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Hallo zur Juli-Ausgabe unseres monatlichen NSU-Watch-Newsletters: „Aufklären und Einmischen“!
Wie immer berichten wir zunächst von Prozessen und Untersuchungsausschüssen, die wir beobachten oder begleiten:
- In Mecklenburg-Vorpommern steht das Nordkreuz-Netzwerk im Mittelpunkt des dortigen NSU/Rechter-Terror-Untersuchungsausschusses. Nach den letzten Sitzungen steht im Raum, dass der Nordkreuz-Komplex insbesondere von der Bundesanwaltschaft klein gehalten wurde. Der Untersuchungsausschuss muss herausfinden, warum das so ist.
- Der Neukölln-Untersuchungsausschuss wandte sich im Juni dem möglichen Einsatz von V-Leuten und der Rolle des Verfassungsschutzes im Neukölln-Komplex zu und schloss dabei die Öffentlichkeit allzu oft aus.
- Im Gerichtsprozess zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé kamen im Juni verschiedene Perspektiven zur Sprache: Es ging um die Gruppendynamik auf der Polizeiwache Dortmund-Nord und es zeigte sich eine Druckempfindlichkeit der Verteidigung. Vor allem wichtig war aber, dass es um Mouhamed und seine Zeit nach der Flucht ging.
Wir blicken aber auch zurück, denn vor sechs Jahren endete in München der erste NSU-Prozess nach 438 Prozesstagen mit der mündlichen Urteilsverkündung. Elif Kubaşık zog ein bitteres Fazit: „Dieses Urteil empfinde ich wie eine weitere Ohrfeige.“
Gut zu wissen:
+++ Schattenwurf, der Erinnerungsort für die Opfer und Betroffenen des NSU-Terrors wurde in Erfurt eröffnet +++
+++ Dritter Prozess zur Patriotischen Union ist in München gestartet +++
Am 27. Juli jährt sich der Anschlag vom Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn zum 24. Mal. Wir erinnern an den Anschlag, der weiterhin als unaufgeklärt gelten muss.
Im Juli gedenken wir der Opfer des Anschlags am Münchener Olympia-Einkaufszentrum: Armela Segashi, Can Leyla, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Sabine S., Selçuk Kılıç und Sevda Dağ, wurden bei dem rechten und rassistischen Anschlag am 22. Juli 2016 ermordet. Die Initiative „München erinnern“ fordert im Gastbeitrag, „Nicht vergessen: Der Anschlag war rechter Terror!“
Termine für ein gemeinsames Gedenken in München und Berlin sowie weitere Termine findet ihr am Ende des Newsletters.
Unser Newsletter ist kostenlos und wird es auch bleiben. Für unsere Arbeit sind wir aber dringend auf eure Unterstützung angewiesen, mehr dazu findet ihr auf unserer Spendenseite!
Kein Schussstrich!
Eure Antifaschist*innen von NSU-Watch
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Wurde der Nordkreuz-Komplex von den Behörden klein gehalten?
Seit Anfang Juni dreht sich im 2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern alles um das Nordkreuz-Netzwerk.
Zur Erinnerung: 2017 wurde bekannt, dass sich in Mecklenburg-Vorpommern unter anderem (ehemalige) Soldate*innen, Polizist*innen und Anwält*innen– zum Teil mit guten Kontakten zur AfD oder selbst Mitglied der Partei – sich in Chatgruppen auf einen „Tag X“ vorbereiteten. Ob dieser „Tag X“ an einem Ereignis festgemacht oder gewaltsam herbeigeführt werden sollte, ist nicht ganz klar. Aber an diesem Tag sollten vermutlich die auf Listen vermerkten politischen Feind*innen abgeholt, in zuvor festgelegte „Safe Houses“ gebracht und dort mit den zuvor gehorteten Waffen exekutiert werden. Geplant war war also anscheinend ein gewaltsamer rechter Umsturz.
Im Ausschuss geht es auch um die Verantwortung der Behörden dafür, dass es für die am Netzwerk Beteiligten kaum Konsequenzen gab, obwohl zwischenzeitlich sogar wegen Terrorverdachts ermittelt worden war. Der damals Beschuldigte Haik Jaeger konnte kürzlich sogar Abgeordneter für die AfD im Kreistag Nordwestmecklenburg werden.
Die zentrale Frage ist, warum die Bundesanwaltschaft (BAW) nach den Funden von Waffen, Munition, einer gemeinsamen Kasse, Feindeslisten und im Wissen um Planungstreffen kein Verfahren nach §129/129a (Bildung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung) gegen Jan Hendrik Hammer, Haik Jaeger, Marko Gr. und weitere Personen eröffnete. Warum sie stattdessen die Ermittlungen gegen Gr., den Administrator der Nord-Chatgruppen an die Behörden in Mecklenburg-Vorpommern abgab, die nicht wegen Terrorverdachts ermitteln konnten. Und warum sie die Ermittlungen gegen Jaeger und Hammer wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat schließlich einstellte.
Zwei für die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zuständige Staatsanwälte der BAW sagten dazu lediglich aus, dass ihnen ihr zentraler Zeuge eben gesagt habe, dass nur Hammer und Jaeger planten, am „Tag X „politische Gegner*innen zu ermorden (juristisch braucht es drei Menschen, um gegen eine Vereinigung zu ermitteln). Eine mehr als dürftige Antwort, die dem Untersuchungsausschuss die Frage nach dem Warum nur umso mehr aufdrängte.
Am 24. Juni sagte dann Erster Kriminalhauptkommissar U. I. vom BKA aus, er war der Ermittlungsführer des Ermittlungsverfahrens gegen Jan Hendrik Hammer und Haik Jaeger im Auftrag der BAW. Ihr Auftrag sei dabei gewesen, den Tatvorwurf der schweren staatsgefährdenden Straftat zu erhellen. Die juristische Bewertung und damit auch die Entscheidung, ob man das Verfahren erweitern sollte, lag weiterhin bei der BAW.
Nach den ersten Durchsuchungen habe man die Erkenntnisse zusammengefasst und der BAW zur Prüfung vorgelegt. Es habe sich dem BKA so dargestellt, dass Marko Gr. eine Führungsperson innerhalb der Chatgruppen war. Gr. habe auch die persönlichen Treffen der Gruppe organisiert. Er sei der Koordinator gewesen, habe gesagt, was beschafft werden müsse und unter den Mitgliedern der Chatgruppen auch Geld dafür gesammelt. Außerdem konnte er auch das Scharnier ins bundesweite Netzwerk gelten da er mit Schlüsselpersonen in der übergeordneten „Chatgruppe Basis“ organisiert war. Die BAW legte dennoch fest, dass Marko Gr. nicht als Beschuldigter, sondern weiterhin als Zeuge geführt werden solle.
Später fasste der BKA-Zeuge U. I. die Erkenntnisse erneut in einem 37-seitigen Vermerk zusammen. Im Vermerk ging er auf Aktivitäten der einzelnen Personen aber auch auf das offenbare arbeitsteilige Vorgehen des Netzwerks ein. Das Ziel war eine Prüfung, ob weitere Personen Beschuldigte werden sollen. Dies wurde jedoch erneut abgelehnt. Der Zeuge sagte, das habe man auch hinterfragt, es sei aber nie ausführlich oder schriftlich begründet worden, warum.
Die Ermittlungen gegen Marko Gr. blieben also bei den Behörden in Mecklenburg-Vorpommern. Dazu sagte am 1. Juli der ehemalige Chef des LKA Mecklenburg-Vorpommern, Ingolf Mager, aus. Er wurde im Zuge des Nordkreuz-Skandals 2019 versetzt. Mager kannte Marko Gr. bereits seit 2009. Er führte damals ein Gespräch mit dem damaligen SEK-Beamten Gr., weil eine Meldung zu einer Reichskriegsflagge in Gr.s Garage vorlag. Er habe ihm eingeschärft, dass „militärhistorisches Interesse“ nicht in die Nähe von „Extremismus“ kommen dürfe. Als Mager 2017 zu den bevorstehenden Durchsuchungen informiert wurde, war Gr. nicht mehr beim SEK.
Mager bezeichnete die Zusammenarbeit mit dem BKA immer wieder als „bemerkenswert“. So seien ihnen beispielsweise Chatverläufe von Marko Gr. übermittelt worden, die das BKA nicht ausgewertet hatte. Außerdem hätten sie wiederholt um eine Einschätzung der Gefährlichkeit der beteiligten Personen und des Sachverhalts gebeten. Das sei aber nicht ausreichend geschehen.
Er habe die Betroffenen auf den Listen auch persönlich informieren wollen, so Mager. Dies wurde aber im Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern anders gesehen, man befürchtete, dem Themenkomplex würde sonst eine „signifikante Bedeutung“ zugemessen. Die Betroffenen erfuhren so erst 2019 bei Vernehmungen durch das BKA davon, dass sie auf den Feindeslisten von Nordkreuz vermerkt waren.
Der Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern setzt seine Arbeit nach der Sommerpause im September fort, Termine dafür findet ihr in den folgenden Newslettern.
Auf unserer Homepage findet ihr weitere Hintergrundartikel, Berichte zu den Ausschusssitzungen zum Untersuchungsausschuss und unsere Prozessbeobachtung des Verfahrens gegen Marko Gr.
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V-Leute, Verfassungsschutz und Neukölln-Komplex
Der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex im Berliner Abgeordnetenhaus beschäftigt sich seit Juni mit dem möglichen Einsatz von V-Leuten und der Rolle des Verfassungsschutzes im Neukölln-Komplex. Die Vermutung, dass es einen Einsatz von V-Leuten gab, wurde bereits von Polizeibeamten öffentlich im Ausschuss geäußert. Die Sitzung am 14. Juni 2024 fand dennoch zu großen Teilen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil sich die beiden geladenen LKA-Beamten lieber im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung äußern wollten und die Abgeordneten diesem Wunsch allzu leicht nachgaben.
So antwortete der Zeuge Tom W. vom Staatsschutz des LKA Berlin auf die Frage, ob er allgemein etwas zum Einsatz von V-Personen sagen könne mit: „Da kann ich was zu sagen, aber nicht für die Öffentlichkeit geeignet.“ Aus ihm konnte zum Thema lediglich herausbekommen werden, dass man den Einsatz von (polizeilichen) V-Leuten erwogen habe, nicht aber, ob dies dann auch umgesetzt wurde. Befragt wurde der Zeuge außerdem nach Observationen im Neukölln-Komplex, er gab an: „Aus Ermittlersicht kann ich sagen, es war suboptimal, nicht engmaschig, an nicht genug Tagen.“
Der zweite Zeuge des Tages, Frank K. vom LKA 6 stellte zu Beginn seiner Aussage gleich klar, dass seine Dienststelle sich zwar mit der verdeckten Informationsbeschaffung, insbesondere durch das Führen von V-Leuten und Informanten, befasse, er aber nur zwei Berührungspunkte mit dem Untersuchungsgegenstand gehabt habe und zwar im Bereich Organisierte Kriminalität. Welche das waren, das wollte der Zeuge nur im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung offenbaren.
Allgemein sagte er zu seiner Aufgabe unter anderem, dass der deutlich kleinere Teil auf gezielte Anfragen aus anderen Polizeidienststellen nach V-Leuten zurückgehe, meistens kämen Personen als Informanten auf die Polizei zu. Der Unterschied zwischen einer Vertrauensperson und einem Informanten sei, dass ein Informant bereit sei, bei der Aufklärung einer Straftat zu helfen, und eine Vertrauensperson bereit sei, dauerhaft die Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen, ohne selbst Angehöriger einer Behörde zu sein. Ein Informant werde abgeschöpft, V-Leute könnten auch Aufträge bekommen.
Ausführlicher Bericht zur 32. Sitzung auf unserer Homepage.
In der Sitzung am 28. Juni zeigten die Abgeordneten mehr Engagement beim Fragen, als sie einen ehemaligen Referatsleiter im Berliner Verfassungsschutz als Zeugen hörten. In dessen Referat waren die Themen Rechtsextremismus, Geheim- und Wirtschaftsschutz sowie der operative Bereich angesiedelt, er leitete es von 2013 bis 2015. Der Zeuge antwortete abstrakt auf die Fragen der Abgeordneten und trug zum Thema Neukölln-Komplex nichts bei.
Auf konkretes Nachhaken sagte er zusammenfassend, dass es in seiner Zeit in dem Bereich zwar Entwicklungen gegeben habe, aber keine nennenswerten Personenzugänge und auch sonst nichts Herausragendes. Zur Straftatenserie wollte oder konnte er ebenfalls nichts sagen, noch nicht einmal, ob und in welchem Maße sich welche Delikte als Serie dargestellt hätten. Insgesamt sei das Ziel des Referats die Aufhellung, Beschreibung und Analyse des gesamten Spektrums.
Zur Arbeit am Thema gab der Zeuge an, dass sie Zugänge zur Szene gehabt hätten, anhand derer sie von geplanten Straftaten hätten mitbekommen können. Dies hätten sie dann mittels eines „Behördenzeugnisses“ an die Polizei weitergegeben. Insgesamt stellte er die Zusammenarbeit mit der Polizei als gut dar. Es gebe zwar durchaus eine Wissenshierarchie, weil sie unter anderem wegen Quellenschutzes nicht alle Informationen hätten weitergeben können. Sie hätten aber ein Kennenlernen aller Mitarbeiter*innen von Verfassungsschutz und Polizei, die am Thema Rechtsextremismus arbeiten, initiiert, damit diese sich „mit kurzem Draht“ austauschen könnten.
Kurios war, dass der Zeuge eine Antwort auf die Frage nach seinem beruflichen Werdegang mit Verweis auf seine Aussagegenehmigung verweigerte. Der Zeuge war allerdings bereits im Dezember 2023 schon einmal vom Neukölln-Untersuchungsausschuss gehört worden, damals zu seiner Arbeit als Dezernatsleiter beim polizeilichen Staatsschutz im LKA Berlin von 2011 bis 2013.
Der Neukölln-Untersuchungsausschuss setzt seine Arbeit nach der Sommerpause im September fort, Termine dafür findet ihr in der nächsten Ausgabe des Newsletters.
Auf unserer Homepage findet ihr weitere Hintergründe und Berichte zu den Ausschusssitzungen.
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Mouhameds Geschichte
Im Gerichtsprozess gegen die fünf Polizeibeamt*innen der Dortmunder Nordstadtwache, die mit ihrem Einsatz am 8. August 2022 Mouhamed Lamine Dramé töteten, wurden an den für Juni 2024 geplanten drei Prozesstagen verschiedene Perspektiven sichtbar. Es ging um die Gruppendynamik auf der Wache Nord, um die Druckempfindlichkeit der Verteidigung und vor allem: um Mouhamed und seine Zeit nach der Flucht.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Vertreter*innen der Medien standen mit dem 14. und 15. Tag der Hauptverhandlung im Strafverfahren zur Aufklärung des Todes von Mouhamed Lamine Dramé zweifellos ein weiteres Mal die Angeklagten. Und mit ihnen die polizeiliche Perspektive auf den Einsatz vom 8. August 2022, in dessen Verlauf die jetzt angeklagten Beamt*innen der Dortmunder Polizei Mouhamed Lamine Dramé bedrängt, mit Pfefferspray belegt, durch den Einsatz von Tasern verwundet und am Ende mit Schüssen aus einer Maschinenpistole tödlich verletzt hatten.
Die Medienberichte folgten an diesen beiden Verhandlungstagen den Aussagen der Schützin des Tasers sowie der Polizistin, die mit einer ganzen „Ladung“ Pfefferspray den weiteren Einsatzverlauf erst losgetreten hatte. Die Presse blieb dazu weitgehend unkritisch. Sogar wie wohlwollend wurde hervorgehoben, dass eine der Angeklagten ihrem Dienstgruppenleiter zuvor ein alternatives Vorgehen (den Einsatz des Tasers statt des ‚milderen‘ Pfeffersprays) vorgeschlagen, den dann folgenden Ablauf also im Vorhinein hinterfragt haben wolle.
Weitestgehend ohne Medienwiderhall blieb allerdings, dass auch im Kontext dieser beiden Einlassungen erneut deutlich wurde, wie wahrscheinlich es ist, dass sich die beteiligten Polizeibeamt*innen nach ihrem tödlichen Einsatz intensiv ausgetauscht, abgesprochen und sich Gedanken dazu gemacht hatten, wie etwaigen kritischen Nachfragen begegnet werden könne.
Die Vorhalte von Chatprotokollen zeigten darüberhinaus etwa, dass auch Tipps für ein passendes Aussageverhalten gegenüber der ermittelnden Recklinghausener Polizei Thema der Kontakte waren. Der 15. Prozesstag offenbarte außerdem, dass ein Wochen vorher als Zeuge befragter Polizist, der in der Nordstadtwache Teil einer zivilen Einsatzgruppe war, eine Falschaussage vor Gericht getätigt hatte, als er ein privates Verhältnis zwischen ihm und einer der Angeklagten geleugnet hatte.
Die Beweiserhebung machte spätestens zu diesem Zeitpunkt sehr deutlich, wie dicht die Gruppendynamiken und persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der beteiligten Dienstgruppen der Wache Nord gestrickt sind – die Angeklagten sind seit Jahren gemeinsam im Einsatz.
Nerven zeigt inzwischen auch die Verteidigung. Der Strafverteidiger der Polizistin etwa, die wegen des Pfefferspray-Einsatzes angeklagt ist, nahm die Aussage einer der Sozialarbeiter*innen, die Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund über dessen letzten Tage begleitet hatte, zum Anlass, die Zeugin zu diskreditieren und die kritische Prozessbeobachtung anzugreifen.
Die beiden Sozialarbeiter*innen, die Mouhamed aus der Jugeneinrichtung in Dortmund kannten, aber auch seine Vormündin aus einer Erstaufnahmeeinrichtung in Mainz und die Psychologin, die ihn am Abend vor dem tödlichen Polizeieinsatz in der jugendpsychiatrischen Abteilung der LWL-Klinik kennengelernt hatte, prägten allerdings das Prozessgeschehen noch einmal auf eine ganz andere Weise.
Mit ihren Zeug*innenaussagen kam zum ersten Mal zur Sprache, was Mouhameds Geschichte nach seiner Flucht gewesen sein könnte. Sie schilderten ihn als lebensfrohen, freundlichen Menschen, der aufgeweckt war und leidenschaftlich für seinen Lieblingsfußballclub, den Dortmunder BVB, schwärmte.
Sie hatten ihn aber auch als zurückgezogen erlebt, wenn er Lärm und hektische Situationen zu vermeiden suchte oder in sich selbst gekehrt Zeit mit Musik verbrachte. Zwei Zeug*innen ordneten ein, wie groß die Kraft Mouhameds gewesen sein muss, von sich aus nach Hilfe zu suchen, als er am 7. August, dem Vorabend seines Todestages, vertrauensvoll die Polizei und Ärzt*innen um Hilfe in einer psychischen Not- und Krisensituation gebeten hatte – geduldig wartend, ruhig und freundlich. Aus Mainz ist bekannt, dass Mouhamed nach seiner gewaltvollen Fluchterfahrung unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung litt.
In den kommenden Wochen pausiert die Verhandlung – es werden in kürzeren „Schiebeterminen“ lediglich Schriftstücke verlesen, darunter etwa Gutachten zur Nutzung der polizeilichen Einsatzmittel am Tattag.
Wenn die Hauptverhandlung im Spätsommer wieder aufgenommen wird, könnte es schnell gehen mit dem Ende der Beweisaufnahme. Das Gericht hat Hauptverhaldungstermine bis zum 11.09. angekündigt. Wenn die Kammer ihrem Plan folgt, werden nach der Sommerpause die letzten Verhandlungstage vor den Schlussworten und vor Ende der Beweisaufnahme also im Eiltempo durchgebracht. Dafür braucht es dann dringend solidarische Prozessbegleitung.
Bitte unterstützt Familie Dramé und Mouhameds Brüder Sidy und Lassana Dramé, kommt zu den Prozsseterminen und schließt Euch der Spendenkampagene an!
Berichte zum Prozess, zu Terminen und Stellungnahmen findet Ihr weiterhin auf der Homepage des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed. Ein Podcast des freien Radios „Radio Nordpol“ begleitet außerdem jeden Prozesstag mit aktuellen Eindrücken aus dem Gerichtssaal und mit Einschätzungen zu Polizeikultur, rassistischer Polizeigewalt und alternativen Formen der Unterstützung von Menschen in Krisensituationen jenseits von Überwachen, Polizieren und Strafen.
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Rückblick: Am 18. Juli 2018 endete der erste NSU-Prozess
„Dieses Urteil ist ein Schlag ins Gesicht der Angehörigen!“
Dies schrieben wir vor sechs Jahren, als am 11. Juli 2018 in München nach 438 Verhandlungstagen das mündliche Urteil im ersten NSU-Prozess verkündet wurde.
Kein Wort des Mitgefühls verlor der Vorsitzende Richter in Richtung der Angehörigen und Überlebenden. Institutioneller Rassismus, die gegen die Betroffenen gerichteten Ermittlungen der Polizei, die Verantwortung des Verfassungsschutzes – nichts davon wurde im Urteil thematisiert. Stattdessen konnten am Ende des Tages die Neonazis applaudieren, weil ihre „Kameraden“ mit vergleichsweise geringen Strafen davon kamen und einer der angeklagten und veruteilten Täter gar sofort aus der U-Haft entlassen wurde.
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„Wir sind nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend über das Urteil. Nicht nur, weil die Angeklagten André Eminger und Ralf Wohlleben deutlich niedrigere Strafen erhalten haben, als es die Bundesanwaltschaft gefordert hatte. Viel schlimmer ist für die Nebenkläger*innen, dass das Urteil ein Schlussstrich sein will.“
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Dies erklärten 22 Vertreter*innen der Nebenklage für ihre Mandant*innen, nachdem das Gericht sein Urteil verkündet hatte. Zwar verurteilte das Gericht alle Angeklagten, doch ist das Urteil den Dimensionen des NSU-Komplexes in seiner Gesamtheit nicht angemessen. Es spiegelt auch nicht die Ergebnisse der Verhandlung im Münchener Strafjustizzentrum wider. Mit Ausnahme der Strafen für Beate Zschäpe und für den einzigen voll geständigen Angeklagten, Carsten Schultze, blieb das Strafmaß unter den Forderungen der Bundesanwaltschaft.
Nach dem Richterspruch schrieben wir: „Das Urteil und seine Begründung waren eine Einladung an die terroristische Neonaziszene: Sie können nahezu straffrei dort weitermachen, wo der NSU 2011 aufgehört hat.“
Schon durch dieses Strafmaß – die lebenslange Freiheitsstrafe für Beate Zschäpe und im Kontrast dazu die milden Strafen für die anderen Angeklagten, insbesondere der Teilfreispruch für Eminger – machte der Senat deutlich, wie er den NSU-Komplex betrachtet wissen will: Der NSU als isoliertes Trio mit wenigen Unterstützer*innen. Diese kamen, abseits der Angeklagten, in der mündlichen Urteilsbegründung nicht vor, ebenso wenig wie die neonazistische Ideologie des NSU.
„Die Begründung wurde dahingehaspelt, kein Wort mehr als es eine technokratische Urteilsbegründung erfordert; keine Einordnung der Bedeutung des Verfahrens, kein Wort an die Nebenkläger*innen“, bewertet die Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens das Urteil. Vollends verworfen wurde selbst die Möglichkeit, dass mehr als die drei Angehörigen des Kerntrios an den Morden des NSU beteiligt gewesen sein könnten.
Am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess gab es eine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude und am Abend eine Demonstration unter dem Motto „Kein Schlussstrich“. Die Initiative „Keupstraße ist überall“ hatte bei der Kundgebung dafür gesorgt, dass Medienvertreter*innen an diesem letzten Tag des Prozesses die Erinnerung an die Ermordeten nicht übersehen konnten.
Auf der Kundgebung wurden Porträts von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıc, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter gezeigt.
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Die abendliche Demonstration, an der über 5.000 Menschen teilnahmen, wurde angeführt von einigen Angehörigen und Überlebenden. Auch hier wurden die Porträts der Ermordeten gezeigt – an der Spitze der Demonstration. An ihnen war kein Vorbeikommen. Die Bilder zur Erinnerung an die Ermordeten prägten den 11. Juli 2018 mit. Sie waren bundesweit in Nachrichtensendungen zu sehen und am nächsten Morgen auf den Titelblättern der Tageszeitungen. Das Erinnern hatte für einen kurzen Augenblick Aufnahmen aus dem Gerichtssaal von der Bildfläche verdrängt.
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Gut zu wissen:
Aktuelles aus dem Themenbereich Rechter Terror und Antifaschismus
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+++ Schattenwurf, der Erinnerungsort für die Opfer und Betroffenen des NSU-Terrors wurde in Erfurt eröffnet +++
Am 19. Juni wurde in Erfurt direkt vor dem Thüringer Landtag der Gedenkort „Schattenwurf“ für die Opfer und Betroffenen des NSU eingeweiht. Das Denkmal ist so konstruiert, dass bei Sonnenschein die Namen der Ermordeten – Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıc, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter – auf der Erde geschrieben stehen. Audios und Texte erinnern an die Ermordeten und die Überlebenden der Sprengstoffanschläge. Außerdem kann man sich zum NSU-Komplex informieren.
Der Gedenkort wurde gemeinsam mit Angehörigen der Ermordeten und mit Überlebenden eröffnet. „Für mich ist der Erinnerungsort ein wichtiger Ort, ein besonderer, ein emotionaler Ort“, sagt Semiya Şimşek, Tochter des vom NSU ermordeten Enver Şimşek. Und: „Es ist wichtig, dass die Namen der Ermordeten und das Unrecht nicht vergessen werden, dass an das Versagen der Ermittlungsbehörden erinnert wird.“
Katharina König-Preuss, die die Aufklärung des NSU-Komplex als Abgeordnete des Thüringer Landtags und als Antifaschistin seit Jahren entscheidend vorantreibt, sagt: „Der Erinnerungsort ‚Schattenwurf‘ dient dem Gedenken und der Aufklärung, um sicherzustellen, dass solche Verbrechen nie wieder geschehen.“
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+++ Dritter Prozess zur Patriotischen Union ist in München gestartet +++
Am 18. Juni begann in München der dritte von drei Oberlandesgerichts-Prozessen gegen die sogenannte Patriotische Union, auch bekannt als Reuß-Gruppe. Dieser läuft nun parallel zu den Prozessen in Frankfurt und Stuttgart.
In dem Verfahren „9 St 7/23 gegen Christian W. u.a.“ vor dem 9. Strafsenat des OLG München sind acht Personen angeklagt. Der Prozess ist benannt nach Christian Wendler, einem ehemaligen AfD-Stadtrat aus Olbernhau im Erzgebirgskreis, der dem „militärischen Führungsstab“ der Gruppe zugeordnet wird und dort laut Generalbundesanwalt für die Beschaffung von Waffen und Ausrüstung zuständig war.
Angeklagt sind daneben der laut GBA als „Außenminister“ einer neuen Regierung nach dem Umsturz vorgesehene Rechtsanwalt Tim Paul G. aus Hannover, die laut GBA als „Gesundheitsministerin“ vorgesehene Ärztin Melanie R. aus dem Landkreis Peine und Ruth L. aus dem hessischen Heppenheim. L. war „Astrologin“ sowie zeitweilige Mitarbeiterin der in Frankfurt angeklagten Ex-Bundestagsabgeordneten der AfD Birgit Malsack-Winkemann, und ist u.a. als Gründungsmitglied der Gruppe angeklagt. Ebenfalls als Gründungsmitglieder angeklagt sind Harald P. aus dem Landkreis Schweinfurt und der oft als „rechte Hand“ des in Frankfurt angeklagten Heinrich Reuß bezeichnete Thomas T. aus dem Landkreis Ansbach.
Wendler, L., P., T. und dem weiteren Angeklagten Tomas M. wird vorgeworfen, in die Planungen für einen Angriff auf den Bundestag eingebunden gewesen zu sein bzw. dafür vorgesehen gewesen zu sein. Der Angeklagte Frank R., wie Wendler aus Olbernhau stammend, schließlich soll u.a. im Führungsstab des „militärischen Arms“ in die Konzeption und Rekrutierung für die sogenannten „Heimatschutzkompanien“ eingebunden gewesen sein.
Audiobeitrag des Bayerischen Rundfunks zum Münchener Prozess u.a. von Robert Andreasch.
Im Prozess in München kam es nach der Anklageverlesung bisher nicht zur Beweisaufnahme. Die Anwält*innen der Angeklagten, darunter der als Verteidiger von Beate Zschäpe im NSU-Prozess bekannte Wolfgang Heer, zögerten den Beginn der Beweisaufnahme mit diversen Anträgen hinaus. In diesen Anträgen geht es etwa darum, das Verfahren auszusetzen, weil die vom Gericht zur Verfügung gestellten Akten aus technischen Gründen nicht lesbar seien.
Heer beantragte außerdem die Aufzeichnung des Verfahrens und absurderweise die Einsicht in die Unterlagen zur Presseakkreditierung. Wie zuvor die Anwält*innen in Stuttgart und Frankfurt stellen sich die Verteidiger*innen zudem die Frage, wie zum Beispiel mögliche Aussagen von Angeklagten in den anderen beiden Verfahren ins Münchener Verfahren eingeführt werden können.
In Frankfurt und Stuttgart gab es tatsächlich bereits Aussagen.
In Frankfurt ließen sich Angeklagte zu ihren persönlichen Verhältnissen ein, darunter auch Heinrich Reuß, der unter anderem tränenreich von sich behauptete Gewalt abzulehnen. Besonders fiel in Frankfurt wieder einmal der Ex-Bundeswehr-Offizier Maximilian Eder auf, der ausschweifend und teils schwer nachvollziehbar vortrug und schließlich sogar für die Zeit nach dem Verfahren andeutete, dass er sich das Leben nehmen werde. Eder hat in der Haft bereits einen Hungerstreik hinter sich.
Auch in Stuttgart ließen sich Angeklagte zu ihren persönlichen Verhältnissen ein. Der Angeklagte Wolfram S. aus Ettlingen in Baden-Württemberg sagte aber auch zur Sache aus. S. wird vorgeworfen, für den Aufbau einer IT-Struktur der Gruppe zuständig gewesen zu sein. Wenig überraschend spielte S. seine eigene Rolle herunter, sagte aber über die Rolle anderer Angeklagter intensiver aus.
Auf der Seite der Beobachtungsgruppe „PU-Watch Stuttgart“ finden sich erste Berichte zum Prozess.
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Am 22. Juli 2024 jährt sich der rechte und rassistische Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) zum achten Mal. Noch immer ist vielen Menschen nicht bekannt, dass Armela Segashi, Can Leyla, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Sabine S., Selçuk Kılıç und Sevda Dağ von einem rechten und rassistischen Täter ermordet wurden.
Das OEZ, eine Shopping-Mall und ein beliebter Treffpunkt gerade für Jugendliche, wählte der Täter bewusst aus. Die Journalistin Nabila Abdel Aziz, die selbst in München-Moosach, in der Nähe des Anschlagsortes, aufgewachsen ist, sagt über die Bedeutung des OEZ in ihrer Jugend: „Für uns war es damals ein Rückzugsraum, viele Menschen aus dem Viertel gehen dorthin, viele nicht-weiße Menschen, viele mit Migrationgeschichte. Es ist ein Ort, an dem man deutlich sieht, wie vielfältig unsere Gesellschaft ist.“
Nicht nur für viele Menschen im Viertel, die selbst von Rassismus betroffen sind, war sofort klar, dass die Tat gegen sie gerichtet war. Seine extrem rechte, rassistische Überzeugung brachte der Täter nicht zuletzt auch durch das Datum des Anschlags zum Ausdruck: den fünften Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags in Oslo und Utøya.
Trotzdem bezeichnete die Polizei, ohne die Ermittlungsergebnisse abzuwarten, schon unmittelbar nach dem Geschehen die Tat als einen Amoklauf. Diese Deutung erweist sich bis heute als äußerst wirkmächtig. Das politische Motiv der Tat wurde somit lange ignoriert oder bagatellisiert.
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Dies trug entscheidend dazu bei, dass der Anschlag noch immer kaum erinnert wird und häufig unerwähnt bleibt, wenn über rechten Terror in Deutschland gesprochen wird.
„Wenn angesichts der rassistischen Strukturen in der Gesellschaft und auch bei der Polizei bei einer solchen Tat von Amoklauf gesprochen wird, ist das ein Angriff auf unser Recht, hier friedlich zu leben“, sagt Samet Leyla, Cousin und Patenonkel von Can Leyla.
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Eine weitere Folge: entsprechende Ermittlungen beispielsweise in Bezug auf die Gaming-Plattform, über die sich der Täter im extrem rechten Milieu vernetzte, blieben aus. Eine sorgfältige Ermittlung dieser Verbindungen hätte möglicherweise weitere Anschläge wie die in Halle und New Mexico verhindern können.
Erst nach über drei Jahren, im Oktober 2019, wurde der rechte, rassistische und antiziganistische Hintergrund der Tat am OEZ von staatlicher Seite anerkannt – und zwar nur weil Betroffene und Angehörige von Anfang an dafür gekämpft hatten.
„Die Polizei taugt nix“, sagt Gisela Kollmann, die Oma des ermordeten Guiliano Kollmann im Hinblick auf die Erfahrungen, die sie in der Folge des Anschlags machen musste. Die erste Frage, mit der sie und ihre Familie konfrontiert wurden, als ein Polizist sie „frech und abgebrüht“ über den Tod ihres Enkels informierte, lautete, was Guiliano eigentlich am OEZ gemacht habe. Auch in den folgenden Tagen warteten nicht nur die Kollmanns, sondern auch die Angehörigen aller weiteren Opfer vergeblich auf Mitgefühl, eine angemessene Anerkennung ihrer Trauer sowie professionelle Betreuung und Unterstützung durch Behörden und Politik.
Bisher fehlt auch die Solidarität der Münchner Stadtgesellschaft mit den Angehörigen und Überlebenden weitgehend. „Wir wünschen uns, dass München auch jetzt noch – im Erinnern und Aufklären der Tat – zusammensteht wie es am 22.7.2016, in der Tatnacht zusammengestanden ist“, fordert Guilianos Vater Rudolf Kollmann.
„Es war schrecklich, dass nach kurzer Zeit keiner mehr von Can oder Selçuk und den anderen sieben Opfern gesprochen hat. Wir kämpfen darum, die Gesellschaft aufzuwecken. Und wenn es uns gelingt, nur eine Tat zu verhindern, haben wir viel erreicht.“, so Hasan Leyla, der Vater von Can Leyla. Und Engin Kılıç ergänzt: „Ich wünsche mir, dass, wenn ich jetzt von dieser Veranstaltung gehe, niemand mehr diesen Platz einnehmen muss.“
Lasst uns diese Anliegen ernst nehmen und gemeinsam mit den Angehörigen für Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen kämpfen!
Da der 22. Juli in diesem Jahr auf einen Montag fällt, wünschen sich die Angehörigen , am Samstag, 20. Juli 2024, bei einer Kulturveranstaltung mit dem Titel „We will shine for these nine“ zu gedenken.
SZENISCHE LESUNG
Schauspieler*innen tragen eine von der Initiative geschriebene szenische Lesung vor. Die Lesung wird verschiedene Quellen gegeneinanderhalten, um Einblicke zum Stand der Aufklärung zu geben.
PODIUMSDISKUSSION
In einer Podiumsdiskussion berichten Angehörige und Überlebende rechter, rassistischer und antisemitischer Anschläge und tödlicher Polizeigewalt. Sie sprechen über die Bedeutung von Unterstützung und Kontinuität in ihren Kämpfen.
MUSIK-ACTS
APSILON: (Deutsch-Rap)
Zelal Kapçık: (Gesang & Saz)
WORD UP Crew mit Waseem (Rap Crew mit jungen Künstler*innen)
Wichtig ist die Teilnahme an der Gedenkveranstaltung am eigentlichen Jahrestag am Montag, den 22. Juli 2024, um 17:00 Uhr. Im Austausch mit der Initiative München OEZ Erinnern richtet die Stadt München auch dieses Jahr das Gedenken aus. Angehörige der Opfer des OEZ-Anschlags, der Oberbürgermeister Dieter Reiter sowie Überlebende und Angehörige rechtsterroristischer Anschläge werden in Reden an die neun Ermordeten erinnern.
Zeigt Eure Solidarität! Erinnert mit uns! We shine for these nine!
Wenn Ihr nicht nach München kommen könnt, organisiert Gedenken in Euren Städten. Sprecht die Initaitive OEZ Erinnern an, wenn Ihr Material braucht.
kontakt@muenchen-erinnern.de
www.muenchen-erinnern.de
www.instagram.com/muenchen.oez.erinnern/
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24 Jahre keine Aufklärung
Erinnern an den Anschlag vom Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn vom 27. Juli 2000
Der Anschlag vom 27. Juli 2000, bei dem zwölf Menschen zum Teil schwer und einschneidend verletzt worden sind, jährt sich in diesem Jahr zum 24. Mal. An den Anschlag zu erinnern heißt auch: immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass die rassistisch und antisemitisch motivierte Tat bis heute nicht aufgeklärt ist.
Bereits unmittelbar nach dem 27. Juli 2000 lenkte vor allem die öffentliche Einschätzung lokaler Antifaschist*innen die Aufmerksamkeit der zur Aufklärung des Wehrhahn-Anschlags eingesetzte Ermittlungskommission „Acker“ auf einen dann bald Tatverdächtigen. Doch die Ermittlungsbehörden folgten der Spur nicht in angemessenem Maße.
Telekommunikationsüberwachungen wurden weitgehend ohne Kenntnisse von Kennverhältnissen und Netzwerken der (lokalen) Neonazi-Szene eingeordnet, lokalen Akteur*innen wurde nicht auf den Zahn gefühlt. Frühere, erfolglose Angriffe aus dem Umfeld des Tatverdächtigen gegen eine Sprachschule, in die auch Menschen aus der Gruppe der späteren Betroffenen gegangen waren, wurden nicht als motivgebend eingeordnet.
Hausdurchsuchungen in Wohnung und Ladenlokal des Militaria-Händlers und Mitläufers der damaligen, von Sven Skoda geführten, Kameradschaft Düsseldorf glichen einem „oberflächlichen Stubendurchgang“, wie es der damalige Ermittlungsgruppen-Leiter bei seiner Befragung im NSU-Untersuchungsausschuss siebzehn Jahre später einschätzte.
Ebenfalls erst Jahrzehnte später wurde durch investigative Recherche von Journalist*innen bekannt, dass wohl auch V-Personen von Polizei und NRW-Verfassungsschutz Kenntnisse zum Anschlag gehabt haben dürften. Der NRW-Untersuchungsausschuss zum NSU stoppte allerdings jede weitere Beschäftigung mit dem Thema „Wehrhahn-Anschlag“, als die neuen Strafermittlungsbehörden im Winter 2017/18 plötzlich vermeldeten, den damals bereits Tatverdächtigen heute endlich überführt zu haben.
Im „Wehrhahn-Prozess“ von Januar bis Juli 2018 stand dann der bereits damals beschuldigte Ralf S. vor Gericht. Eine neue Ermittlungsgruppe hatte die Spuren zuvor noch einmal aktuell aufgerollt. Zuvor hatte die Düsseldorfer Polizei einen Hinweis darauf erhalten, dass der jetzt Angeklagte einem Mithäftling, den er im Rahmen der Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe in anderer Sache 2016 kennengelernt hatte, geständnisgleich von dem Anschlag erzählt habe.
Doch am Ende erfolgte nach 34 Hauptverhandlungstagen: Freispruch. Das Gericht mochte die Tatüberführung nicht zweifelsfrei geklärt sehen. Zahlreiche Zeug*innen-Aussagen seien knapp 20 Jahre nach dem Anschlag nicht mehr hinreichend klar. Eine Augenzeugin, die im Sommer 2000 davon berichtet hatte, einen auffälligen Mann mit Sicht auf den Tatort hatte fortgehen sehen, konnte wegen ihres hohen Alters nicht mehr befragt werden. Die damals gefertigte Personenbeschreibung hatte seinerzeit auf den Tatverdächtigen zugetroffen.
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Erst seit Sommer 2020 erinnern am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn eine Gedenktafel und eine Erinnerungsskulptur an den Anschlag. Zum Gedenken am 20. Jahrestag machte eine Überlebende in ihrem Redebeitrag deutlich, dass dieses Zeichen öffentlicher Anerkennung inzwischen für sie allerdings zu spät komme. Zusammen mit der Enttäuschung, die sie als Überlebende nach der misslungenen strafrechtlichen Aufklärung noch ein zweites Mal treffe, sei besonders das lange Schweigen schmerzhaft.
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Die Anteilnahme der Menschen, die zum Gedenken am 20. Jahrestag gekommen waren, tue ihr gut, an die Verantwortlichen aus Politik und Ermittlungsbehörden könne sie dagegen nur „bittere, bittere Grüße“ senden.
Seitdem musste die Erinnerungstafel bereits einmal erneuert werden. Es ist unklar, ob das Material der Tafel schlicht zu witterungsanfällig war oder ob es sich im mutwillige Zerstörung hat: die Schrift der Tafel war unleserlich. Die Stadt reagierte erst kurz vor dem 23. Jahrestag mit einer erneuerten Tafel.
Wir erinnern an den Anschlag vom 27. Juli 2000, solidarisch mit den Überlebenden und ihren Familien, Angehörigen und Freund*innen.
Auch werden wir im Auge behalten, ob die Strafverfolgungsbehörden den „Fall“ des Wehrhahn-Anschlages nun endgültig zu den Akten gegeben haben. Nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil im Winter 2021 für rechtskräftig erklärt hat, ist der Freispruch gültig, die Tat selbst weiterhin nicht aufgeklärt.
Wir erwarten indes Auskunft vom Landeskriminalamt NRW darüber, ob und mit welchem Ergebnis die besonderen Ermittlungen zu „Todesopfern rechter Gewalt“ vielleicht auch den Bombenanschlag vom S-Bahnhof Wehrhahn einschlossen. Die sogenannten „TOREG“-Ermittlungen sollen ungeklärten „Fällen“ nachgehen – weder Überlebende, noch Angehörige oder die Öffentlichkeit wurden allerdings bisher offiziell über die Ermittlungen oder deren Ergebnisse informiert.
Weiterhin ist ungeklärt, welches Wissen Staats- und Verfassungsschutzbehörden durch V-Personen zum Wehrhahn-Anschlag hatten und haben. Einen weiteren Untersuchungsausschuss einzurichten, der die Ermittlungsarbeit und staatliches Handeln in den Blick nimmt, liegt offenkundig nicht im Sinne der Politik. Der Anschlag bleibt also vorerst unaufgeklärt, die Fehler der Ermittlungen ohne Konsequenzen.
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+++ Termine +++
Ab 02. Juli 2024, Berlin: Offener Studienraum in „Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe – ein offenes Archiv“. Im FHXB Museum, Adalbertstraße 95A. Mehr Infos hier.
3. Juli, Hamburg-Horn: „Der zweite Anschlag“, Filmvorführung und Diskussion mit İbrahim Arslan. 16:00 Uhr, Horner Freiheit, Am Gojenboom 46.
6. Juli, Berlin: „Nach den Rechten schauen jetzt erst recht!“ Demonstration gegen rechte Strukturen in Hellersdorf. 17 Uhr, S-Bahnhof Kaulsdorf. Mehr Infos hier.
11. bis 12. Juli, Neumünster: „Memory Matters“ von der Sinti Union Schleswig-Holstein und der CPPD. Panels und Workshops. Mehr Infos hier.
16. Juli, Köln: „No Justice – No Peace. Prosecute the Police?“ Polizei vor Gericht nach tödlicher Polizeigewalt. Mit Hinterbliebenen, dem Solikreis Mouhamed Dortmund und der Initiative 2. Mai Mannheim. 18:30 Uhr, Alte Feuerwache, Melchiorstr. 3. Mehr Infos hier.
20. Juli, München: Kulturveranstaltung We Will Shine For These Nine. Gedenken an den rechten und rassistische Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). 17 Uhr. Import Export/ Schwere-Reiter-Str. 2h/ 80636 München. Mehr Infos hier.
22. Juli, München: Gedenkveranstaltung um 17 Uhr am Denkmal und Tatort des Anschlags am Olympia-Einkaufszentrum. Mehr Infos hier.
22. Juli, Berlin: Gedenken an den rechten und rassistische Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), 17 Uhr, Oranienplatz. Mehr Infos hier.
Bis 26. Juli, München und Nürnberg: Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“. Mehr Infos hier.
Noch bis 28. Juli, München: Ausstellung „Rechtsterrorismus. Verschwörung und Selbstermächtigung – 1945 bis heute“ und Rahmenprogramm. Im NS-Dokuzentrum München. Weitere Infos hier.
Noch bis 25. August, Wien: Ausstellung „‚Man will uns ans Leben‘ Bomben gegen Minderheiten 1993–1996“ und Rahmenprogramm. Im Volkskundemuseum Wien. Weitere Infos hier.
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