📨 NSU-Watch: Aufklären und Einmischen. Der Newsletter #3

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Wir melden uns einmal im Monat mit unserem Newsletter „Aufklären & Einmischen“ bei euch. Passend zum Titel des Newsletters findet ihr im ersten Teil – Aufklären – Berichte zu unserer Arbeit. Außerdem werfen wir einen Blick auf aktuelle Ereignisse im Themenfeld rechter Terror und seine Aufarbeitung. Im zweiten Teil des Newsletters wird es praktisch: Einmischen. Wir sammeln für euch aktuelle Termine beispielsweise für Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen, an denen ihr euch beteiligen könnt. Hier könnt ihr euch für den Newsletter anmelden.

Wenn ihr genauer wissen wollt, was euch erwartet, könnt ihr hier die aktuelle, dritte Ausgabe des Newsletters in der Webversion nachlesen. (Aus technischen Gründen wird der Newsletter hier grafisch leicht abweichend von der Mail-Version dargestellt.)

 

Hallo, ​​​​​​​ willkommen zur dritten Ausgabe unseres monatlichen NSU-Watch-Newsletters: „Aufklären und Einmischen“!

Hallo,

willkommen zur dritten Ausgabe unseres monatlichen NSU-Watch-Newsletters: „Aufklären und Einmischen“!

Der Monat Juni ist vom gemeinsamen Gedenken geprägt. Vier Morde und zwei Sprengstoffanschläge beging der NSU im Juni. Daher legen wir in dieser Ausgabe einen Schwerpunkt auf die Erinnerung. Wir erinnern an den Bombenanschlag in Nürnberg auf die „Pilsbar Sonnenschein“, der sich in diesem Jahr zum 25. Mal jährt. Am 23. Juni findet deshalb eine Demonstration in Nürnberg statt. Wir gedenken der Emordeten Abdurrahim Özüdoğru und Süleyman Taşköprü. Wir erinnern an den Bombenanschlag auf die Kölner Keupstraße vor 20 Jahren. In Köln wird es in diesem Jahr eine große Gedenkveranstaltung geben, organisiert von städtischen Akteur*innen und Initiativen selbstbestimmten Gedenkens, wie der Initiative Herkesin Meydanı – Platz für Alle. Wir gedenken der Ermordeten İsmail Yaşar und Theodoros Boulgarides

Im Gastbeitrag der Initiative „Das Schweigen durchbrechen“ und bei den Terminen am Ende des Newsletters könnt ihr nachlesen, an welchen Gedenkveranstaltungen ihr euch beteiligen könnt.

Außerdem werfen wir einen Blick auf die staatliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes und fragen nach dem aktuellen Stand der geplanten Dokumentationszentren.

Wir haben darüber hinaus die „Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân“ und die „initiative kritisches gedenken“ um Gastbeiträge gebeten. Sie kämpfen seit Jahren um ein würdiges Gedenken an rechten Terror in Hamburg und Erlangen. In ihren Beiträgen erfahrt ihr, wie in Hamburg erreicht wurde, worum in Erlangen noch gekämpft wird: ein dauerhafter würdiger Gedenkort.

Auch in diesem Monat berichten wir euch von unseren aktuellen Prozess- und Untersuchungsausschussbeobachtungen.

  • In Mecklenburg-Vorpommern hat der Untersuchungsausschuss das Thema NSU-Komplex vorerst abgeschlossen. Zwei Sachverständige machten klar, dass das Thema damit aber nicht beendet ist. Die letzte Sitzung zeigte außerdem die unzureichenden Ermittlungen im Nordkreuz-Komplex.
  • Der Neukölln-Untersuchungsausschuss konnte nachweisen, dass nach dem Mord an Burak Bektaş nicht ausreichend ermittelt wurde. 
  • Im Gerichtsprozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé haben Gericht und Öffentlichkeit vor der Landgerichtskammer in Dortmund inzwischen die Einlassungen von drei der fünf angeklagten Polizeibeamt*innen gehört. 

Unser Newsletter ist kostenlos und wird es auch bleiben. Trotzdem sind wir für unsere Arbeit auf eure Unterstützung angewiesen, mehr dazu findet ihr auf unserer Spendenseite.

Kein Schussstrich!
Eure Antifaschist*innen von NSU-Watch

Kontinuitäten: Vom NSU zum Nordkreuz-Netzwerk

Am 27. Mai 2024 beendete der zweite NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschuss im Landtag Mecklenburg-Vorpommern vorerst seine Arbeit zum NSU-Komplex nun geht es um das Nordkreuz-Netzwerk.

Unsere Bilanz der Arbeit der zwei Untersuchungsausschüsse in Mecklenburg-Vorpommern zum NSU-Komplex findet ihr auf unserer Website.

Heike Kleffner (Geschäftsführerin des VBRG e.V.) und Prof. Barbara John (Ombudsfrau der Hinterbliebenen) waren am 27. Mai 2024 als Sachverständige geladen. Kleffner spannte einen Bogen, der die Themen des Untersuchungsausschusses verbindet: Sie zitierte Mustafa Turgut, den Bruder von Mehmet Turgut: „Wir wünschen uns umfassende Aufklärung“. Die Betroffenen der Nordkreuz-Feindeslisten hätten 15 Jahre nach dem Mord an Mehmet Turgut ähnliche Forderungen an die Behörden gestellt, so Kleffner. Es seien auch die fehlenden Informationen, die es für Betroffene schwerer machten, die Tatfolgen zu verarbeiten.

Kleffner stellte die Frage, inwiefern die Reformen in Polizei- und Justizarbeit nach der Selbstenttarnung des NSU auch Eingang in die Praxis gefunden hätten. Die Umsetzung sei teilweise mangelhaft. Gesetzesänderungen, die auf den Empfehlungen der Untersuchungsausschüsse fußen, würden teilweise kaum angewandt. Ein zentraler Kernpunkt der EU-Opferschutzrichtlinie sei, Opfer müssen Zugang zu allen Informationen und als Betroffene von Hatecrime zu spezialisierten Fachberatungsstellen haben.

Prof. Barbara John stellte ihre bis heute anhaltende Arbeit mit den Betroffenen des NSU-Komplexes dar. Diesen würden bis heute Steine in den Weg gelegt. John erinnerte daran, dass eine kostenlose Anreise der Betroffenen zum NSU-Prozess erst durch ihr Einsammeln von Spenden habe sichergestellt werden können. Als eine ihrer aktuellen Aufgaben sieht sie mögliche Gesetzesänderungen für mehr juristisches Mitspracherecht der Betroffenen. Denn, so betonte sie, die NSU-Haupttäterin Beate Zschäpe arbeite an einer vorzeitigen Entlassung. John strebt an, dass die Betroffenen – wie es in anderen Ländern üblich ist – über eine bevorstehende Haftentlassung informiert und dazu angehört werden. John kritisierte die Rolle des 2. Bayerischen Untersuchungsausschusses bei ihrem „strategischen Einstieg in die Große Verwandlung vom Hass in die Empfindsamkeit“. Diese Verwandlung könne man Zschäpe nicht abkaufen.

In seiner Sitzung am 3. Juni 2024 wandte sich der Ausschuss dann wieder dem Nordkreuz-Komplex zu. Geladen waren zwei für die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zuständige Staatsanwälte, Lo. und Gl. Diese stellten zunächst dar, dass ihnen der Zeuge Sch. aus dem Verfahren gegen Franco Albrecht übergeben wurde. Dieser hatte laute Gl. „kalte Füße“ wegen der Ermittlungen bekommen und war deswegen aussagebereit. Sch. erzählte unter anderem von Chatgruppen in Mecklenburg-Vorpommern. Sch. war dort im „inneren Kreis“ und belastete den Polizisten Haik Jä. und den Rechtsanwalt Jan-Hendrik Ha. so stark, dass der Generalbundesanwalt (GBA) Ermittlungen wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat einleitete. Man fürchtete, sie würden ihre legalen Waffen „subjektiv umwidmen“ und für einen Tag X verwenden, an dem sie unter anderem politische Feinde töten wollten.

Bei den folgenden Durchsuchungen wurden bei Jä. und Ha. unter anderem Feindeslisten gefunden. Bei Marko Gr., dem Elitepolizisten und Initiator und Administrator der Chatgruppen wurden Waffen, Munition, ein Kassenbuch und ein Collegeblock mit Aufzeichnungen zu den Aktivitäten von Nordkreuz gefunden. Bei Gr. wurde zwar im Verfahren des GBA durchsucht, er galt dabei jedoch nur als Zeuge.

Bis heute ist ungeklärt, warum der GBA ein Verfahren gegen Gr. lediglich wegen illegalen Waffenbesitzes an die Staatsanwaltschaft Schwerin übergab und kein eigenes 129er-Verfahren gegen Ha., Jä, Gr. und weitere Personen eröffnete. Und warum er das Verfahren gegen Gr. auch nach eindringlichem Bitten der Staatsanwaltschaft Schwerin nicht wieder übernahm. Offen bleibt auch, warum der GBA die Verfahren gegen Ha. und Jä. schließlich einstellte.

Zu diesen Fragen hatten sich die Zeugen vom 3. Juni noch nicht einmal überzeugende Narrative zurecht gelegt. Gegen Gr. habe man nicht ermittelt, weil der Zeuge Sch. ihn nicht in gleicher Art und Weise benannt habe wie Jä. und Ha. Und gegen letztere seien die Verfahren eingestellt worden, weil man, so die Zeugen vor dem Ausschuss, eine subjektive feste Entschlossenheit hätte feststellen müssen und man alle Nachrichten und Aktivitäten im Rahmen von Nordkreuz auch in Richtung einer Überlebenssicherung im Krisenfall hätte interpretieren können. Hier wird der Ausschuss in den kommenden Sitzungen weiter nachhaken müssen.

Die nächsten Sitzungstermine findet ihr weiter unten im Newsletter bei den Terminen.

Hätte der Mord an Luke Holland verhindert werden können?

Eine Behauptung, die sich durch die Aussagen von Ermittler*innen im Zeug*innenstand in Prozessen und Untersuchungsausschüssen zu rechtem Terror zieht, ist die, dass umfassend ermittelt wurde. Wieder und wieder hört man als Beobachter*in die Zusicherung, die Behörden hätten alles getan, seien jeder Spur gründlich gefolgt und hätten in alle Richtungen ermittelt.

Das gilt auch für die Aussagen zu dem ungeklärten Mord an Burak Bektaş. Der 22-jährige Burak wurde in der Nacht des 5. April 2012 auf der Straße vor dem Klinikum Neukölln erschossen. Burak unterhielt sich dort mit vier Freunden und Bekannten. Ein Mann trat hinzu, zog wortlos und unvermittelt eine Waffe und schoss. Die folgenden Ermittlungen der Polizei hatten keinen Erfolg, der Täter ist bis heute unbekannt.

Schon bei den vergangendn Sitzungen des Neukölln-Untersuchungsausschusses, die sich der Untersuchung des Mord an Burak Bektaş widmeten, zeigten sich Risse in der Selbstdarstellung des leitenden Ermittlers und des zuständigen Staatsanwaltes, die ihre Arbeit – wenig überraschend – im besten Licht darstellten. Der Anwalt der Familie Bektaş, Lukas Theune, legte dar, dass beispielsweise den Hinweisen der Familie und ihrer Anwälte, auch jenen auf ein rassistisches Motiv, nicht ausreichend nachgegangen wurde.

Die Sitzung des Neukölln-UA am 17. Mai 2024 bestätigte diesen Eindruck mehr als deutlich. Die einzige Zeugin des Tages war Sachbearbeiterin im LKA 116, Marianne E., die den Fall des Mordes an Burak Bektaş 2020 übertragen bekommen hatte. Sie schilderte, wie sie bei ihrer Einarbeitung schnell hatte merken müssen, dass die Akte für sie nicht vollständig nachvollziehbar war, weil Ermittlungsergebnisse beispielsweise nicht ausreichend dokumentiert waren. Im Laufe ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss stellte E. dar, dass sie zwei Jahre von allen anderen Aufgaben freigestellt wurde, um die notwendigen Ermittlungen durchzuführen.

Seit dem Mord an Burak Bektaş waren zu dem Zeitpunkt acht Jahre vergangen, für manche Hinweise war es zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich zu spät. Beispielsweise hatte die BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) Videos vom Tatzeitpunkt geschickt, die allerdings bei näherer Betrachtung nicht die richtigen waren. Die Sichtung dieser Videos bei der Polizei erfolgte aber nicht schnell genug, so dass der Fehler nicht mehr korrigiert werden konnte. Nach 48 Stunden werden alle Überwachungsvideos gelöscht – so auch im April 2012.

Es war ersichtlich, dass E. bei ihrer Aussage versuchte, direkte Kritik an ihren Kolleg*ìnen zu meiden. Ihre Aussage machte dennoch klar, wie unzureichend die Ermittlungen waren. Auf nachdrückliche Nachfragen hin nannte sie unter anderem den Punkt, dass drei Zeugen bis heute unbekannt seien, die den Täter möglicherweise gesehen haben.

Der Neukölln-Untersuchungsausschuss konnte also feststellen, dass nach dem Mord an Burak Bektaş keineswegs so weitgehend ermittelt wurde wie zuvor behauptet.

Die Befragungen in der Ausschussitzung am 31. Mai 2024 bestätigten diesen Eindruck weiter. Der Schwerpunkt der Sitzung lag auf dem Mord an Luke Holland. Er wurde am Morgen des 20. September 2015 kurz vor 6 Uhr vor einer Kneipe in Berlin-Neukölln erschossen. Der Täter, Rolf Z., wurde schnell ausfindig gemacht. Rolf Z. spielte bereits bei den Ermittlungen zum Mord an Burak Bektaş eine Rolle. Daher geht die Familie von Luke Holland davon aus, dass sein Tod hätte verhindert werden können, wenn der Mord an Burak aufgeklärt worden wäre.

Philip Holland, der Vater von Luke, schreibt in einem Statement zur Sitzung des Ausschusses: „Ich habe das Gefühl, dass der fehlende Ermittlungsdruck nach diesem Mord dem Verdächtigen das Selbstvertrauen gegeben hat, meinen Sohn umzubringen.“

Der Anwalt der Familien Holland und Bektaş und Nebenklagevertreter im Prozess, Onur Özata, ging zum Beispiel detaillierter auf den Hinweis zu Rolf Z. nach dem Mord an Burak Bektaş ein. Bereits 2013 hatte sich ein Zeuge aus Neukölln an die Polizei gewandt, weil Z. ihm eine Waffe gezeigt und nach Munition gefragt hatte. Danach habe sich Z. von dem Zeugen in die Nähe des späteren Tatorts, zu seinem Bruder, fahren lassen und habe gesagt, dort könne er „rumballern“. Der Hinweis sei erst 2015 – allerdings noch vor dem Mord an Luke Holland – bearbeitet worden. Der leitende Ermittler Hübner schrieb einen Vermerk: Kein Bezug zu Neukölln, Bruder konnte nicht ermittelt werden. Damit war der Hinweis für ihn erledigt.

Im Anschluss wurden einer der Ermittler zum Mord an Luke Holland und der zuständige Staatsanwalt befragt. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, warum trotz zahlreicher Nazi-Devotionalien in der Wohnung des Täters und Aussagen zu dessen rassistischer Einstellung ein rechtes Motiv weder ausreichend ermittelt und angeklagt noch verurteilt wurde. Dies konnte von den Zeugen nicht befriedigend erklärt werden.

Philip Holland: „Mit den Beweisen, die im Haus des Verdächtigen gefunden wurden und den Hintergrundaussagen der Zeugen, kann ich nicht verstehen, wie der Richter nicht zu dem Schluss kommen konnte, dass dies ein Neo-Nazistisches / rassistisches Hassverbrechen war. (…) Schließlich konfrontierte meine Frau am Ende des Prozesses den Angeklagten mit einem Foto unseres Sohnes und fragte: ‚Warum hast du meinen Sohn getötet?‘
Seine Ein-Wort-Antwort war „Englisch“. Das beweist seine Abneigung gegen Ausländer.“

Die nächsten Sitzungstermine findet ihr weiter unten im Newsletter bei den Terminen.

Gerichtsprozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé: Nach den Einlassungen

Im Gerichtsprozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé haben Gericht und Öffentlichkeit vor der Landgerichtskammer in Dortmund inzwischen die Einlassungen von drei der fünf angeklagten Polizeibeamt*innen gehört.

Mouhamed Lamine Dramé starb am 8. August 2022 – verletzt von Pfefferspray- und Taser-Einsatz, getötet durch die Schüsse aus einer Maschinenpistole der Dortmunder Polizei. Seit Dezember 2023 stehen fünf Polizist*innen deswegen vor Gericht – ein Novum in der Justizgeschichte der BRD, in der tödliche Polizeigewalt bisher selten Gegenstand von Strafermittlungen gewesen ist.

Entsprechend hoch ist die Aufmerksamkeit der (Medien-)Öffentlichkeit, insbesondere dann, wenn die Angeklagten selbst zur Sache aussagen.

Bereits am 11. Verhandlungstag hatten sich zwei der Angeklagten eingelassen: der Einsatzleiter und der Polizist, der mit dem Taser auf Mouhamed Lamine Dramé geschossen hatte. Beide hatten versucht, passende Argumente für ihre Einschätzung zu finden, dass der Einsatz einen „ganz normalen“ Verlauf genommen habe, sein Ende indes unverschuldet tragisch gewesen sei. Falsch gemacht hätten sie, die Polizeitkräfte, hingegen nichts.

Diese Erzählung blieb auch am 22. Mai 2024 unverändert. Da sagte der Hauptangeklagte vor dem Landgericht Dortmund aus, der Schütze der Maschinenpistole, der die tödlichen Schüsse auf Mouhamed Lamine Dramé abgegeben hat. Am inzwischen 13. Verhandlungstag sollte er allerdings auch der bis dahin einzige der Prozessbeteiligten sein, der sich an die Angehörigen und Nebenkläger wandte. Er sprach sie direkt an, nannte sie bei ihren Namen und bat um Entschuldigung.

Doch auch er gab zu Protokoll, dass der Polizeieinsatz am 8. August 2022 richtig und in seinem Verlauf unvermeidbar gewesen sei.

Auch wenn der 13. Prozesstag ein erstes Mal im Verlauf der Verhandlung einen Moment der Menschlichkeit barg, wird im Prozessverlauf zusehends deutlich: Zu keiner Sekunde hatten die Polizist*innen erwogen, etwas anderes zu tun, als Mouhamed Lamine Dramé als „Gefährdung“ zu sehen und ihn aktiv zu attackieren. Sie lösten dabei selbst die Entwicklung aus, die ihr Einsatz nahm. Erst die Anordnung und der Einsatz des Pfeffersprays sorgten dafür, dass Mouhamed Lamine Dramé diesem Einsatzmittel auswich, nachdem er zuvor unbeweglich, nicht ansprechbar und ohne eigenen Kontakt zu den Polizist*innen gewesen war.

Es wird einmal mehr schmerzlich klar: Die am Einsatz beteiligten Polizist*innen spulten am 8. August 2022 eine tödliche Routine ab. Keine Sekunde dachten sie darüber nach, welche alternativen Einsatzbedingungen dazu hätten beitragen können, ihrem Auftrag gerecht zu werden: Einem Menschen, der ein Messer gegen sich selbst gerichtet hielt, zu Hilfe zu kommen.

In einer gemeinsamen Infomitteilung des Solidaritätskreis Justice4Mouhamed, der Initiative Defund the Police Dortmund und des Justice Collective Berlin ordneten die Initiativen diese Einschätzung bereits vor dem 13. Prozesstag ein. Die Initiative Justice4Mouhamed dokumentiert auch weiterhin den Prozess. Radio Nordpol hat auch den 13. Verhandlungstag mit einer Podcastfolge begleitet.

Nicht zuletzt schließen wir uns dem Aufruf des Solidaritätskreis Justice4Mouhamed an: „Wir konnten das 90 Tage Visum der Brüder verlängern, sodass sie die Möglichkeit bekommen für die Dauer des gesamten Prozesses in Deutschland zu bleiben. Darüber sind wir unglaublich froh und dankbar für die Unterstützung von so vielen Menschen!
Für die Zeit des Prozesses organisieren wir den Aufenthalt der Brüder und bitten weiterhin um Unterstützung. Wir brauchen Geld für Miete, Lebensmittel und vieles mehr. Daher läuft unsere Spendenkampagne weiter und wir bitten alle diese zu teilen!“ justice4mouhamed.org/spenden/

Die nächsten Prozesstage findet ihr weiter unten im Newsletter bei den Terminen.


Gut zu wissen:
Aktuelles aus dem Themenbereich Rechter Terror und Antifaschismus
+++ Staat und NSU-Aufarbeitung: Ein Blick auf den aktuellen Stand. +++
 

Seit Juli 2018, dem Ende des ersten NSU-Prozesses am Oberlandesgericht in München, stellt sich verstärkt die Frage: Wie weiter mit der Auflösung des NSU-Komplexes? Ansätze sich diesem Problem zu stellen, gibt es verschiedene: In Köln setzt sich die Initiative „Herkesin Meydanı — Platz für alle“ für die Umsetzung des Mahnmals Keupstraße ein. Im April 2023 entstand mit dem „Raum für alle“ ein erster dauerhafter Treffpunkt. In Thüringen empfahl der zweite NSU-Untersuchungsausschuss im Jahr 2019, die umfangreichen Aktenbestände zum NSU-Komplex aufzubereiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Seit wenigen Wochen ist nun sicher, dass die Bestände in das Erfurter Staatsarchiv überführt werden und dort zugänglich gemacht werden.

In Sachsen wurde unterdessen die Idee eines Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex verfolgt. Die Idee zirkulierte schon einige Jahre in den Netzwerken, die sich um NSU-Aufarbeitung bemühen. 2019 fand sie Eingang in den Abschlussbericht des zweiten sächsischen NSU-Untersuchungsausschusses und wurde wenige Monate später im Koalitionsvertrag der derzeitigen Staatsregierung aufgegriffen.

Als erster Schritt wurde 2023 eine Konzeptions- und Machbarkeitsstudie publiziert. Sie beschreibt, wie die Vermittlungs- und Aufklärungsarbeit eines solchen Zentrums aussehen sollte, und enthält außerdem einen Vorschlag, wie die verschiedenen Aufarbeitungsinitiativen bundesweit in einem dezentralen Verbund miteinander verknüpft werden könnten. Eine „kleine Version“ des darin vorgeschlagenen Dokumentationszentrums soll im Mai 2025 in Chemnitz eröffnet werden, umgesetzt von drei zivilgesellschaftlichen Trägern.

Parallel zu diesen Initiativen wurden auch Bemühungen auf der Bundesebene angestoßen: Unter anderem auf Drängen verschiedener zivilgesellschaftlicher Initiativen hat sich die Bundesregierung 2021 bereit erklärt, ein Dokumentationszentrum und einen Erinnerungsort zum NSU-Komplex zu unterstützen. Außerdem hat sie sich den Auftrag gegeben, ein „Archiv zum Rechtsterrorismus“ auf den Weg zu bringen.

Die Prozesse für diese Projekte sind unterschiedlich weit und werden zurecht kritisch beäugt:
  • Das Archivprojekt hat aufgrund der (2017 wenig aufarbeitungsfreundlich verschärften) Archivgesetzgebung derzeit kaum eine Perspektive. Vor der gesetzgeberischen Arbeit, die dokumentarischen Grundlagen zu verbessern, scheut die Bundesregierung zurück. Stattdessen soll nun ein Themenportal entstehen, das auf den Materialien etwa antifaschistischer Archive und zivilgesellschaftlicher Projekte beruhen soll. Die haben verständlicherweise abgewunken: „Das ist uns zu wenig.“ 
  • Der Prozess für das Dokumentationszentrum wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung (und damit auch vom Bundesministerium des Inneren) gestaltet: Ende Februar 2024 wurden Gutachten und die daraus entwickelte Machbarkeitsstudie veröffentlicht. Darin finden sich einerseits vielversprechende Ansätze, etwa dort wo die Dezentralität der Aufarbeitungsbemühungen ernst genommen wird, anderseits aber auch entscheidende Stolperfallen. So steht der vorgeschlagenen organisatorischen Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Stiftung im Widerspruch zu dem Ziel, ein Dokumentationszentrum zu ermöglichen, dass größtmögliche Unabhängigkeit haben und Fragen der Aufarbeitung bestenfalls ohne Einschränkung durch behördliche Zwänge stellen kann – gerade mit Blick auf die Rolle staatlicher Institutionen.
  • Der Erinnerungsort hingegen bleibt ein blinder Fleck: Weder ist die Zuständigkeit innerhalb der Bundesregierung geklärt, noch gibt es weiterführende konzeptuelle Erwägungen. Darüber täuscht auch dessen behelfsmäßige Erwähnung in der Studie der Bundeszentrale für politische Bildung nicht hinweg.
+++ Hamburger Halskestraße endlich in Châu-und-Lân-Straße umbenannt! +++

Nach fast 44 Jahren wurde am 11. Mai 2024 die Hamburger Halskestraße in Châu-und-Lân-Straße umbenannt und erinnert damit zukünftig an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Nach ihrer Flucht aus Vietnam lebten beide in der Geflüchtetenunterkunft in der Halskestraße, bis sie am 22. August 1980 zu den bisher ersten bekannten Opfer des Rechtsterrorismus in der BRD wurden.

Die Initiative in Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân hatte sich 2014 in Reaktion auf das Bekanntwerden des NSU gegründet. Überlebende des Anschlags kämpften gemeinsam mit der Mutter Đỗ Anh Lâns und mit einigen solidarischen Menschen zehn Jahre lang für die Schaffung eines Gedenk- und Erinnerungsorts.

Bereits wenige Jahren nach dem Brandanschlag erinnerte schon nichts mehr in Hamburg an die Opfer. „Wenn die Opfer vergessen werden, dann werden auch die Taten vergessen. Das Leid wiederholt sich für jede weitere Familie, die es trifft. Deshalb müssen wir endlich anfangen, den Opfern rassistischer Gewalt zu gedenken. Das braucht öffentliche Orte!“ So fasst einer der Überlebenden die Motivation hinter der Initiative zusammen.

Denn genauso wird oft verdrängt, wie stark die 80er Jahre in Deutschland von rassistischer Gewalt geprägt waren. Der Anschlag auf Châu und Lân war bereits die sechste Aktion der verantwortlichen rechtsterroristischen Gruppe. Auch nach ihrer Ergreifung setzte sich die Gewalt fort, nicht nur mit mehreren rassistischen Morden in Hamburg, sondern mit zwei rechtsterroristischen Anschlägen in den folgenden Monaten in Erlangen und München.

Über Jahrzehnte war die Halskestraße ein grauer und kalter Ort. Doch die Solidarität miteinander und zwischen den vielen aktiven Betroffenen und Initiativen hat diesen Ort verändert. Jedes Jahr während der Gedenkveranstaltungen und nun auch dauerhaft: als Teil des Netzwerks aus Stadtgeschichte, das die Hamburger Straßennamen bilden. So kamen zur Einweihung der Straße nicht nur zahlreiche viet-deutsche Menschen aus unterschiedlichen Generationen, sondern auch Begleiter_innen im Kampf um das Gedenken, wie Faruk und İbrahim Arslan, die Ramazan Avcı Initiative, Bündnis Tag der Solidarität Dortmund, Herkesin Meydanı, OEZ München erinnern, die Sinti Union Schleswig-Holstein und die Semra-Ertan-Initiative.

Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân sind Namen von Menschen, die der Krieg in ihrem Land, die Hoffnung auf ein besseres Morgen und die grenzenlose Solidarität nach Hamburg brachten. Sie sind die Namen von zwei Opfern rassistischer Gewalt in Deutschland. Diese Namen zu lernen und auszusprechen, ist ein Schritt zur Erinnerung und Anerkennung. Es wird Zeit brauchen, bis diese Namen bekannt sind und richtig ausgesprochen werden können. Doch nur durch das Aussprechen der Namen können wir anfangen, ihre Geschichten zu lernen, uns nach ihren Hoffnungen und Träumen zu fragen und sie zum Teil einer geteilten Erinnerung werden zu lassen.

Die Châu-und-Lân-Straße ist der Anfang eines langen Weges. In den nächsten Wochen soll hier ein erklärendes Schild angebracht und die Bushaltestelle umbenannt werden. In hoffentlich naher Zukunft wird hier ein Lern- und Erinnerungsort geschaffen. Dies sollen Schritte sein, um noch viel mehr Namen und Geschichten zu lernen.

+++ Erinnerung und Schweigen – Zum gegenwärtigen Stand des Gedenkens an Shlomo Lewin und Frida Poeschke in Erlangen +++

Gastbeitrag von initiative kritisches gedenken

Shlomo Lewin und Frida Poeschke wurden am 19. Dezember 1980 in Erlangen von einem Mitglied der neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann aus antisemitischen Motiven erschossen.

Das Attentat, wie auch dessen Vor- und Nachgeschichte inklusive der gesellschaftlichen Aufarbeitung stehen exemplarisch für die Kontinuitäten rechter Gewalt nach 1945. Die Täter*innen wurden trotz Überwachung durch den Verfassungsschutz politisch verharmlost, die Opfer von Ermittlungsbehörden und Medien diffamiert und die Tat selbst nie vollständig aufgeklärt. Nach dem Ende des Gerichtsprozesses Mitte der 1980er-Jahre gerieten die Tat und die Opfer mehr und mehr in Vergessenheit, auch weil es in Erlangen lange Zeit keinerlei öffentliches oder gar offizielles Gedenken gab.

So wurde erst am dreißigsten Jahrestag des Doppelmordes 2010 eine Grünfläche am Rand der Erlanger Innenstadt in „Lewin-Poeschke-Anlage“ umbenannt. Während der Einweihung wurde die Tat entpolitisiert und an dem Ort selbst informierte nichts über die namensgebenden Opfer geschweige denn über die Umstände ihrer Ermordung. Auch eine 2015 angebrachte Gedenktafel enthält kaum weitere Informationen und trägt zur Entpolitisierung bei, da nicht einmal zur Sprache kommt, dass es sich um einen Neonazi-Mord handelt.

Durch die kontinuierliche antifaschistische Gedenkarbeit linker Gruppen in Erlangen seit 2011, die auf wichtiger journalistischer Recherche, insbesondere von Ulrich Chaussy, aufbaut, wendete sich auch die Stadt Erlangen, vertreten durch SPD-Oberbürgermeister Florian Janik, stärker dem Gedenken zu. So forderten wir als initiative kritisches gedenken gemeinsam mit vielen anderen zum 40. Jahrestag 2020, als die öffentliche Aufmerksamkeit für den Fall hoch war, die Neugestaltung eines würdigen Gedenkorts, der die Tat in die lange Geschichte rechter Gewalt nach 1945 einordnet, über den Kontext informiert und so auch Bezüge zur Gegenwart ermöglicht.

Nachdem die Erlanger Linke einen entsprechenden Antrag im Stadtrat gestellt hatte, fällte dieser schließlich 2022 den Beschluss, dass ein solcher Gedenkort eingerichtet werden soll. Da im Vorfeld des letztjährigen Jahrestags des Attentats absehbar war, dass es vorerst keine Bestrebungen gab, diesen Beschluss auch umzusetzen, stellten wir während der Gedenkveranstaltung am 19. Dezember 2023 neue Forderungen. 

Anschließend an vorhergegangene Diskussionen an der Universität und in der Stadtgesellschaft forderten wir die Umbenennung der Bismarckstraße in Shlomo-Lewin-Straße und die Umbenennung des kreuzenden Lorlebergplatzes in Frida-Poeschke-Platz. Otto von Bismarck steht für antisoziale und antisozialistische Politik und muss als Wegbereiter des (deutschen) Kolonialismus betrachtet werden. Werner Lorleberg war der letzte NS-Kampfkommandant von Erlangen im zweiten Weltkrieg, der die Kapitulation vor den Alliierten erklärte. Obwohl Lorleberg als überzeugter Wehrmachtssoldat, Kriegsbefürworter und Nationalsozialist bis zum Schluss an der militärischen Verteidigung der Stadt festhielt und nur durch Überredung anderer letztlich einlenkte, wird er bis heute als Retter der Stadt geehrt.

Mit der Intervention in dieses problematische Heldengedenken und in diese besondere Konstellation deutscher Gewaltgeschichte (Kaiserreich/Kolonialismus – Nationalsozialismus – rechter Terror) streben wir eine erinnerungspolitische Veränderung in Erlangen an, an deren Anfang die Umbenennung der beiden Straßen stehen kann. Zu dieser Veränderung gehört es aber auch, sich nicht immer wieder nach runden Jahrestagen der politischen Verantwortung für die Erinnerung an das antisemitische Attentat auf Shlomo Lewin und Frida Poeschke zu entziehen und endlich den Beschluss zur Neugestaltung eines Gedenkortes umzusetzen.

Da die Stadt nach der Gedenkveranstaltung mit einem Kommentar in der Presse, es sei bei ihr kein Antrag auf Straßenumbenennung eingegangen, versuchte, die politische Frage nach dem öffentlichen Gedenken auf die Ebene der Verwaltung zu ziehen, beschlossen wir, uns in einem offenen Brief an den Oberbürgermeister zu wenden. Darin verleihen wir unseren Forderungen gemeinsam mit langjährigen Weggefährt*innen aus Erlangen und ganz Deutschland Nachdruck.

Bisher hat sich weder die Stadt dazu geäußert, noch wurde der offene Brief medial aufgegriffen, weshalb es unklar ist, wie der Prozess weiter verlaufen wird. Wir werden uns weiter für ein unabhängiges antifaschistisches Gedenken einsetzen und auch jenseits des Handelns der Stadt immer wieder an Shlomo Lewin und Frida Poeschke, an ihre Ermordung und an das Schweigen und Vergessen in Erlangen erinnern.

Der offene Brief samt Unterzeichner*innen ist hier nachzulesen – wir freuen uns über weitere Unterstützung und Verbreitung des Anliegens.

23. Juni 2024: Gedenktag anlässlich des 25. Jahrestages des ersten bekannten NSU-Anschlags in Nürnberg

Gastbeitrag von Das Schweigen durchbrechen

Gedenkkundgebung: 12 Uhr Scheurlstraße

Demonstration: Auftakt 13.30 Uhr, Willy-Brandt-Platz

Am 23. Juni 1999 explodiert in der Bar Sonnenschein ein Sprengsatz. Der Betreiber Mehmet O. überlebt schwer verletzt. Er ist das erste Opfer der extrem rechten Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (kurz: NSU).

Bis 2007 ermordet der NSU Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Neben diesen Mordanschlägen begeht der NSU mehrere Raubüberfälle und noch mindestens drei weitere Bombenanschläge. Dabei werden mehr als 30 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt, viele weitere schwer traumatisiert.

Die Ermittlungen der Polizei sind geprägt von Rassismus, Fehlern und Schikane gegenüber den Angehörigen. Auch die mediale Berichterstattung über die Morde trägt massiv zur Kriminalisierung und Stigmatisierung von Opfern und Angehörigen bei. Sie sind durchzogen von einer Herabwürdigung der Ermordeten und wilden Spekulationen über vermeintlich kriminelle Verstrickungen ihrer Familien. Deutlich wird dies am zutiefst rassistischen Begriff der „Dönermorde“, welcher von der Nürnberger Zeitung in die Welt gesetzt und von anderen Medien achtlos übernommen und reproduziert wird.

Überlebende, Angehörige und Initiativen kämpfen bis heute um die Aufarbeitung der Taten und der Hintergründe.

Doch die Taten des NSU sind kein Einzelfall. Sie reihen sich ein in Anschläge wie das Oktoberfestattentat von 1980, rassistische Pogrome wie jene in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda in den 90er Jahren und die Morde von Halle und Hanau heute. Begleitet werden diese von einem gesellschaftlichen Klima der Ignoranz, was sich aktuell deutlich bei der Debatte um die Abschaffung des Asylrechts zeigt. Hier offenbart sich nicht nur ein politisches Versagen, diesen extrem rechten Kontinuitäten etwas entgegenzusetzen, vielmehr scheinen Behörden und Institutionen in den Aufbau rechter Netzwerke und die Verhinderung von Aufklärung rechtsextremer Straftaten verstrickt zu sein.

Anlässlich des 25. Jahrestages des Beginns der Mord- und Anschlagsserie wollen wir die Forderungen nach Aufklärung und Aufarbeitung in Nürnberg auf die Straße tragen. Hierfür wird es zunächst um 12 Uhr am Tatort des Attentats in der Scheurlstraße eine Gedenkkundgebung geben. Um 13:30 Uhr wird anschließend vom Willy-Brandt-Platz aus die Demonstration durch die Nürnberger Innenstadt beginnen. Es kann kein „weiter so“ geben!

Mehmet O. wird als Überlebender des Anschlags an diesem Tag anwesend sein und sprechen.

Wir fordern:

• Angehörige und Betroffene ernst nehmen
• Vollständige Aufarbeitung der NSU-Mord- und Anschlagsserie
• Rassismus als Tatmotiv benennen
• Naziorganisationen und rechtsterroristische Strukturen entwaffnen und zerschlagen
• Staatliches Versagen aufarbeiten, Verfassungsschutz auflösen
• Weitere Morde und Anschläge verhindern

Weitere Infos hier.

Bei den Terminen findet ihr alle Gedenkveranstaltungen von Das Schweigen Durchbrechen im Juni.

Wir gedenken und erinnern: 
NSU-Anschlag auf Mehmet O.

Der NSU beging am 23. Juni 1999 seinen ersten bekannten, oft vergessenen, Sprengstoffanschlag auf Mehmet O. und die von ihm betriebene „Pilsbar Sonnenschein“ in der Scheurlstraße in Nürnberg.

Der damals 18-jährige Mehmet O. wurde bei dem Anschlag schwer verletzt. Er hatte sich mit seiner „Pilsbar Sonnenschein“ seinen Traum von der Selbstständigkeit verwirklicht, am Vorabend des Anschlags hatte er sie nach einer Testphase offiziell eröffnet.

Die Rohrbombe, versteckt in einer Taschenlampe, entdeckte Mehmet O. beim Reinigen der WCs seiner Bar am Tag nach der Eröffnungsfeier. Die Zündung war fehlerhaft, daher überlebte Mehmet O. den Anschlag schwer verletzt.

Wäre die Möglichkeit eines Neonazi-Attentats und Rassismus bei den Ermittlungen als Motiv in Betracht gezogen worden, hätte möglicherweise die weitere Mord- und Anschlagsserie des NSU verhindert werden können. Stattdessen waren die Ermittlungen, wie im Großteil der Ermittlungen der Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex, von institutionellen Rassismus gegen Mehmet O. geprägt und wurden sieben Monate nach der Tat ergebnislos eingestellt.
Erst während des NSU-Prozesses am Oberlandesgericht München wurde durch eine Aussage des mittlerweile rechtskräftig als NSU-Unterstützer verurteilten Carsten Schultze bekannt, dass das NSU-Netzwerk auch für die Rohrbombe verantwortlich war, die das Leben von Mehmet O. bis heute beeinträchtigt. Mit in die Anklage des NSU-Prozesses aufgenommen wurde der Anschlag jedoch nicht.

Abdurrahim Özüdoğru

Am 13. Juni 2001 wurde Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei in Nürnberg vom NSU ermordet. Er war das zweite Opfer der Mordserie und wurde 49 Jahre alt.

Abdurrahim Özüdoğru war 1972 aus der Türkei nach Deutschland gekommen und arbeitete als Metallfacharbeiter. Nebenbei baute er mit seiner Frau die Änderungsschneiderei auf.

Seine Tochter Tülin Özüdoğru ließ am 401. Verhandlungstag ihren Anwalt im Rahmen von dessen Plädoyer einen Brief verlesen:

„Mein Vater lebte bereits schon 29 Jahre in Deutschland, als diese Tat passierte. Ein junger Mann, der aufgrund seiner guten schulischen Leistungen ein Stipendium für ein Studium in Deutschland erhielt und so 1972 an der Universität Erlangen das Studieren begann. […] Dieser Mann, mein geliebter Vater, wurde in einem Erst-Welt-Land, in dem ökonomisch und technisch hochentwickelten modernen Deutschland am Tageslicht kaltblütig, brutal und auf professionelle Weise ermordet. […] Mein Vater wurde Opfer von Hass und Gewalt, Opfer von Verharmlosung rechter Gewalt.“

Die Ermittlungen nach dem Mord richteten sich gegen Abdurrahim Özüdoğru, seine Familie und sein Umfeld und waren von rassistischen Unterstellungen geprägt. Gegen Neonazis wurde kaum ermittelt.

Bis heute ist nicht geklärt, wer den NSU beim Mord an Abdurrahim Özüdoğru unterstützte. Die Änderungsschneiderei lag in einer Nebenstraße der Nürnberger Südstadt und war für Abdurrahim Özüdoğru ein Nebenerwerb, sie war nicht regelmäßig geöffnet. Um hier jemanden zu ermorden, brauchte es genaue Ortskenntnisse.

Süleyman Taşköprü

Am 27. Juni 2001 wurde Süleyman Taşköprü im Lebensmittelgeschäft seiner Familie in Hamburg vom NSU ermordet. Er wurde 31 Jahre alt und hinterließ eine Tochter.

Seine Schwester Ayşen Taşköprü schrieb zum 20. Jahrestag seiner Ermordung im Magazin „Hinz&Kunzt“ über die Monate vor dem Mord, in denen Süleyman Taşköprü den Laden seiner Familie in der Hamburger Schützenstraße übernommen hatte:

„Er war voller Pläne! Nebenan wollte er einen Weinladen eröffnen. Ich erinnere mich an den April 2001: Mein Bruder stand im Laden, voller Begeisterung, und meinte: ‚Guck mal, kleine Schwester, ich habe neue Regale besorgt!‘ Doch seine Pläne und Träume wurden mit ihm vernichtet.“

Der Mord an Süleyman Taşköprü war der dritte der Mordserie des NSU. Die Polizei ermittelte danach massiv gegen Süleyman Taşköprü, seine Familie und sein Umfeld. Und das, obwohl die Mordwaffe zuvor auch bei den Morden an Enver Şimşek und Abdurrahim Özüdoğru verwendet worden war und der Vater von Süleyman Taşköprü zwei weiße Deutsche als Tatverdächtige benannt hatte – er hatte die Mörder gesehen, bevor er seinen Sohn sterbend fand.
Hamburger Ermittler verhinderten während der bundesweiten Ermittlungen zur Mordserie 2006, dass tiefergehend in Richtung eines rechten Hintergrunds der Mordserie ermittelt wurde.Die Familie von Süleyman Taşköprü kämpft bis heute um Aufklärung.

Sein Neffe Okan Taşköprü sagte beim „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ Anfang Juni 2022: „Vor allem wünschen wir uns als Familie Taşköprü einen Untersuchungsausschuss in Hamburg. Die Aufklärung ist der einzige Weg mit den Schmerzen abschließen zu können.“Hamburg ist bis heute das einzige Bundesland, in dem der NSU mordete, das keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingerichtet hat. Im April 2023 stellte die Linksfraktion erneut einen Antrag auf Einrichtung eines UA. Dieser wurde von der Regierungskoalition aus SPD und Grünen verhindert, während die Familie von Süleyman Taşköprü in der Hamburger Bürgerschaft anwesend war.

NSU-Nagelbombenanschlag auf die Kölner Keupstraße

Am 9. Juni 2004, verübte der NSU in der Keupstraße in Köln einen rassistischen Nagelbombenanschlag. Sehr viele Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, unzählige traumatisiert.

Viele Überlebende des Anschlags gingen von Beginn an davon aus, dass sie einen rechten Anschlag überlebt hatten. „Nach meiner Vermutung waren es die Rechtsextremen“, wird einer von ihnen im Kölner Stadtanzeiger vom 10./11. Juni 2004 zitiert. Dies und auch die Tatsache, dass es 1999 mehrere rechte Anschläge mit einer ähnlichen Vorgehensweise in London gegeben hatte, ließen die Ermittler*innen aber außen vor.

Der NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag von Nordrhein-Westfalen offenbarte darüber hinaus, wie aktiv die Ermittlungsbehörden jeden Hinweis auf eine Ähnlichkeit zu den Londoner Anschlägen beiseite geschoben bzw. übergangen hatten.
Die Ermittlungen richteten sich stattdessen gegen die Bewohner*innen der Keupstraße, gegen die Ladenbesitzer*innen und Besucher*innen der Straße. Auch hier prägten rassistische Annahmen die Ermittlungen. Die Überlebenden des Anschlags auf die Keupstraße sprechen von dem „Anschlag nach dem Anschlag“, wenn sie den Umgang der Behörden, der Medien und von Teilen der Öffentlichkeit mit ihnen in den sieben Jahren zwischen dem Anschlag im Sommer 2004 und der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios im November 2011 beschreiben.
Wir gedenken auch Atilla Özer, Überlebender des Nagelbombenanschlags auf die Keupstraße, der am 23. September 2017 verstarb.

Anlässlich des 10. Jahresgedenkens zur Erinnerung an den Nagelbombenanschlag beging die Stadt Köln im Sommer 2014 das erste, damals sehr große Birlikte-Fest. Zahlreiche Menschen besuchten die Keupstraße oder kamen zu Konzerten und Redebeiträgen zusammen. Prominenter Gast und Festredner war auch der damalige Bundespräsident Joachim Gauck. Er stattet auch einigen Überlebenden des Anschlags einen Besuch ab. Der Film „Der Kuaför aus der Keupstraße“ dokumentiert diese Begegnung und ihren zum Teil schmerzahften Charakter. Denn nicht die Überlebenden und ihre Geschichte sondern der Bundespräsident schienen bei diesem staatstragenden Gedenken im Mittelpunkt zu stehen.

Zum 20. Jahrestag des Anschlages werden die von der Stadt und ihren (Kultur)einrichtungen vorbereiteten Veranstaltungen an der Seite selbstorganisierten Gedenkens aus dem Kreis von Betroffenen und Überblebenden, Initiativen und solidarischen Menschen stehen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich viel verändert. Das Mahnmal, dass an das Erleben und Überlebenden des Anschlags erinnert, ist aber auch im Sommer 2024 noch nicht realisiert. Das diejährige Birlikte-Fest ist Teil dieser andauernden Kämpfe um ein würdiges, selbstbestimmtes Gedenken.

İsmail Yaşar

Am 9. Juni 2005 wurde İsmail Yaşar in seinem Imbiss in Nürnberg vom NSU ermordet. Er wurde 50 Jahre alt.

Seinen Imbiss hatte İsmail Yaşar sechs Jahre zuvor gegenüber der Scharrerschule eröffnet, die auch sein Sohn besuchte. Nach dem Mord klebten Schüler*innen der Schule und Nachbar*innen Briefe an den Imbiss, legten Blumen ab und entzündeten Kerzen. İsmail Yaşar war sehr beliebt in seinem Viertel.

Die Ermittlungen der Polizei richteten sich jedoch gegen İsmail Yaşar, seine Familie und sein Umfeld. Die Ermittler*innen verbreiteten, wie in anderen Fällen der Mordserie, auch hier rassistische Gerüchte, beispielsweise Kontakten zum Drogenhandel.

In Richtung eines rechten Motivs wurde kaum ermittelt, obwohl es am Imbiss zuvor eine Sachbeschädigung gegeben hatte, für die ein Neonazi verurteilt worden war. Heute wissen wir: Dieser Neonazi hatte wohl Kontakt zum NSU-Umfeld. Auch dass der Mord an İsmail Yaşar genau ein Jahr nach dem Nagelbombenanschlag auf die Kölner Keupstraße geschah, wurde bei den Ermittlungen außen vor gelassen.
Mit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wurde klar: Die rassistischen Gerüchte, die Behörden und Medien verbreitet hatten, waren falsch. Seitdem kehrt die Erinnerung an İsmail Yaşar in die Nürnberger Scharrerstraße zurück. Schüler*innen der Scharrerschule gestalten das Gedenken rund um den Tatort, 2022 wurde eine Grünfläche in der Nähe als İsmail-Yaşar-Platz benannt.
Theodoros Boulgarides

Am 15. Juni 2005 wurde Theodoros Boulgarides in seinem zwei Wochen zuvor eröffneten Schlüsseldienst in München vom NSU ermordet. Er wurde 41 Jahre alt.

Seine Familie kämpft bis heute um Aufklärung, denn nach dem Mord ermittelte die Polizei nicht zu einem rechten Motiv, sondern gegen Theodoros Boulgarides, seine Familie und sein Umfeld. Und auch nach der Selbstenttarnung des NSU, die klar machte, dass es ein rassistischer Mord war, wurden das Neonazi-Netzwerk, das den Mord ermöglichte, und die Verantwortung der Behörden nie vollständig aufgeklärt.

Yvonne Boulgarides, die Witwe von Theodoros Boulgarides, sagte zum Ende des NSU-Prozesses: „Er ähnelt für mich einem oberflächlichen Hausputz. Um der Gründlichkeit genüge zu tun, hätte man die ‚Teppiche‘ aufheben müssen, unter welche bereits so vieles gekehrt wurde.“

Seine Tochter Mandy Boulgarides schrieb zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU:

Diese letzten 10 Jahre waren für alle Hinterbliebenen, Angehörigen und die Unterstützenden mehr als aufwühlend. Es war belastend und zum Teil auch beleidigend. Es waren auch 10 Jahre, in denen wir in die Beweispflicht genommen wurden, um nachzuweisen, dass mehr als nur drei Personen die Schuld an der kaltblütigen und menschenverachtenden Ermordung von 10 unschuldigen Menschen tragen. (…)

Was haben uns die letzten 10 Jahre gezeigt? Unser Rechtsstaat hat noch viel zu lernen und sollte sich dessen endlich bewusst werden! Die ganzen Morde und Anschläge stehen in keinerlei Verhältnis zu den lächerlichen Urteilen. (…)

Dies ist ein bedeutender Moment der deutschen Nachkriegszeit. Wir zeigen Deutschland, dass jeder das Recht haben muss lückenlose Aufklärung zu erhalten.

Ich will, dass alle Personen die mit dem NSU-Terror und dem ganzen Komplex in Verbindung stehen dafür zur Verantwortung gezogen werden.

Ich wünsche mir, dass Menschen keine Angst haben, für ihre Rechte oder die ihrer verstorbenen Angehörigen zu kämpfen und Fragen laut in die Gesellschaft zu schreien. (…)

Wir werden nicht aufhören zu fragen. Es wird endlich Zeit für klärende Antworten.“



+++ Termine +++
8.-9. Juni, KölnBİRLİKTE Gedenken & Kulturfest, 20. Jahrestag des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße. Keupstraße. Mehr Infos hier.
9. Juni, Nürnberg: Gedenken an İsmail Yaşar. 14.00 Uhr, Scharrerstraße. Weitere Infos hier.

9.-16.Juni, Köln: 5 Köln 80 Keupstr. Fotoausstellung zum Leben auf der Keupstraße 1980-1983. Café Paradies, Keupstraße 64. Mehr Infos hier.

13. Juni, Nürnberg: Gedenken an Abdurrahim Özüdoğru. 18.00 Uhr, Siemensstraße/ Gyulaer Straße. Weitere Infos hier.

14. und 20. Juni, Dortmund: Prozess gegen fünf Polizist*innen wegen des Todes von Mouhamed Lamine DraméMahnwachen vor dem Gericht ab 7:30 UhrWeitere Infos hier.

14. und 28. Juni, Berlin: Sitzungen des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-KomplexKundgebungen voraussichtlich ab 8:30 Uhr vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Weitere Infos hier.
23. Juni, Nürnberg: Gedenktag anlässlich des 25. Jahrestages des ersten bekannten NSU-Anschlags in Nürnberg. Ab 12 Uhr, Scheurlstraße. Weitere Infos hier.
 
23.-24.Juni, Dortmund: Ausstellung „STOPP. ZUHÖREN. BEGEGNEN.“ Von Cana Bilir-Meier und Talya Feldman. Mehmet-Kubaşık-Platz. Mehr Infos hier.
24. Juni, Nürnberg: Gedenken an den Anschlag auf die Disko Twenty Five, den Mord an William Schenck, Rufus Surles und Mohamed Ehap. 18:00 Uhr, Königsstraße, Ecke Richard Lindner Gasse. Weitere Infos hier.
24. Juni und 2. Juli, Schwerin: Sitzungen des 2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschusses Mecklenburg-Vorpommern zum Nordkreuz-Netwerk. Ab 10 Uhr im Schweriner Landtag. Weitere Infos hier.
Noch bis 28. Juli, München: Ausstellung „Rechtsterrorismus. Verschwörung und Selbstermächtigung – 1945 bis heute“ und Rahmenprogramm. Im NS-Dokuzentrum München. Weitere Infos hier.
Noch bis 25. August, Wien: Ausstellung „‚Man will uns ans Leben‘ Bomben gegen Minderheiten 1993–1996“ und Rahmenprogramm. Im Volkskundemuseum Wien. Weitere Infos hier.


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(Redaktion: ck, scs)