von Felix Hansen und Sebastian Schneider, NSU-Watch
Nach 387 Verhandlungstagen im NSU-Prozess begannen Mitte November 2017 die Plädoyers der Nebenklage. Viele Betroffene und ihre Anwält_innen üben harte Kritik an den Ermittlungen und der Rolle der Bundesanwaltschaft (BAW). Sie kritisieren, dass die Chance einer umfassenden Aufklärung vom Gericht versäumt wurde.
„Hier im Prozess sind meine Fragen nicht beantwortet worden: Warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute vielleicht immer noch, es gibt so viele Nazis in Dortmund? Und für mich so wichtig: Was wusste der Staat? Vieles davon bleibt unbeantwortet nach diesem Prozess. Frau Merkel hat ihr Versprechen von 2012 nicht gehalten.“ Mit diesen Worten eröffnete Elif Kubaşık, Witwe des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, die Plädoyers der Nebenklage ihrer Familie und brachte auf den Punkt, welche Lücken der NSU-Prozess trotz seines enormen Umfanges zeigt und wie verheerend dies auf die Angehörigen wirkt. Elif Kubaşık und ihre Tochter Gamze gehören zu den Nebenkläger_innen, die am häufigsten im Prozess anwesend waren und auch selbst bei den Plädoyers das Wort ergriffen haben.
Die offenen Fragen der Angehörigen nach der konkreten Auswahl ihrer Angehörigen als Mordopfer, nach dem unaufgeklärten Netzwerk und weiteren Mordhelfer_innen zogen sich durch viele der Plädoyers. Es sei bis heute unklar, wer bei dem Anschlag in der Kölner Probsteigasse die Bombe platziert habe, kritisierte Edith Lunnebach, die Anwältin der betroffenen Familie. Mehmet Daimagüler, Vertreter von Angehörigen zweier Mordopfer, kritisierte, dass die Bundesanwaltschaft mit aller Macht versuche, ihre These von der isolierten NSU-Zelle durchzusetzen.
Nach den oft Kräfte zehrenden und ermüdenden Monaten der Beweisaufnahme der letzten zwei Jahre, in denen es kaum noch inhaltliche Fortschritte gab, machten die Nebenklageplädoyers die historische Rolle und gesellschaftliche Relevanz des Prozesses deutlich. Einige Vertreter_innen der Nebenklage hatten sich hierbei mit ihren Plädoyers thematisch abgestimmt, so dass sie gemeinsam gewissermaßen ein großes Plädoyer hielten. Dieses ebenso umfangreiche wie prägnante Plädoyer machte noch einmal klar, um was es für viele Nebenkläger_innen im Prozess geht. Es formulierte die offenen Fragen ebenso wie die zutage getretenen Skandale.
Nebenkläger_innen verlangen Antworten
Wie wichtig diese Arbeit für die Angehörigen ist, erklärte Sebastian Scharmer, Vertreter von Gamze Kubaşık, in seinem Plädoyer. Die Bundesanwaltschaft sehe die Rolle der Nebenklage als eine passive und in der Opferrolle verbleibende, doch genau das wolle seine Mandantin nicht. Sie nehme ihre Rolle im Prozess aktiv wahr, stelle Dinge in Frage und wolle die vollständige Aufklärung: „Gamze Kubaşık ist nicht hier, um ihre Betroffenheit zu zeigen. Sie will kein Mitleid, sie will Antworten auf ihre berechtigten Fragen!“ Er appellierte an die Ehrlichkeit des Gerichts, das im Urteil deutlich machen müsse, dass der NSU nicht aufgeklärt sei. Das Urteil dürfe keine Geschichtsschreibung mit Persilschein für Polizei, Verfassungsschutz (VS) und BAW sein.
In jedem der einzelnen Teilplädoyers wurde auf die im Jahr 2015 verstorbene Nebenklage-Anwältin Angelika Lex verwiesen und ihre Rolle gewürdigt. So zitierte Nebenklage-Anwalt Carsten Ilius Lex mit den Worten: „Rassistische Taten werden nicht als das wahrgenommen, was sie sind, nämlich rassistische Taten straff organisierter Rechtsradikaler und rechtsterroristischer Strukturen.“ Über den NSU hinaus gebe es viele andere Fälle, bei denen nie in Richtung neonazistischer Täter ermittelt worden sei, sondern gegen die Betroffenen.
Ilius, ebenfalls Vertreter der Familie Kubaşık ging in seinem Plädoyer auf den institutionellen Rassismus der Behörden und die Wirkung auf die betroffenen Familien ein. Es habe den Zielen des NSU entsprochen, dass die Opfer der Anschläge und ihr Umfeld auch noch Opfer der Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft wurden. Die Ermittlungen seien diskriminierend und von falschen Vorannahmen geprägt gewesen und hätten die vom NSU „beabsichtigte Tatwirkung der Verunsicherung der migrantischstämmigen, insbesondere türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland“ verstärkt. Die Akten der Dortmunder Ermittlungsbehörden zum Mord an Mehmet Kubaşık enthielten keine einzige Ermittlungsmaßnahme in Richtung auf ein rassistisches Motiv und rechte Täter, so Ilius.
Zur besseren Einordnung beschrieb der Anwalt die Rolle der Behörden aus einer internationalen Perspektive. Dazu griff er auf den Begriff der „Verleugnung“ des Kriminologen Stanley Cohen zurück, den Liz Fekete auf den NSU angewendet hat (vgl. Lotta #56, S. 22). Sie spricht von einer „wörtlichen Verleugnung“ der Täterschaft von Nazis vor der Aufdeckung des NSU im November 2011 und einer „interpretativen Verleugnung“ danach. Da offensichtlich ist, dass die Taten durch Nazis begangen wurden, konnte dies nicht länger geleugnet werden. Im neuen, nach der NSU-Selbstenttarnung entstandenen Narrativ seien es aber nur „Pannen“ gewesen, die eine Aufklärung verhindert hätten. Auch das Verhalten der BAW sei eine „interpretative Verleugnung“, um die Verantwortung staatlicher Stellen zu leugnen. Dass dies besonders für die Verfassungsschutzämter und ihre V-Leute gilt, zeigte Rechtsanwalt Scharmer anhand verschiedener Schaubilder, auf denen er ein regelrechtes Netzwerk von V-Leuten im Umfeld des NSU abbildete. Die Beweisaufnahme und die zahlreichen Beweisanträge des Nebenklage legten mehr als nahe, dass V-Leute von den Aktivitäten gewusst haben mussten und dies entweder konsequent nicht weiter meldeten oder ihre Informationen nicht berücksichtigt wurden, so Scharmer.
Dass der NSU kein von der rechten Szene abgeschottetes Trio war, wie es die BAW darstellt, zeigte Nebenklage-Vertreter Peer Stolle in seinem Plädoyer. Dabei machte er eine auch strafprozessual bedeutende Differenz zur BAW deutlich: Die Gruppe, die verantwortlich für die verhandelten Taten ist, sei nicht erst Mitte des Jahres 1998 gegründet worden und bestehe nicht nur aus Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt. Spätestens mit der Anmietung der als Bombenwerkstatt benutzten Garage durch Zschäpe seien die Tatbestandsmerkmale der Bildung einer terroristischen Vereinigung erfüllt gewesen.
Das NSU-Motto „Taten statt Worte“ sei keine Abkehr von der Szene, sondern die Umsetzung des vorher diskutierten Konzeptes der Zellenbildung. Der NSU und seine Taten seien Folgen einer spezifischen Situation in Ostdeutschland in der Nachwendezeit. In dieser hochpolitischen Zeit habe ein rassistischer und nationalistischer Alltagsdiskurs vorgeherrscht, der sich in rassistischen Pogromen, etwa in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, entladen habe. Rechten Jugendlichen seien keine Grenzen gesetzt worden. Auch in jenem Jenaer Jugendclub, in dem sich die NSU-Mitglieder trafen, wurde das Konzept der akzeptierenden Sozialarbeit praktiziert. Ein zum Club gehöriges Streetworker-Projekt sei gefördert worden durch Mittel aus einem Jugendförderprogramm, das die damalige Bundesjugendministerin Angela Merkel aufgelegt hatte.
Doch all dies bringe allein noch keinen NSU hervor. Dazu seien ideologische Festigkeit und Entschlossenheit notwendig, ein Netzwerk und entsprechende Konzepte, die vorher in der Szene, unter den „Kameraden“ diskutiert wurden. Stolle: „Der THS [Thüringer Heimatschutz], der NSU, die Kampagne ‚Volkstod stoppen‘ – es ist derselbe völkische, gewalttätige, mörderische Rassismus.“
Auf die Folgen der Nagelbombe in der Kölner Keupstraße ging der Anwalt Stephan Kuhn ein. Bei dem Anschlag im Jahr 2004 wurden 23 Personen teils schwer verletzt. Obwohl es anfangs zutreffende „Operative Fallanalysen“ gegeben habe, mit der Aussage, dass die Täter das Ziel gehabt hätten, so viele türkische Personen wie möglich zu treffen, zu verletzen und zu töten, richteten sich die Ermittlungen über Jahre ausschließlich gegen die Betroffenen. Diese Ermittlungen seien ein Paradebeispiel des institutionellen Rassismus, so Kuhn.
Insbesondere die Deutung des Anschlags als kriminell und nicht als politisch durch den damaligen Innenminister Otto Schily habe seine Wirkung entfaltet und die an rassistischen Vorstellungen und Mythen orientierte Vorgehensweise der Strafverfolgungsbehörden legitimiert, so Nebenklage-Anwalt Berthold Fresenius. Der betroffene Nebenkläger M.A. beschrieb in seinem Plädoyer selbst, dass er von den rassistischen Ermittlungen derart eingeschüchtert gewesen sei, dass er sich erst nach dem Auffliegen des NSU getraut habe, zu einem HNO-Arzt zu gehen. Neben unmittelbaren körperlichen Verletzungen kämpfen die Betroffenen bis heute mit den Folgen: Traumata, Angstzustände, Berufsunfähigkeit und weiteren Zerrüttungen.
Das Netzwerk des NSU
Nebenklage-Anwältin Antonia von der Behrens machte das Netzwerk des NSU und die Rolle der Geheimdienste zum Schwerpunkt ihres Plädoyers. Über Stunden zeigte sie in akribischer Kleinarbeit auf, wie groß und bundesweit das Netzwerk des NSU war: „Von einem abgeschottet agierenden Trio [kann]ebensowenig die Rede sein […] wie davon, dass die VS-Behörden keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU hatten“. Die BAW habe die Größe des NSU, das Netzwerk und das staatliche Mitverschulden nicht aufgeklärt – wider besseres Wissen. Detailliert zeigte von der Behrens den Aufbau neonazistischer Strukturen in Thüringen auf, der vom Verfassungsschutz überwacht worden sei. Durch die Straffreiheit für V-Leute und deren finanzielle und logistische Ausstattung sei der Strukturaufbau noch vorangetrieben worden, was selbst das Bundeskriminalamt 1997 als „Brandstiftereffekt“ bezeichnet habe. Der VS Thüringen habe über die V-Leute Tino Brandt und Marcel Degner faktisch den Aufbau des THS und der Blood & Honour-Sektion Thüringen gesteuert.
Noch vor der Begehung des ersten Mordes sei es möglich gewesen, die drei flüchtigen Jenaer Neonazis festzunehmen, da das gesamte Umfeld engmaschig überwacht gewesen sei. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Behörden Kenntnis von der Beschaffung von Waffen und vom Umzug nach Zwickau hatten. Später sei die Nähe des vom Bundesamtes für Verfassungsschutz geführten V-Mannes Ralf Marschner zu den Untergetauchten auffällig.
Zur Rolle der Verfassungsschutzämter nach der Selbstenttarnung des NSU führte von der Behrens aus, dass diese relevantes Wissen zurückgehalten hätten. Unterlagen, aus denen sich relevantes Wissen hätte ergeben können, seien vernichtet worden, vor Gericht auftretende Verfassungsschützer und V-Leute hätten Wissen zurückgehalten oder gelogen. Aber auch die BAW habe Aufklärung behindert, indem sie sich frühzeitig auf die These eines abgeschotteten Trios festgelegt und nur in diese Richtung ermittelt habe. Relevante Ermittlungsergebnisse seien dem Gericht vorenthalten und VS-Ämter und V-Leute bewusst aus dem Verfahren herausgehalten worden. Symptomatisch hierfür sei schon die Benennung der Ermittlungseinheit als „BAO Trio“ und nicht etwa als „BAO NSU“.
Dass es dabei auch um ein politisches Interesse der Bundesanwaltschaft geht, liegt auf der Hand. Rechtsanwalt Ilius hatte dies in seinem Plädoyer herausgestellt: Das Narrativ der BAW diene auch der Verteidigung des schönen Bildes eine postnazistischen, freien und freundlichen Deutschlands, so Ilius. In ein solches passe ein Trio, das am Rande des Wahnsinns agiere, besser als ein Netzwerk, das durch staatliche Stellen mitfinanziert über Jahre in Ruhe morden und bomben könne.
Entschieden trat Nebenklage-Anwalt Björn Elberling der immer wieder gehörten Tendenz zur Psychologisierung des NSU entgegen. Insbesondere die Verteidigung von Ralf Wohlleben hatte versucht, die Taten als Werk von Psychopathen darzustellen, die aus reiner Mordlust handelten, und führte dazu die enorme Brutalität der Taten an. Dies sei aber nichts Neues, so Elberling, sondern ein altbekanntes Phänomen, das zu den Verdrängungsmechanismen und Abwehrreaktionen von rassistischen Verbrechen gehöre. Auch beim Anschlag auf das Oktoberfest oder aktuell beim Münchener OEZ-Attentat lasse sich eine ähnliche Psychologisierung und Entpolitisierung finden. Aber: „Menschenverachtung, Empathielosigkeit sind Ausdruck nationalsozialistischer Ideologie“, so Elberling. Dies zeige sich auch bei den Raubüberfällen, wo Mundlos und Böhnhardt mit äußerster Brutalität vorgegangen seien.
Täter_innen wollten Spaltung der Gesellschaft
Rechtsanwalt Alexander Hoffmann führte aus, dass die Morde das Ziel gehabt hätten, die Spaltung der Gesellschaft in sogenannte Deutsche und Fremde zu vergrößern. In diesem Sinne seien sie damit letztlich sogar erfolgreich gewesen: „Diese Tatmotivation findet sich in den Propagandaschriften sowohl des Netzwerkes um den Thüringer Heimatschutz, bei Blood and Honour, Emingers ‚Weisser Bruderschaft Erzgebirge‘, in der Propaganda der ‚Hammerskins‘, der NPD, die das Ganze als ‚Europa der Vaterländer‘ verkauft, aber auch in Höckes und Gaulands AfD, die zur Zeit die deutsche Gesellschaft nach rechts treiben.“ Dahinter stehe die Wahnvorstellung, es gäbe „Rassen“, ethnisch definierbare Völker, und die Kultur einer Bevölkerung sei in irgendeiner Weise mit der Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ verknüpft.
„Eine Ideologie des völkischen Rassismus, in der sich die Protagonisten in einer permanenten Notwehrsituation gegen den herbeiphantasierten Volkstod, in einem beständig geführten ‚Heiligen Rassenkrieg‘ sehen, in dem die Verteidigung des Bestandes des eigenen Kollektivs nur über die Vertreibung oder die Vernichtung der angeblichen Bedrohung erfolgen kann.“ Das Bekenntnis zum bewaffneten Kampf finde sich beim THS genau so wie bei Blood & Honour. Daher sei es kein Wunder, dass es bis heute Unterstützung gebe, wie am Verhalten der Blood & Honour-Mitglieder im Prozess zu sehen sei.
Auch nach dem Ende des großen Plädoyers folgten, zumeist ebenfalls bewegende und aufschlussreiche, Plädoyers der Nebenklage. Beispielsweise vom Kölner Rechtsanwalt Eberhard Reinecke, der mehrere Betroffene aus der Keupstraße vertritt. Er äußerte sich in seinem Plädoyer ausführlich und detailreich zur Einlassung von Beate Zschäpe vor Gericht und deren Unglaubhaftigkeit. Die Verweigerung von Antworten auf Fragen der Nebenklage belege Zschäpes Verachtung gegenüber den Opfern, so Reinecke. In seinem Plädoyer ging Reinecke unter anderem darauf ein, dass Zschäpe versucht habe, die Familie Eminger herauszuhalten, doch es spreche vieles dafür, dass gerade beim Anschlag in der Keupstraße der Kontakt zu Emingers besonders eng gewesen sei.
Kein Schlussstrich
Mit den Plädoyers nahmen die Nebenkläger_innen – persönlich und/oder über ihre Vertreter_innen – noch einmal die Gelegenheit wahr, in einem offiziellen Rahmen aktiv Einfluss auf die Aufklärung des NSU-Komplexes zu nehmen. Die Nebenklage-Plädoyers sind damit auch der Maßstab, an dem sich eine kritische Beschäftigung mit dem Thema NSU und weitere Aufklärungsbemühungen in Zukunft werden messen lassen müssen. Sie sind das beste Mittel gegen Bemühungen, etwa der BAW, die Aufklärung des NSU mit dem in Kürze zu erwartenden Urteil für beendet zu erklären. Sie sind die detaillierte und pointierte Ausformulierung der Forderung „Kein Schlussstrich!“.
Elif Kubaşık äußerte am Ende ihres Plädoyers: „Die, die das gemacht haben, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, weil sie neun Leben ausgelöscht haben, dass wir dieses Land verlassen werden. Ich lebe in diesem Land, und ich gehöre zu diesem Land. Ich habe zwei Kinder in diesem Land zur Welt gebracht, und mein Enkel Mehmet ist hier zur Welt gekommen. – Wir sind ein Teil dieses Landes, und wir werden hier weiterleben.“
Zuerst veröffentlicht in: Lotta – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pflaz und Hessen #69