Am 12. September begann vor dem Landgericht Berlin I das Berufungsverfahren gegen Sebastian Thom und Tilo P. Damit ging die strafrechtliche Bearbeitung des Neukölln-Komplexes in die nächste Runde. Wie der Neukölln-Komplex insgesamt ist auch dieses Verfahren nicht ganz einfach zu überblicken. Es geht um diverse unterschiedliche Tatvorwürfe aus unterschiedlichen Zeiträumen mit unterschiedlichen Akteuren.
Die Anklagevorwürfe gegen die beiden Neonazis aus Neukölln lauten auf: Sachbeschädigung, (Beihilfe zur) Brandstiftung, Bedrohung, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Beleidigung und Störung des öffentlichen Friedens. Dabei geht es grob gesagt um vier Bereiche: Erstens um das Kleben von Aufklebern und Plakaten sowie das Sprühen von Parolen in Gedenken an den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß im Jahr 2017. Zweitens um den Vorwurf, dass Thom im März 2019 an Drohschmierereien beteiligt gewesen sei. Gegen Thom wird drittens wegen Sozial- und Subventionsbetrugs verhandelt. Zentraler Anklagevorwurf gegen Thom und P. sind aber viertens die Brandanschläge auf Ferat Koçak und Heinz Ostermann am 1. Februar 2018. Für diesen letzten Anklagepunkt wurden die beiden Neonazis in einem ersten Verfahren vor dem Amtsgericht Tiergarten freigesprochen. Bei diesem Verfahren hatte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin diverse Verfahren zusammengefasst. Neben Thom und P. saßen in diesem ersten Prozess zunächst noch drei weitere Neonazis auf der Anklagebank: Oliver W., Samuel B. und Stefan K. Die Verfahren gegen diese drei wurden nach und nach abgetrennt und es ergingen Strafbefehle. Gegen P. fiel dann Ende 2022 ein Urteil, gegen Thom Anfang 2023. Sowohl die Verteidigung als auch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin als Anklagebehörde legten gegen diese beiden Urteile des Amtsgerichtes Berufung ein. Im Falle einer Berufung kann – im Unterschied zur Revision, die das Urteil lediglich auf Rechtsfehler prüft – die Beweisaufnahme wiederholt werden. Das ist im Falle des Verfahrens gegen Thom und P. nun der Fall.
Das Berufungsverfahren findet vor der zweiten Kammer des Landgerichts unter Vorsitz von Richterin Susann Wettley statt, der ein weiterer Berufsrichter sowie zwei Schöff*innen zur Seite stehen. Sebastian Thom wird wie schon vor dem Amtsgericht von Szene-Anwalt Carsten Schrank vertreten. Als weiterer Verteidiger Thoms ist vor dem Landgericht nun Rechtsanwalt Gregor Samimi hinzugetreten. Tilo P.s Verteidiger*innen sind Rechtsanwalt Mirko Röder und Rechtsanwältin Ines Röder. Staatsanwältin Schmidt und Oberstaatsanwältin Tombrink vertreten die Anklage. Ferat Koçak ist Nebenkläger im Verfahren und wird von Rechtsanwältin Franziska Nedelmann vertreten. Das Gericht hat die Beweisaufnahme im Verfahren so gestaltet, dass es zunächst um die geringfügigeren Anklagevorwürfe ging, vor allem um die Betrugsvorwürfe gegen Thom sowie um einige Sachbeschädigungen. Dann ging es mit den Drohschmierereien weiter, mittlerweile sind auch die Brandstiftungen Thema im Prozess.
Betrugsvorwürfe gegen Thom
Sebastian Thom werden von Anklageseite zwei Betrugsdelikte vorgeworfen. Zum einen soll er einen Sozialleistungsbetrug begangen haben, indem er als Empfänger von ALG II seine eigene Wohnung untervermietet habe, während er selbst bei seiner Lebensgefährtin Michaela K. gelebt habe. In die Untervermietung der Wohnung von Thom soll den Ermittlungen zufolge auch Oliver W. involviert gewesen sein, weswegen die Generalstaatsanwaltschaft in dieser Sache mittlerweile auch wieder gegen den Neonazi, der als politischer „Ziehvater“ von Thom gilt, ermittelt. Als Zeug*innen wurden zu diesem Komplex unter anderem die zeitweilige Untermieterin von Thoms Wohnung und diverse Beamt*innen gehört. Auch Michaela K. musste vor Gericht erscheinen, berief sich aber als Verlobte von Thom auf ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht. Die Vorsitzende Richterin Wettley hatte erkennbar Zweifel an der Geschichte, dass Thom und K. bereits vor dem fraglichen Zeitraum verlobt gewesen seien, und ließ K. in Bezug auf diese Tatsache sogar vereidigen.
Zum anderen erhielt Thom 2020 über die landeseigene Investitionsbank Berlin (IBB) eine Corona-Soforthilfe vom Bund in Höhe von 5.000 Euro. Bei der Antragstellung im April 2020 soll er jedoch falsche Angaben zu den laufenden Kosten für seinen Ein-Mann-Betrieb im Bereich Garten- und Landschaftsbau gemacht haben. Dies stellt laut Anklage einen Subventionsbetrug dar. Auch hierzu wurden diverse Polizeibeamt*innen als Zeug*innen gehört sowie eine Mitarbeiterin der IBB. Thom hatte laut den Ermittler*innen bei einer Hausdurchsuchung angegeben, dass die 5.000 Euro bei seiner Mutter seien. Die Ermittler*innen fuhren daraufhin zu Thoms Mutter und nahmen von ihr am Gartenzaun 5.000 Euro entgegen. Thoms Mutter musste im Prozess nicht selbst aussagen, weil sie brieflich angekündigt hatte, dass sie ohnehin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen würde.
Die Strategie der Verteidigung von Thom in Bezug auf diesen Vorwurf ist vor allem, auf die unübersichtliche Lage zu Beginn der Corona-Pandemie und auf vermeintlich unklar formulierte Bedingungen für die Gewährung von Corona-Soforthilfen abzustellen.
Beifang von Ermittlungen wegen Brandstiftungen
Die Betrugsvorwürfe gegen Thom sind erst im Rahmen der Ermittlungen der polizeilichen „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Fokus“ im Landeskriminalamt (LKA) entstanden. Sie sind gewissermaßen „Beifang“ (Antifaschistisches Infoblatt). Die „BAO Fokus“ war eine Spezialeinheit, die 2019 eingesetzt wurde, um die Serie von Brandstiftungen und Bedrohungen in Neukölln aufzuklären. An der Aufklärung dieser Serie war die für „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ zuständige Abteilung im LKA, das LKA 53, über Jahre hinweg gescheitert – obwohl auf der Hand lag, welcher vergleichsweise kleine Personenkreis aus der Neuköllner Neonazi-Szene mutmaßlich für die Taten verantwortlich war. Der Staatsschutz erkannte die Brandstiftungsserie lange Zeit nicht einmal als Serie. Erst ab 2017 wurde dann eine eigene Ermittlungsgruppe eingesetzt, die „EG Resin“. Aber auch dieser speziellen Einheit gelang es trotz umfangreicher Observationen nicht, Täter zu überführen. Wie die Betrugsvorwürfe sind viele der den Angeklagten vorgeworfenen Sachbeschädigungen Nebenprodukte von Ermittlungen – hier von Ermittlungen der „EG Resin“.
Propaganda zum neonazistischen Heß-Gedenken 2017
Die „EG Resin“ verfolgte laut der Aussage ihres früheren Leiters Michael E. vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit den recht umfangreichen Observationen von Thom und anderen Neonazis das Ziel, den oder die Täter auf frischer Tat zu ertappen. Das gelang nicht. Stattdessen fielen die Erkenntnisse zu Klebe- und Sprühaktionen im Zusammenhang mit Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß an, vor allem im Neuköllner Süden, aber auch in anderen Berliner Bezirken.
Heß hatte sich 1987 in der Haft im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau das Leben genommen. In der Neonazi-Szene gilt er als Märtyrer. Man hängt der Verschwörungstheorie an, dass Heß – der bereits diverse Suizidversuche hinter sich hatte – von den Alliierten umgebracht worden sei. Das Heß-Gedenken war über Jahrzehnte hinweg einer der wichtigsten Mobilisierungsanlässe der Szene. Heß diente dabei erkennbar auch als Ersatzobjekt für die Verherrlichung Hitlers und des Nationalsozialismus. Er war allerdings bei der NS-Führung selbst in Ungnade gefallen, weil er 1941 auf eigene Faust nach Großbritannien geflogen war, um dort einen Separatfrieden auszuhandeln – was bekanntermaßen misslang. Das Gedenken an den vermeintlichen „Friedensflieger“ Heß bietet daher zudem die Gelegenheit, die deutsche Verantwortung für den Krieg zu relativieren.
Am 19. August 2017 marschierten mehrere Hundert Neonazis anlässlich des 30. Todestages des Hitler-Stellvertreters in Berlin-Spandau auf, konnten aber wegen antifaschistischer Proteste im Umfeld nicht ihre komplette geplante Strecke laufen. Im Vorfeld dieses Aufmarschs hatten Sebastian Thom, Tilo P., Oliver W., Samuel B. und Stefan K. in unterschiedlicher Besetzung diverse Plakate und Aufkleber zum Thema verklebt. Thom und P. werden in diesem Zusammenhang zudem Sprühereien im öffentlichen Raum vorgeworfen. Dabei wurde zum Beispiel der Name des Hitler-Stellvertreters mit zwei S in Form einer Doppel-Sig-Rune, dem Logo der SS, geschrieben, was zusätzlich den Straftatbestand des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen erfüllt. Auch dies wurde von Observationskräften des LKA beobachtet und dokumentiert. Während die Neonazis W., K. und B. für die ihnen vorgeworfenen Taten mit Bezug zu Heß-Propaganda bereits rechtskräftig verurteilt sind, sind die diesbezüglichen Vorwürfe gegen Thom und P. nun auch wieder Teil des Berufungsverfahrens.
Erinnerungslücken unterschiedlicher Art
Die Verteidigung hätte vermutlich gern komplett verhindert, dass die drei Ex-Angeklagten Oliver W., Samuel B. und Stefan K. im Berufungsprozess aussagen. Sie versuchte das zum Beispiel mit dem Hinweis auf die sogenannte Mosaiktheorie des Bundesgerichtshofs. Dieser Theorie zufolge können Zeug*innen auch die Aussage zu solchen Fragen verweigern, mit deren Beantwortung allein sie sich zwar nicht der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen würden, die aber als „Teilstück in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude“ gegen sie verwendet werden könnten. Die Vorsitzende machte schnell klar, dass sie nicht der Ansicht ist, dass dies hier greift. Sie würde, so Wettley, ohnehin nur Fragen zu den bereits rechtskräftig verurteilten Sachbeschädigungen stellen. W. und B. waren bereits am 2. Verhandlungstag als Zeugen erschienen, während K. wegen Krankheit abgesagt hatte. Richterin Wettley unterbrach diese Vernehmungen, damit sich die beiden – allerdings selbst zu zahlende – Zeugenbeistände suchen können. Samuel B. entschied sich für seinen Verteidiger aus dem Verfahren vor dem Amtsgericht: den Szene-Anwalt Wolfram Nahrath, bekannt unter anderem als Verteidiger von Ralf Wohlleben im Münchener NSU-Prozess. Nahrath wies zu Beginn von B.s Aussage am 5. Verhandlungstag darauf hin, dass auch er der Auffassung sei, dass seinem Mandanten ein vollumfängliches Aussageverweigerungsrecht zusteht. Nach längerem juristischen Hin-und-Her entschied sich B. dann aber doch auszusagen.
In seiner kurzen Aussage verwies Samuel B. darauf, seit einem Überfall „Probleme mit dem Gedächtnis“ zu haben. Er könne aber sagen, dass er ein Mensch ist, „der durch die Gegend fährt“, und dass er wohl beobachtet worden sei. Er habe auch Aufkleber geklebt, wisse aber nicht, ob in diesem Zusammenhang. Auch das Bild vom Genick von Rudolf Heß nach dessen Suizid, das auf einem beschlagnahmten Aufkleber abgebildet ist, kenne er, aber bei dem Aufkleber selbst kämen keine Erinnerungen. Oliver W. und Stefan K. wurden am 8. Verhandlungstag als Zeugen gehört. W. gab an, er könne sich nicht an die Taten im August 2017 erinnern, es sei dazwischen so viel passiert. Rudolf Heß sei aber, so W., der Anlass gewesen, warum er sich überhaupt politisch betätige. Stefan K., der ohne Zeugenbeistand aussagte, wiederum gab an, in seinem Leben sei „so viel Mist passiert“, er erinnere sich manchmal nicht mehr, „was letzte Woche war“.
So weit, so erwartbar bei Zeugen aus der Neonazi-Szene. Für die Beweisaufnahme haben die Aussagen vermutlich aber ohnehin keine besondere Relevanz. Letztlich bestätigten die drei Ex-Angeklagten sogar wesentliche Eckpunkte der Vorwürfe. Die Taten sind durch die – wenn auch oft schwerfälligen – Vernehmungen von unter Codenamen auftretenden Observationsbeamten des LKA, durch von der Polizei gesicherte Plakate und Aufkleber und durch weitere Beweismittel belegt. Unter anderem waren Thom, B. und K. von einer Streifenwagenbesatzung kontrolliert worden. In einem Fahrzeug fanden sich dabei diverse Aufkleber und Plakate sowie ein Transparent mit Rudolf-Heß-Bezug.
Drohschmierereien und ihre Wirkung auf Betroffene
Gegen Oliver W., das stellte sich im Laufe der Berufungsverhandlung heraus, ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft nicht nur wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an dem Sozialbetrug weiter, sondern auch wegen der Drohschmierereien, die ebenfalls Teil der Anklage gegen Thom sind. Die Besonderheit hierbei ist, dass ein entscheidendes Beweismittel nicht etwa aus den Ermittlungen gegen Thom und andere Neonazis stammt, sondern aus der Überwachung eines Antifaschisten.
Zunächst zu den fraglichen Taten: In einer Nacht im März 2019 brachten neonazistische Täter mehrere Drohschmierereien an den Außenwänden und teilweise in den Eingangsbereichen der Wohngebäude von Personen an, die sie offenbar der linken oder antifaschistischen Szene zurechneten. Angebracht wurden mit roter Sprühfarbe zum Beispiel die Morddrohung „9mm für …“ oder Beschimpfungen wie „Antifa Hurensohn“ oder „Antifa Bastard“, jeweils versehen mit den Namen der Betroffenen. Außerdem wurden Kelten- bzw. Fadenkreuze gemalt und Klingelschilder oder Briefkästen der Betroffenen rot übersprüht. Die Wirkung solcher Bedrohungen im eigenen Wohnumfeld verdeutlichten die Aussagen von vier Betroffenen am 7. Verhandlungstag. Eine betroffene Familie war bereits Ende 2016 Opfer eines Anschlags geworden. In das Fenster ihrer vorherigen Wohnung waren Gläser mit Bitumen geworfen worden, die Fensterscheiben splitterten – es war Zufall, dass niemand verletzt wurde. Auch diese frühere Tat gehört in die Reihe neonazistischer Angriffe in Neukölln.
Wegen dieses Angriffes war das betroffene Ehepaar mit seinen zwei kleinen Kindern in eine andere Wohnung umgezogen. Nur um dort im März 2019 dann mit Morddrohungen konfrontiert zu werden. Mittlerweile ist die Familie erneut umgezogen. „Wir sind umgezogen und der Berliner Wohnungsmarkt lädt ja nicht gerade zum Umziehen ein, zumindest uns nicht“, so der Zeuge. Die Zeugin sagte aus, dass sie die Morddrohungen bis heute beschäftigten und auch, „dass diejenigen, die das dran geschrieben haben, an die Anschrift gekommen sind“. Ein weiterer Betroffener der Drohschmierereien aus dem März 2019 zog nach der Tat ebenfalls um, unter anderem weil ihn die immer noch nicht ganz entfernten Schmierereien ständig an die Bedrohung erinnerten. Alle vor Gericht gehörten Betroffenen der Drohschmierereien berichteten von deutlichen Einschränkungen ihres Sicherheitsgefühls. Sie berichteten etwa davon, dass sie sich seit den Taten häufiger umschauen, ob sie vielleicht verfolgt werden. Die Einschüchterung und letztlich das Mundtotmachen antifaschistisch aktiver Menschen ist das zentrale Ziel neonazistischer „Anti-Antifa“-Arbeit. In der Berliner und insbesondere der Neuköllner Neonazi-Szene gab es eine starke Ausrichtung auf das Thema „Anti-Antifa“. Die Aussagen der Betroffenen verdeutlichten, welche tiefgreifenden Folgen solche Bedrohungen für das Leben der Betroffenen haben können.
Eine für Betroffene wichtige Frage ist, wie die Täter an ihre Privatadressen gekommen sind. Hierzu äußerte ein Zeuge vier Thesen: Es könne sich um eine Ausspähung, um Zufall, um die Weitergabe durch einen Postboten oder um ein Datenleck in einer Behörde handeln. Ein anderer Betroffener sagte aus, er habe kein Vertrauen in die Polizei, weswegen er die Tat auch nicht angezeigt habe: „Ich glaube nicht, dass das einen Effekt gehabt hätte.“ Das größere Problem sei jedoch, dass seine politischen Aktivitäten öffentlich nicht bekannt seien. Der Zeuge nimmt an, dass seine Daten aus Polizeikreisen an die Neonazis abgeflossen sind. Er verwies bei seiner Aussage auf den Fall eines Berliner Polizisten, der zeitweise beim Staatsschutz gearbeitet hatte und Drohbriefe an Angehörige der linken Szene geschrieben hatte. In diesen Briefen führte der Beamte Namen und Adressen auf und drohte, sie an Neonazis weiterzugeben. Der Frage möglicher Datenabflüsse aus dem Polizeiapparat wird sich auch der Untersuchungsausschuss noch einmal intensiv widmen müssen. Nicht zuletzt, weil auch Polizeibeamte selbst bereits den Verdacht geäußert haben, dass Informationen an die Neonazi-Szene abgeflossen sein könnten.
Beifang der besonderen Art: Linke überwacht, Nazis überführt
Das zentrale Beweismittel bei dem Themenkomplex der Drohschmierereien ist ein Überwachungsvideo vom Hauseingang des zuletzt zitierten Betroffenen. Das Video, so die Darstellung des LKA 53, stamme aus einer gefahrenabwehrenden Maßnahme des Bundeskriminalamtes (BKA) gegen den Betroffenen. Es handelte sich also nicht um eine Überwachung wegen strafrechtlicher Ermittlungen, sondern um eine Maßnahme nach Polizeirecht, um Gefahren für die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ abzuwenden. Das Videomaterial des BKA sei vom für „Politisch motivierte Kriminalität – links“ zuständigen LKA 52 ausgewertet worden. Dort seien dann die Aufnahmen aus der fraglichen Nacht festgestellt und an das LKA 53 weitergegeben worden. Beim LKA 53 habe man das Material jedoch zunächst nicht verwenden dürfen. Stimmt diese Darstellung, wollte das BKA vermutlich seine eigene Überwachungsmaßnahme nicht gefährden. Schließlich habe das BKA den Vorgang jedoch neu bewertet und das LKA habe die Aufnahmen verwenden dürfen, so der Zeuge Tom W. vom LKA 53.
Die im Rahmen der Hauptverhandlung mehrfach vorgeführten Aufnahmen zeigen den Hauseingang des Betroffenen bei Nacht, aufgenommen vermutlich von der gegenüberliegenden Straßenseite. Zwei Personen – eine etwas länger und schmaler, die andere kleiner und kräftiger – tauchen im Bild auf. Sie gucken aufs Klingelschild und machen sich an der Haustür des Mehrfamilienhauses zu schaffen. Die schmalere Person benutzt einen Gegenstand und versucht anscheinend die Tür aufzuhebeln – erfolglos. Danach entfernen sich die Personen zunächst, sind aber einige Zeit später wieder auf den Aufnahmen zu sehen, sie tauchen mehrfach kurz im Bild auf und verschwinden wieder daraus. Durch Schattenwurf lässt sich feststellen, dass eine Person an der Wand links von der Tür zugange ist. Schließlich taucht im linken Teil des Bildes eine Hand mit einer Sprühdose auf, die offenbar eine Sprüherei beendet. Danach tritt die kräftigere Person voll ins Bild, sprüht etwas aufs Klingelschild und an die Wand gegenüber vom Klingelschild.
Bei der schmaleren Person handelt es sich – so viel ist Prozessbeobachter*innen klar – um Sebastian Thom und bei der kräftigeren um Oliver W. Das LKA meinte jedoch zunächst, in der kräftigeren Person einen anderen Neonazi erkannt zu haben. Schließlich befand man dann aber doch, dass es sich um W. handeln müsse. Ein unnötiger und für eine Polizeiabteilung, die für die rechte Szene Berlins zuständig ist, auch etwas peinlicher Fehler, der es den Verteidigern von Thom nun erlaubt, die Validität des Videomaterials insgesamt in Frage zu stellen.
Es liegt also mit diesem Video tatsächlich einmal ein Beweismittel vor, mit dem man Täter auf frischer Tat ertappt hat – wenn auch nicht bei einer Brandstiftung. Und dieses Beweismittel ist nicht etwa das Ergebnis der umfänglichen Ermittlungen des LKA 53, der „EG Resin“ oder der „BAO Fokus“, sondern ein Zufallstreffer und resultierte zudem aus der Überwachung eines Antifaschisten. Ein weiteres Beispiel für die beinahe absurden Volten beim Thema Neukölln-Komplex. Dass viele Betroffene angesichts dessen der Polizei gegenüber skeptisch sind, kann da nicht überraschen.
Brandstiftungen im Februar 2018
Im Prozess geht es nun um die beiden Anschläge aus 2018. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 2018 wurden in Südneukölln die Fahrzeuge des heutigen Linken-Abgeordneten Ferat Koçak und des Buchhändlers Heinz Ostermann in Brand gesteckt. Das Auto von Ferat Koçak stand vor der Garage des Wohnhauses, in dem Koçak und seine Eltern schliefen. Das Feuer drohte auf das Gebäude überzugreifen. Am 9. Verhandlungstag wurde ein Brandermittler gehört, der die Gefährlichkeit des Feuers herausstellte – auch gegen die Versuche der Bagatellisierung durch die Verteidigung. Diese hatte etwa versucht es so darzustellen, dass in Berlin ja jeden Tag Autos angezündet würden. Dagegen betonte der Ermittler, dass zwei Fahrzeugbrandstiftungen in einer Nacht durchaus ungewöhnlich seien. Auch die Tatsache, dass bei Koçak ein Fahrzeug auf einem Privatgrundstück angezündet wurde, hob der Zeuge hervor. Aus Sicht des Ermittlers war ein Übergreifen des Feuers auf das Gebäude möglich. Am Gebäude waren Rußspuren erkennbar. Klar ist zudem: Hinter dem Garagentor verlief eine Gasleitung. Dass bei diesem Anschlag nichts noch Schlimmeres passiert ist, war also Zufall. Fraglich ist aber, ob dem Gericht die Indizien für eine Verurteilung der Angeklagten in Bezug auf diese Taten im Berufungsverfahren ausreichen werden.
Als Beweismittel dient in diesem Zusammenhang unter anderem eine auch im Untersuchungsausschuss immer wieder thematisierte Telefonüberwachung durch den Berliner Verfassungsschutz. Dieser hatte am 15. Januar 2018 ein Gespräch zwischen Thom und P. aufgezeichnet, das die Ausspähung Ferat Koçaks durch Thom und P. belegt. Klar wird darin, dass den beiden Neonazis das Fahrzeug Koçaks bekannt war. Der Verfassungsschutz hat diese Erkenntnis über eine mögliche Gefährdung Koçaks jedoch erst am Tag vor dem Anschlag in Form eines Behördenzeugnisses an die Polizei weitergegeben. In diesem ersten Behördenzeugnis wurde nach Darstellung des Kriminalbeamten Z. im Prozess jedoch nur angegeben, dass Sebastian T. und ein weiterer Rechtsextremist aus Neukölln eine Person aus dem linken Spektrum ausgespäht hätten, die einen roten Smart fährt. Erst am Tag nach dem Anschlag sei dann aus einem weiteren Behördenzeugnis hervorgegangen, um wen es bei der ausgespähten Person überhaupt geht.
Für den Rudower Buchhändler Heinz Ostermann war es 2018 bereits das zweite Auto, das ein Raub der Flammen wurde. Sein vorheriges Fahrzeug war am 23. Januar 2017 in Brand gesteckt worden, in der gleichen Nacht wie das Auto des antifaschistisch aktiven Gewerkschafters Detlef Fendt. Diese Anschläge sind nicht Teil der Anklage gegen Thom und P. Ausgerechnet in der verhandlungsfreien Zeit, bevor es im Prozess um die Brandstiftungen im Jahr 2018 gehen sollte, durchsuchte jedoch das LKA erneut die Wohnungen der beiden Angeklagten sowie von Julian B., einem weiteren Neonazi aus Neukölln, der mittlerweile in Brandenburg lebt. Hintergrund dieser Durchsuchungen sind die Anschläge vom 23. Januar 2017. Warum Generalstaatsanwaltschaft und LKA nun diese noch weiter zurückliegenden Anschläge zum Anlass erneuter Durchsuchungen gemacht haben, ist unklar. Die Verteidigung von Thom beantragte daraufhin am 8. Verhandlungstag die Aussetzung des Verfahrens, was das Gericht jedoch ablehnte.
Erratische Verteidigung?
Die prozessökonomisch nachvollziehbare Aufteilung der Vorwürfe in verschiedene Tatkomplexe vermittelt oft ein falsches Bild vom Gegenstand der Untersuchung. Die Klebe- und Sprühaktionen zum Heß-Gedenken zum Beispiel sind nicht nur schlecht maskierte NS-Verherrlichung. Der Neuköllner Neonazi-Szene ging es dabei sicher auch darum, ihre Macht im städtischen Raum zu demonstrieren und vor allem den Süden Neuköllns als ‚ihren‘ Bereich zu markieren. Insofern passen sich diese Taten durchaus in die Reihe anderer Taten ein, die auf die Einschüchterung vermeintlicher oder tatsächlicher politischer Gegner*innen abzielten. Die Beweisaufnahme – die sich beispielsweise um die Frage dreht, ob durch das Anbringen eines Aufklebers, der sich nicht rückstandslos entfernen lässt, ein „Substanzverlust“ an einer Bushaltestelle oder einem Glascontainer entstanden ist – gibt der Verteidigung allerdings die Gelegenheit, die Tatvorwürfe eher ins Lächerliche zu ziehen.
Zumindest der Verteidiger von Tilo P., Rechtsanwalt Mirko Röder, macht insgesamt nicht den Eindruck, das Verfahren sonderlich ernst zu nehmen. Er nimmt sich immer wieder einfach das Rederecht und fällt anderen Verfahrensbeteiligten ins Wort. Umgekehrt beschwert er sich lauthals, wenn einmal er unterbrochen wird. Irritierend stark zu beschäftigen scheint Röder die „Kommunistische Plattform“ in der Linkspartei beziehungsweise die Linkspartei selbst. Auf die „Kommunistische Plattform“ bezieht er sich bei Zeug*innenbefragungen immer wieder für an den Haaren herbeigezogene Vergleiche. Im Falle der Befragung eines Betroffenen einer Drohschmiererei, der bei der Linkspartei angestellt war, verwies er auf parteiinterne Auseinandersetzungen und den Tortenwurf auf Sahra Wagenknecht beim Parteitag der Linkspartei 2016. Es bleibt unklar, auf was genau Röder eigentlich hinaus wollte, aber letztlich insinuierte seine Frage, dass die Drohschmiererei vielleicht einen politischen Hintergrund in der Betätigung des Betroffenen bei der Linkspartei haben könnte. Das läuft auf eine Täter-Opfer-Umkehr hinaus. Ob Röders Verteidigung tatsächlich so erratisch ist, wie sie bisweilen erscheint, oder einer Strategie folgt – etwa die Tatvorwürfe zu bagatellisieren–, muss offen bleiben. Täter-Opfer-Umkehr betrieb jedenfalls auch Thoms Rechtsanwalt Samimi, als er bei der Vernehmung des LKA-Zeugen Z. nach polizeilichen Erkenntnissen zu Ferat Koçak fragte, dessen kurdisch-türkische Familiengeschichte in Anschlag brachte und außerdem die Frage stellte, ob Koçak möglicherweise von dem Brandanschlag profitiert habe, immerhin sei er ja jetzt Mitglied des Abgeordnetenhauses.
Als es um die Vereidigung von Michaela K. ging, argumentierte die Verteidigung unter anderem mit dem Verweis darauf, dass man mittlerweile ja auch von einem auf den anderen Tag sein Geschlecht wechseln könne und es eingetragene Lebenspartnerschaften gebe. Gegen den im Aufruf zu einer antifaschistischen Kundgebung vor dem Gericht erhobenen Vorwurf, dass die Verteidigung trans- und homofeindliche Kommentare getätigt habe, verwahrte sich Röder. Besonders zu stören scheint ihn aber die Bezeichnung als „Skandalanwalt“ im gleichen Text. Jedenfalls ließ er es sich nicht nehmen, in einer Erklärung vor Gericht auf den Aufruf hinzuweisen, ohne dass das eine Relevanz für das Verfahren gehabt hätte. Bisweilen gibt sich Röder auch als Aufklärer, wenn er etwa feststellt, dass der Untersuchungsausschuss zwar die „erste Geige“ noch vor dem Strafprozess spiele, aber immer noch nicht alle Akten habe. Folglich müsse man mit dem Berufungsverfahren zum Ende kommen. Erkennbar ist auch hier das Bemühen, die Bedeutung des Verfahrens herunterzuspielen.
Röder distanziert sich immer wieder demonstrativ von Samimi und Schrank. In Bezug auf den zentralen Vorwurf der Brandstiftungen am 1. Februar 2018 vertreten insbesondere Samimi und Schrank mal eine alternative Täterhypothese, derzufolge es zum Beispiel ein anderer Täter aus der Neuköllner Neonazi-Szene gewesen sein könnte. Ein anderes Mal, bei der Zeugenbefragung des Brandermittlers, legten sie nahe, es könne sich ja vielleicht um eine Selbstentzündung des Fahrzeugs von Koçak gehandelt haben. Dem widersprach der Zeuge deutlich. Ohnehin wäre es ein erstaunlicher Zufall, wenn sich in ein und derselben Nacht ausgerechnet die Fahrzeuge zweiter ausgewiesener Neonazi-Gegner aus Südneukölln spontan selbst entzündet hätten.
Die Vorsitzende Richterin nimmt vieles von dem hin, was die Verteidigung im Prozess veranstaltet, scheint aber insgesamt mehr Interesse am Verfahren zu haben als noch das Amtsgericht und treibt die Beweiserhebung recht zielgerichtet voran. Steht zu hoffen, dass das so bleibt und das Verfahren ein dem Gegenstand angemessenes Ende nimmt.
Am Montag, den 11. November, wurden die beiden Betroffenen Ferat Koçak und Heinz Ostermann als Zeugen gehört. Vor dem Gericht gab es an diesem Tag die bereits erwähnte antifaschistische Solidaritätskundgebung. Ein Bericht zu diesem Verhandlungstag folgt.
(Text: scs, Redaktion: ck)