seien sie dazu gekommen, dass ein Suizid am wahrscheinlichsten sei, wogegen aber die Aussage aus der Kneipe gesprochen habe. Darum hätten sie der Mordkommission empfohlen, alle Freunde des Toten zu fragen, ob sie jemals mit ihm in dieser Kneipe waren. Es sei keiner gefunden worden und es habe sich herausgestellt, dass die Aussagen der beiden Bedienkräfte, dass der Tote immer Kaffee getrunken habe, nicht stimmen könnten, weil der Tote zu den wenigen Menschen gehört habe, die Kaffee hassen. Das sei also eine Fehlwahrnehmung durch die Kellnerinnen gewesen. Dieser Mensch habe, so S., seinen Suizid als Mord getarnt, was ein seltener Fall sei.

Schulze fragt, wie viel Kontakt die OFA noch mit der Ermittlungsgruppe gehabt habe nach der Analyse. S. antwortet, es werde versucht eine Evaluierung zu machen, um zu sehen, ob die Ergebnisse auch was gebracht haben, „als eine klare Fehlerkultur“. Sie hätten gesagt bekommen, dass es nochmal Vernehmungen gegeben habe, auch mit entsprechendem Vernehmungskonzept, aber es habe nichts erbracht. Zur Zusammenarbeit mit Hübner und der Mordkommission im Zuge der Informationssammlung sagt S., die sei, soweit er sich erinnere, problemlos gewesen. Er erinnere sich, dass in den Akten von der Videoüberwachung des Krankenhauses gegenüber vom Tatort die Rede gewesen sei, aber die Auswertung nicht zu finden gewesen sei: „Das hat er nachgeliefert.“ Auf Frage, ob er etwas mit Staatsanwalt Horstmann zu tun gehabt habe, sagt S., dass die Mordkommission abspreche, dass eine OFA gemacht wird, weil das ja evtl. auch eine Kostenfrage sei. Der Staatsanwalt sitze dann auch in der Präsentation und könne Fragen stellen. Schulze weist darauf hin, dass es ja auch die Identität der Opfer gebe, was ein objektives Kriterium sei: „Aber Sie sagen, für einen rassistischen Hintergrund gibt es keine objektiven Punkte.“ S. sage, so Schulze weiter, ja selber, die Konzentration auf Burak sei falsch, weil auf die Gruppe gezielt wurde, und da gehe es ja um die Zusammensetzung der Gruppe. Der Zeuge antwortet, das sei objektiv richtig, aber es gehe ja um das subjektive Bedürfnis des Täters, das man herausstellen wolle aufgrund der objektiven Daten. S.: „Das ist die Schwierigkeit.“ Wenn sie subjektive Daten nehmen würden, dann würde er sagen, so S. weiter, dass die Annahme subjektiv plausibel sei. S.: „Das wäre für uns zu kurz, weil wir uns dann nicht unterscheiden würden von anderen Ermittlern. Wir schließen es nicht aus, auf keinen Fall.“ S. spricht dann von stressinduzierten Motiven, von „Interaktionsstress“ und davon, dass letztlich nur der Täter das Motiv nennen kann. Er rekurriert beispielhaft auf einen Täter, der seinen Nachbarn getötet hat, weil der ihn bedroht haben soll, das sei aber alles nur im Kopf des Täters gewesen. S. spricht von einem „Impuls der Frustration“. S. weiter: „Natürlich kann ich ein rechtes Motiv nicht ausschließen, aber zu begründen, aufgrund der Daten, es kann nur rechts motiviert sein, geht aus unserer Sicht nicht.“ Schulze: „Das verstehe ich, dass Sie es nicht eindeutig ableiten können.“ Er verstehe aber nicht , so Schulze,, warum es nicht mal als mögliches Motiv aufgeführt wird. S. antwortet, es gehe um den „Unterschied zwischen Spekulation und Hypothese“. Es habe nicht drin gestanden, weil es zu wenig gewesen sei, aber sie hätten ein politisches Motiv diskutiert. Sie hätten sich aber, so der Zeuge sinngemäß, folgende Frage gestellt: ob man sicher ausschließen könne, dass der Täter geschossen hätte, wenn es sich um eine Gruppe von Jugendlichen mit deutschen Namen und dunklen Haaren [unsicher]  gehandelt hätte.

Fallanalytisch, verhaltenstechnisch sei zu bewerten, dass der Täter nie „nachgehalten“ habe, bei denen die getroffen wurden, also habe er nicht möglichst viele töten wollen. Burak sei an der Schusshand vorbeigelaufen und der Täter habe trotzdem nicht nochmal geschossen. Das sei der Unterschied zwischen Spekulation und Hypothese. S.: „Wir haben es geprüft, aber wir hatten so wenig Anfasser, dass wir es nicht reingeschrieben haben. Wir wollten uns frei machen vom Faktor der Überstrahlung.“ Auf Nachfrage sagt S., dass sie für jede Hypothese fundierte Begründungen hätten, warum sie die herausstellen, aber das heiße nicht, dass sie die anderen rausgelassen hätten, weil sie sie nicht hätten drin haben wollen, sondern weil es zu wenig Anhaltspunkte gegeben habe.

Auf Frage von Schrader, ob ergründet wurde, warum keine Auswertung der Kameraaufzeichnung vom Krankenhaus da war, sagt S.: „Ich glaube, es wurde gemacht, aber kein Bericht dazu geschrieben. Uns war nur die Information wichtig, nicht ob es ein Fehler der Aktenführung war.“ Schrader sagt, es habe 2018 eine Kontaktaufnahme des LKA 532 wegen der Angriffe auf Stolpersteine gegeben. S. sagt, er erinnere sich daran. Da sei er angesprochen worden, aber sie hätten auch hier festgestellt, dass es sehr wenig individuelles persönliches Verhalten gebe, weswegen er das nicht als geeignet für eine Analyse angesehen habe: „Das wäre dann, wie Sie eben sagten, für die Katz gewesen.“ Ebenso verhalte es sich mit den Taten aus der Neuköllner Straftatenserie. Schrader fragt, welchen Stellenwert der Bericht der AE OFA bei den weiteren Ermittlungen zum Mord an Burak Bektaş hatte, ob er handlungsanleitend in den folgenden Ermittlungen gewesen sei. S.: „Das kann die ermittlungsführende Stelle besser sagen als ich. Da sind wir uneitel. Es gab schon Fallanalysen mit Ergebnissen, wo die sagten: Nee, sehen wir nicht so.“ Es folgt die nicht-öffentliche Befragung des Zeugen.

Zeuge Martin Knispel

Nach etwa einer Stunde geht es gegen 16:05 Uhr mit der öffentlichen Sitzung weiter. Gehört wird Martin Knispel von der Staatsanwaltschaft Berlin. Seine Befragung ist wenig ergiebig. Er verweist darauf, dass er nicht der ermittelnde Staatsanwalt gewesen sei und dass er das Verfahren nur „hin und wieder auf dem Tisch“ gehabt habe, wenn er Dieter Horstmann habe vertreten müssen. Das erste Mal sei das Ende April 2012, recht kurz nach der Tat, der Fall gewesen. Eine Zeit lang federführend sei er dann erst nach dem Ausscheiden von Horstmann 2020 gewesen. Er habe vor allem mit der Gewährung von Akteneinsicht und Ähnlichem zu tun gehabt, getätigt habe er außerdem die Einleitung eines Rechtshilfeersuchens. Als Vertreter sei er im Grunde gleichberechtigt mit Horstmann gewesen, dieser habe ein Dezernat geleitet, er selber ein anderes und man habe sich wenn nötig gegenseitig vertreten.

Auf die Frage von Lenz, ob er denn 2020 dann einen Bezug zur Akte gehabt habe, sagt Knispel, er sei seit 2012 in der Abteilung, habe mit Horstmann zusammengearbeitet, mit diesem über das Verfahren gesprochen und es auch auf dem Tisch gehabt. Die Einzelheiten seien ihm aber bis heute nicht geläufig. Auf die Frage, ob es keinen Anlass gegeben habe, sich vertieft einzuarbeiten, sagt er: „Ein bisschen muss man sich einarbeiten, wenn die Polizei was will: Geht das rechtlich und ist das überhaupt sinnvoll? Wenn mir das plausibel erscheint, dann mache ich das. Aber wir haben keine Zeit, Verfahren mit 20 Bänden komplett durchzuarbeiten, wir haben viele andere Verfahren.“ Er habe in der Akte gesehen, dass sehr viel gemacht worden sei. Sie hätten bei Vorschlägen von Ermittlungshandlungen, wenn es rechtlich geht, immer gesagt: „Ja, versuchen wir es mal.“ Lenz fragt, wie in Knsipels Dezernat mit nicht aufgeklärten Fällen umgegangen wird. Der Zeuge berichtet, dass es „Cold Cases“ aus den 1970ern, 1980ern gebe, die zwar auch immer mal wiedervorgelegt würden, aber das seien Verfahren, die „sind, so makaber es klingt, die sind tot“.

Dann nennt Knispel zwei unaufgeklärte Fälle jüngeren Datums, bei dem einen Fall sei seines Erachtens weniger gemacht worden als bei dem Verfahren zum Mord an Burak Bektaş. Knispel: „Wir haben auch neue Fälle, aber es wird immer versucht weiterzumachen und weiterzukommen.“ Mit OFA habe er gute Erfahrungen gemacht, so Knispel, das regele aber dann die Mordkommission. Bei der folgenden Befragung durch Schulze geht es unter anderem darum, ob sich nach dem Wechsel der Kommissariatsleitung die Anzahl der Beschlüsse im Verfahren erhöht habe. Er habe von Horstmann erfahren, als er das Verfahren bei dessen Abwesenheit übernahm, dass die Polizei unter anderem Frau E. nochmal daran gesetzt habe; die sei eine sehr erfahrene Mordermittlerin, die sich der Sache sehr engagiert angenommen habe. Ob es viele Beschlüsse gewesen seien, wisse er nicht mehr, aber man habe gemerkt, dass da nochmal richtig Engagement drin gewesen sei. Ob der Impuls dazu von der Kommissariatsleitung gekommen sei oder wegen der Brisanz aus der Polizeiführung, wisse er nicht. Er gebe als Staatsanwalt auch mal Impulse für Maßnahmen, so Knispel, aber hier in dem Verfahren wisse er es gerade nicht.

Zu Nachfragen und Anregungen seitens der Anwälte der Familie Bektaş sagt Knispel, dass es hier schon sehr viele gewesen seien. Bei den Akteneinsichtsersuchen hätten sie in der Staatsanwaltschaft transparent agiert, außer bei Ermittlungsmaßnahmen, die nicht hätten öffentlich werden sollen. Er wisse, dass Rechtsanwalt Dr. Theune mal eine Liste geschickt habe, die habe er an die Mordkommission als Anregung weitergegeben. Die Frage, ob seine Antworten an Theune dann auf den Antworten des LKA basiert hätten, bejaht Knispel, aber er wisse nicht, ob er Theune nicht bei bestimmten Sachen schon gesagt habe, dass man das nicht mache. Das habe schon er selbst entschieden, so Knispel, aber die kriminalistischen Sachen habe er den Fachleuten überlassen. Er könne sich nicht an Fragen von politischer Seite zum Ermittlungsstand erinnern, so Knispel, aber es sie würden in regelmäßigen Abständen über die Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) an die Senatsverwaltung für Justiz berichten.

Er sei bei einem Treffen mit der Familie und den Anwälten dabei gewesen, beantwortet Knispel eine Frage von Neumann. Er meine, dass das von der GenStA an sie herangetragen worden sei, „aber es kam jedenfalls nicht von uns“. Er glaube, dass es der GenStA wichtig war, dass „wir den Eltern deutlich machen, dass wir alles tun, den Fall aufzuklären“. Aber das sei keine „Showveranstaltung“ gewesen, sondern es sei darum gegangen, mal darzulegen, was gemacht worden ist und was noch ansteht. Er erinnere sich, dass der Vater von Burak gesagt habe, dass es Rolf Z. gewesen sein könnte, und gefragt habe, warum man nicht an den herangehe: „Da haben wir gesagt, der muss nichts sagen.“ Sie hätten sich dann strafprozessual weit aus dem Fenster gelehnt, so Knispel, weil Z. ja kein Beschuldigter im Verfahren zum Mord an Burak Bektaş gewesen sei. Sie hätten Z. dann als Zeugen vernommen und „das Interessante war, dass er Rede und Antwort gestanden hat“. Z. habe abgestritten, etwas damit zu tun zu haben, aber habe – vielleicht aus Langeweile – eine ganze Menge erzählt, „aber leider alles Sachen, die uns nicht weitergebracht haben.“

Auf die Frage, ob er mit Horstmann über eine mögliche Einstellung des Verfahrens gesprochen habe, sagt Knispel: „Ja, wir haben drüber gesprochen. Ich bin ganz ehrlich: Darüber muss man nachdenken, ob man es irgendwann einstellt. Es heißt ja nicht, dass nichts mehr gemacht wird. Wir sind die ersten, die es traurig macht, dass ein solches Verbrechen nicht aufgeklärt wird.“ Einstellung bedeute nicht, so der Zeuge, dass man das Verfahren weglegt, nur die ganz operativen Maßnahmen würden heruntergefahren: „Wann man das macht, ist Sache des Dezernenten und der Polizei. Aktuell laufen ja noch Rechtshilfeersuchen, das kann ich glaube ich sagen, und auch die Funkzellenabfragen werden weiter ausgewertet.“ Er könne nicht sagen, wann das Verfahren eingestellt wird. Auf die Frage, welchen Unterschied die Einstellung des Verfahrens mache, sagt der Zeuge, dass man eigentlich sagen könne, dass die Staatsanwaltschaft eine Einstellungs-, keine Anklagebehörde ist; Einstellungen seien „tägliches Brot“ – nicht bei einem Mordverfahren, aber grundsätzlich laufe das gleich. Knispel: „Wir versuchen alles auszuschöpfen, aber irgendwann ist mal Schluss, auch wenn ich verstehe, dass es für die Angehörigen hart ist. Aber es heißt nicht, dass es nicht mehr angeguckt wird.“ Er selbst lasse sich solche Verfahren alle eins, zwei Jahre vorlegen, so Knispel.

Schrader: „Es gab im Berliner Kurier Berichterstattung über eine Straftat, an der Burak beteiligt gewesen sei, was Mitursache für das Tötungsdelikt gewesen sein soll. Da wurde sich auf eine Polizeiquelle berufen. Dann gab es eine Diskussion in der Polizei, ob man ein Ermittlungsverfahren macht, weil es evtl. strafbar ist, Geheimnisverrat oder Verleumdung.“ Knispel: „Das kam das erste Mal glaube ich in dem Gespräch auf. ich glaube auch von Herrn Theune. Es ist mir bekannt, dass es im Kurier stand, und die behautet haben, es kommt aus der Polizei. Ich weiß nur, dass es das nicht gegeben hat: Burak Bektaş hat keine Straftat begangen. Wäre mir jedenfalls nicht bekannt. Das war eine Ente.“ Schrader: „Deswegen war ja auch die Familie so betroffen davon. Aber es hieß, dass sie an der Entscheidung beteiligt gewesen seien.“ Knispel: „Kann ich nicht sagen im Moment, da haben sie mich auf dem falschen Fuß erwischt. Wenn es einen Anfangsverdacht gegeben hätte, dann hätte es natürlich ein Strafverfahren gegeben.“ Aber er sei überzeugt, dass das nicht aus Polizeikreisen kam, sondern sich der Kurier das möglicherweise ausgedacht habe. Schrader fragt, ob Knispel Anhaltspunkte dafür habe, dass es nicht so war, das sei ja eine Zeitung, die sich normalerweise an journalistische Standards halte. Knispel: „Wenn Sie manchmal nach Hauptverhandlungen einen Bericht lesen, ist das mit der journalistischen Qualität so eine Sache.“ Er habe keinen Anlass gesehen, ein Verfahren einzuleiten.

Schrader: „Es wurden auch eine Reihe von Verdächtigen ausgeschlossen etwa aufgrund des Alters.“ Schrader fragt, ob das nicht im Widerspruch dazu stehe, dass man sagt, es gebe so vage und unsichere Aussagen, was die Beschreibung des Täters angeht. Knispel sagt, er sei sich nicht ganz sicher, was die Zeugen zum Alter gesagt hätten, aber irgendwo seien Kapazitäten auch schlicht erreicht: „Wen wollen Sie da überprüfen? Ganz Neukölln ist halt schwierig.“ Vielleicht hätten die Zeugen sich geirrt, aber das sei alles „Stochern im Nebel“. Schrader verweist auf die Neonazis, die bei einer Veranstaltung in Gropiusstadt einen Platzverweis bekommen haben, aber wegen des Alters ausgeschlossen worden waren. Das hätte man vielleicht machen können, so Knispel, aber das sei ihm nicht bekannt. Auch mit einer Liste des LKA 5, die eingegrenzt wurde, sei er nicht befasst gewesen. Schrader: „Haben Sie die Anregungen von Herrn Theune nur an die Polizei weitergeleitet oder selbst eine Bewertung vorgenommen?“ Er habe das ja schriftlich gemacht, so Knispel, das sei also auf jeden Fall in der Akte. Wenn man es weiterleite, bedeute das ja nicht, dass die Polizei allen Anregungen nachgehen müsse. Schrader: „Aber Sie sind die entscheidende Person?“ Knispel: „Aber in die kriminalistischen Erwägungen mische ich mich nur rudimentär ein.“ Man arbeite nicht so, dass man sage: ‚Weil ein Rechtsanwalt etwas vorschlägt, wird es gemacht.‘

Lenz weist darauf hin, dass angesichts der Zeit ein Beschluss über die Verlängerung der Sitzung gefasst werden muss. Der Beschluss wird gefasst und es geht weiter mit der Befragung durch Schulze. Der fragt, ob die Funkzellendaten mit Daten von Rechtsextremen aus Neukölln abgeglichen worden seien. Knispel sagt, das sei seines Erachtens gemacht worden. So genau habe er sich auch nicht eingelesen, aber er habe sich den abschließenden Bericht angeschaut: „Dass natürlich diese Frage Rechte Szene Neukölln, dass das doch ein großer Bestandteil dieser Ermittlungen war, meine ich aus den Berichten der Polizei herausgelesen zu haben.“ Was konkret zu der Zeit seiner Zuständigkeit passierte, könne er nicht mehr sagen: „Ich kann nur sagen: Als wir festgestellt haben, dass kein persönliches Motiv bei der Tat zu erkennen war, dass das dann die Polizei als einen Schwerpunkt ermittelt hat.“ Dann fragt Schrader nach einer „Art Sonderband“, einem Aktenteil vom LKA 53 und der dortigen „AG Fiat“. Knispel verneint die Frage, ob ihm das bekannt war: „Ich weiß, dass es Zuarbeit gab von 53, aber im Einzelnen kann ich es nicht sagen. Das war natürlich sinnvoll, klar. Die kennen die Szene besser als die Mordkommission, die mussten denen ja helfen, aber es hat leider auch nichts gebracht.“

Damit endet um 17:20 Uhr der öffentliche Teil der Sitzung.

Objektiv überstrahlt

Nach Monaten, in denen meist Zeug*innen aus dem Polizeiapparat befragt wurden, war die pointierte Einschätzung von Helga Seyb eine für den Ausschuss notwendige und für Zuhörer*innen wohltuende Unterbrechung der Routine. Wie zuvor bereits dem Anwalt der Familie Bektaş, Lukas Theune, gelang es Seyb der Selbstdarstellung der Behörden, sie hätten in dem Fall des vermeintlich beinahe perfekten Mordes an Burak alles Menschenmögliche getan, deutlich zu widersprechen.

Leider wurde diese Aussage von der auf sie folgenden Aussage des Fallanalytikers S. überschattet. Christian S. behauptet zwar, dass er ein rassistisches Motiv für möglich halte, in der OFA – beziehungsweise der „ergänzenden fallanalytischen Betrachtung“ – spielt die Frage eines rassistischen Motivs aber überhaupt keine Rolle. S. begründet dies damit, dass er sich von der „Überstrahlung“, die dieses mögliche Motiv bei dem Fall gehabt habe, habe frei machen müssen. Vor dem Hintergrund, dass keineswegs so intensiv in Richtung eines rassistischen Motivs ermittelt wurde, wie die Polizei behauptet, ist das eine fragwürdige Vorannahme. Daran kann auch der Verweis des Zeugen auf Presseberichterstattung, die sich angeblich auf ein rechtes oder rassistisches Motiv eingeschossen habe, nichts ändern.

Zudem handelt es sich für S. bei der Zusammensetzung der betroffenen Gruppe nicht um einen objektiven Befund, mit dem er für die OFA arbeiten könne. Der Zeuge stellte dazu die Frage, ob man sicher ausschließen könne, dass der Täter geschossen hätte, wenn es sich um eine Gruppe von Jugendlichen mit deutschen Namen gehandelt hätte. Abgesehen davon, dass es sich bei den Betroffenen nun mal objektiv um eine Gruppe von Personen mit Migrationsgeschichte handelte, wäre im vom Zeugen genannten hypothetischen Fall ebenfalls ein rassistisches Motiv des Täters möglich. Der Täter konnte – ein rassistisches Motiv vorausgesetzt – auch bei der tatsächlich angegriffenen Gruppe nicht sicher wissen, dass es sich um Menschen mit Migrationsgeschichte handelt, sondern es nur aufgrund rassistischer Stereotype annehmen.

S. legt sehr viel Wert auf die „Objektivität“ der Arbeitsweise bei einer OFA, verhedderte sich aber während seiner Aussage immer wieder in solche nur schwer nachvollziehbare, teilweise auch widersinnige Überlegungen zur Subjektivität oder Objektivität von Anhaltspunkten. Wenn es so wenige tatsächliche Anhaltspunkte im Täterhandeln gibt und die AE OFA bereits einen der wenigen weiteren klar objektiven Anhaltspunkte – nämlich die Zusammensetzung der Gruppe der Betroffenen – als „subjektiv“ einfach aus der Betrachtung herausdefiniert, stellt sich die Frage, wie sie in ihrer Analyse überhaupt andere mögliche Motive ausmachen konnte. Überlegungen zu vermeintlichen „stressinduzierten“ Motiven des Täters, „Interaktionsstress“ oder „Impulsen der Frustration“ haben jedenfalls keinen größeren Objektivitätsgehalt als die Zusammensetzung der Gruppe der Angegriffenen. Auch die Überlegung, vermeintlich unterbliebene Nachschüsse sprächen gegen ein rassistisches Motiv, sind mindestens fragwürdig.

Eine solche „ergänzende fallanalytische Betrachtung“ ist tatsächlich – wie vom Zeugen selbst erwartet – nutzlos und es wäre möglicherweise besser gewesen, wenn sie nicht erstellt worden wäre.

Lest auch das Statement der Burak-Initiative zur Sitzung.

(Text: scs / Redaktion: ck)