An diesem Prozesstag wird zunächst ein ehemaliger Mitarbeiter des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz zu seinen Erkenntnissen zur „Hetendorfer Tagungswoche“ befragt. An dieser hatte 1997 auch Beate Zschäpe teilgenommen. Der Zeuge kann allerdings zu dem Themenkomplex nichts beitragen. Danach geht es um neue Anträge der Verteidigung Wohlleben und um die Ablehnung des Ablehnungsgesuches gegen den psychiatrischen Sachverständigen Leygraf, das die Verteidigung Wohlleben gestellt hatte.
Zeuge:
- Rigo Schüller (ehem. Mitarbeiter des TLfV, Erkenntnisse zur „Hetendorfer Tagungswoche“)
Der Beginn des Verhandlungstages ist heute für 11:30 Uhr angesetzt. Um 11:47 Uhr geht es tatsächlich los. Als Zeuge wird Rigo Schüller, heute Richter am Sozialgericht Gotha, gehört. Götzl: „Es geht uns um Erkenntnisse im Hinblick auf die Hetendorfer Tagungswoche.“ Götzl verliest zunächst Schüllers Aussagegenehmigung. Zschäpe-Verteidiger RA Heer: „Da der Zeuge offensichtlich eine ganze Akte vor sich hat, ist für uns von Interesse, um welche Unterlagen es sich handelt.“ Schüller: „Das sind die Ladungen des OLG, dann habe ich auf Nachfrage von der Beisitzerin erfahren, dass es um einen Vermerk geht, den ich als Mitarbeiter des Landesamts verfasst habe. Da ist mir eine Sachbearbeiterin des BKA genannt worden, die hat ihn mir zur Verfügung gestellt. Am Montag habe ich mich mit dem LfV in Verbindung gesetzt und mir ist ein Dokument übergeben worden, wie das Landesamt zu der Erkenntnis gelangt ist, dass Beate Zschäpe in Hetendorf war. Ich weiß nicht, ob das in den Gerichtsakten vorliegt, ich würde das ausheften.“ Schüller gibt das Blatt nach vorn zum Senat. Götzl schaut es sich an und sagt: „Das ist der Vermerk von Herrn Braun [phon.] vom 21.07.1997, der sich auch bei den Akten befindet.“ Richter Lang, Götzl und Richterin Odersky blättern in den Akten. Dann nennt Götzl die Fundstelle des Vermerks vom 21.06.1997 in den Gerichtsakten.
Götzl: „Aber ich würde Sie trotzdem bitten, ohne Ihre Unterlagen zunächst mal die Fragen, um die es geht, zu beantworten, weil es mir darum geht, woran Sie sich noch erinnern und was gegebenenfalls im Rahmen der Vorbereitung in Erinnerung gekommen ist.“ Schüller: „Ich muss sagen: Hetendorfer Tagungswoche hatte ich gar keine Erinnerung mehr. Ohne diese Ladung hätte ich wahrscheinlich gar keinen Zusammenhang mit der rechtsextremistischen Szene hergestellt. Deswegen habe ich mich in Vorbereitung des Termins im Internet und mit Veröffentlichungen des Verfassungsschutzes, die in meiner Privatbibliothek vorhanden waren, beschäftigt. Mir kamen ein paar dunkle Erinnerungen, dass ich mich damit beschäftigt habe beim Verfassungsschutz, aber konkrete Angaben zum Jahr 1997 kann ich nicht mehr machen.“ Götzl sagt, es liege ein Vermerk vor, der am Ende die Unterschrift „Schüller“ trage, und auf der Seite 10844 unter der Rubrik „Anmerkung“ stehe: „Die ‚Hetendorfer Tagungswochen‘ fanden von 1991 bis 1997 jährlich auf dem Gelände des 1984 gegründeten und 1998 verbotenen Vereins ‚Heide-Heim‘ e.V. in Hetendorf Nr. 13 statt.“
Götzl: „Können Sie sich erinnern?“ Schüller: „Der Vermerk ist mir übersandt worden, vom BKA an das Sozialgericht. Ich habe das gelesen. Da der räumliche Zuständigkeitsbereich des TLfV nicht betroffen war, werden Erkenntnisse darauf beruhen, das Erkenntnisse von anderen Landesämtern bzw. der Polizei an das LfV gelangt sind. Vom Schreibstil würde ich sagen, den Text könnte ich verfasst haben. Ob das ein Vermerk war, der schon vorlag oder ob ich den aus öffentlich zugänglichen Quellen verfasst habe, kann ich nicht mehr sagen. Ich habe zu Hause noch eine Broschüre des Verfassungsschutz Hamburg ‚Rechtsextremismus in Stichworten‘, da finden sich Ausführungen zu Hetendorf, Heide-Heim, dem Trägerverein. Also es könnte sein, dass ich das seinerzeit dort entnommen habe. Eine konkrete Erinnerung habe ich nicht mehr.“
Vorhalt aus dem Vermerk: Trägervereine des ‚Heide-Heim e.V.‘ waren die Vereine ‚Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung e.V.‘, ‚Nordischer Ring e.V.‘ und die Artgemeinschaft, deren Vorsitzender Jürgen Rieger war/ist. Schüller: „Ich müsste spekulieren.“ Vorhalt: Ideologische Konstanten dieser Tagungswochen waren Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Revisionismus sowie ein Parallelen zum Nationalsozialismus aufweisender völkischer Kollektivismus. Schüller: „Auch keine Erinnerung mehr.“ Vorhalt: Hetendorf Nr. 13 hatte neben den Tagungswochen zwischen 1979 und 1997 eine Bedeutung als Schulungs- und Tagungszentrum rechtsextremistischer Organisationen wie der später verbotenen ‚Nationalsozialistischen Front‘ [gemeint vermutlich „Nationalistische Front“ – NSU-Watch], ‚Wiking-Jugend e.V.‚, ‚Nationale Liste‚ oder ‚Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei‚. Schüller: „Kann ich nichts mehr dazu sagen.“
NK-Vertreter RA Narin: „In dem Vermerk taucht der Name Jürgen Rieger auf. Haben Sie Erkenntnisse zu seiner Person?“ Schüller: „Ein Hamburger Rechtsextremist, ich weiß nicht ob der noch lebt, bundesweit bekannt, und die Vereine waren im Heide-Heim sehr aktiv. Ob weitere Erkenntnisse vorlagen, weiß ich nicht, weil ja kein originärer Zuständigkeitsbereich des Thüringer Landesamts gegeben war. Der hat ja im norddeutschen Raum eher Aktivitäten entfaltet.“ NK-Vertreter RA Hoffmann: „Eine Nachfrage zu Ihrer letzten Antwort: Wenn einer dieser Vereine oder Personen Aktivitäten originär in Thüringen entfaltet hätte, hätten Sie dann Kenntnis davon gehabt?“ Schüller: „Nicht zwingend. Wenn das eine öffentliche Veranstaltung war, sicherlich. Wenn Erkenntnisse nachrichtendienstlich gewonnen wurden, auch. Aber es fanden ja keine Einreisekontrollen statt. Hätte sein können, müsste aber nicht. [phon.]“ Hoffmann: „In welchem Zeitraum waren Sie tätig?“ Schüller: „Im August 2003 im Referat Rechtsextremismus. Im Jahr 2004 zu Grundsatzfragen des Verfassungsschutzrechtes und ab Januar 2006 Tätigkeit im Thüringer Innenministerium, beamtenrechtliche Grundsatzfragen.“ Hoffmann: „Können Sie sagen, ob es in diesem Zeitraum, wo Sie tätig waren, Veranstaltungen oder Saalveranstaltungen von einem dieser Vereine in Thüringen gab?“ Schüller: „Kann ich nicht sagen, habe ich keine Erinnerung.“ Hoffmann: „Und Veranstaltungen, bei denen Rieger aufgetreten ist?“ Schüller: „Möglich, wäre rein spekulativ.“ Um 12:03 Uhr wird der Zeuge entlassen.
NK-Vertreter RA Elberling gibt eine Erklärung ab: „Die Aussage des Zeugen war hinsichtlich der ideologischen Aspekte leider unergiebig, wir würden überlegen, ob man Anregungen eines alternativen Beweismittels geben kann und uns dazu nächste Woche äußern.“
Dann beantragt RA Nahrath für die Verteidigung Wohlleben, eine vom Angeklagten Wohlleben verfasste, am 21.03.2001 im Stadtrat Jena verteilte und am 22.03.2001 auf der Internetseite der NPD Jena veröffentlichte Pressemitteilung zu verlesen. Darin geht Wohlleben auf einen Artikel der „Ostthüringer Zeitung“ vom 21.03.01 ein, laut dem die SPD-Fraktion im Jenaer Stadtrat vorhabe, „unsere Demonstration am 14.04.01 zu verhindern und weitere Veranstaltungen nationaler Couleur als ‚unerwünscht‘ zu erklären. Gründe sieht die SPD-Fraktion in unserer angeblichen Propagieren von ‚fremdenfeindlichen, rechtsradikalen und antidemokratischen‘ Parolen während unserer Demonstration. Dazu möchten wir folgendes klarstellen: Unsere Demonstration am 14.04. steht unter dem Motto „‚Für eine Welt freier Völker – Solidarität mit Irak und Palästina‘. Sie wird veranstaltet, weil es höchste Zeit ist, daß auch Deutsche endlich ein Zeichen gegen den US-amerikanischen und israelischen Terror setzten.“ [Fehler im Original der Pressemitteilung] Wer hieraus „Fremden- und Demokratiefeindlichkeit“ ableite, so die Pressemitteilung weiter, sei nur daran interessiert, „unsere Demo zu verhindern“ und stelle sich gegen eine „somit stattfindenden Solidarisierung mit den betroffenen Völker“.
Die Pressemitteilung weiter: „Auch fragen wir uns, da wir angeblich so fremdenfeindlich sind, warum wir in den ersten Wochen nach der Bekanntgabe unseres Mottos für geplante Veranstaltung eine Fülle an positiven Zuschriften von hier lebenden Ausländern bekommen haben. Wenn die im Stadtrat vertretenen Parteien gegen unsere Demonstration hetzen, so hetzen sie auch gegen hier lebende Iraker und Palästinenser, auf deren Probleme wir aufmerksam machen wollen. Aber in Zeiten, wo unter SPD-Regierung in Berlin, die Bundeswehr erstmals einen (völkerrechtswidrigen) Angriffskrieg gegen Jugoslawien geführt hat, sollte uns auch das nicht mehr wundern.“ [Fehler im Original der Pressemitteilung] Wenn die Stadtratsparteien sich gegen die Veranstaltung wenden sollten, so die Pressemitteilung weiter, stellten sie sich „eindeutig hinter den unmenschlichen Terror Israels und der USA“. Hier lebende „Ausländer der betroffenen Staaten“ würden endlich wissen, „welche politische Kraft in Deutschland ihnen den Rücken stärkt“. Die Pressemitteilung weiter: „Wir fordern hiermit die Bürger der Stadt Jena auf, sich an unserer Demonstration unter o.a. Motto zu beteiligen! Solidarisieren Sie sich mit den betroffenen Völkern! Zeigen wir es den Stadtratsparteien, daß nicht alle Menschen manipulierbar sind und nicht alle Menschen hinter der Forderung nach Freiheit, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus sehen!“ [Fehler im Original der Pressemitteilung]
Zur Begründung des Antrags sagt Nahrath, dass der Senat Wohlleben in seinem Beschluss vom 30.01.2017 eine ausgeprägt ausländerfeindliche Haltung unterstelle, die Beweggrund für die ihm vorgeworfene Unterstützungshandlung gewesen sei. Hieraus wolle der Senat nicht nur den Schluss auf einen Tötungsvorsatz, sondern auch auf das Vorliegen niedriger Beweggründe ziehen. Die Presseerklärung sei in zeitlicher Nähe zum vorgeworfenen Tatzeitpunkt entstanden. Sie bestätige die Angaben Wohllebens zu seiner Haltung gegenüber Ausländern und einem „Europa der Vaterländer“. Darüber hinaus zeige sie, dass Wohlleben „auch über Europa hinausblickt, für eine Welt freier Völker und gegen Imperialismus eintritt und sich solidarisch mit den Völkern des Irak und Palästinas erklärt“. Ronny Ar. habe für den Kreisverband der NPD Jena eine Demonstration am 14.04.2001 angemeldet, die unter dem Motto „Für eine Welt freier Völker – Solidarität mit Irak und Palästina“ stand. Diese Demonstration sei auch durchgeführt worden. Götzl: „Soll Stellung genommen werden?“ Bundesanwalt Diemer: „Nicht sogleich.“ Götzl: „Sonst noch weitere Anträge?“ Wohlleben-Verteidigerin RAin Schneiders: „Wir hätten noch einen Antrag, haben ihn aber nicht ausgedruckt.“ Götzl: „Unterbrechen wir für 5 Minuten.“
Um 12:20 Uhr geht es weiter. Schneiders beantragt zum Beweis der Tatsache, dass es für Kontaktpersonen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Ende der 90er Jahre bis einschließlich des Jahres 2000 nicht erkennbar gewesen sei, dass Mundlos und Böhnhardt schwerste Straftaten gegen das Leben von Menschen aus ausländerfeindlichen Motiven begehen könnten, folgende Zeugen erstmalig bzw. erneut zu vernehmen: Barbara Ei., Thomas Esch., Lars Fr., Robert He., Peter-Jörg Nocken, Enrico Ri., Thomas Rothe, Hans-Joachim Schmidt, Norbert Wießner. Zur Begründung sagt sie, dass die genannten Zeugen Mundlos und Böhnhardt im angegebenen Zeitraum gekannt oder beruflich mit ihnen zu tun gehabt hätten. Die Zeugen hätten sich in ihren polizeilichen Vernehmungen zu den drei Untergetauchten geäußert und dabei bekundet, dass sie solche Straftaten keinem der drei Untergetauchten zugetraut hätten.
Dann beantragt Schneiders, zum Beweis der Tatsache, dass 1. Wohlleben die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele stets abgelehnt habe, und 2. Wohlleben sich im Rahmen der „Ausländer-Thematik“ für ein „Europa der Vaterländer“ ausgesprochen habe und Ausländern nicht feindselig oder gar mit Hass begegnet sei, sondern „mit Achtung gegenüber den Völkern und mit Respekt gegenüber den Menschen“ folgende Zeugen zu vernehmen: Robert He, Volker He., Maximilian Le., Ralph Oe., die Vernehmungsbeamten von Frank Schwerdt KHK Kr. und KK Tr., Rick We., Andreas Rachhausen sowie den Journalisten Günter Platzdasch, Jena-Winzerla. Zur Begründung sagt sie, dass die genannten Zeugen sich aufgrund des Kennverhältnisses zu Wohlleben in ihren polizeilichen Vernehmungen zu Wohlleben geäußert hätten und die Beweistatsachen bestätigen könnten. Der Zeuge Frank Schwerdt sei zwischenzeitlich verstorben, so dass dessen Vernehmungsbeamte Angaben zu der polizeilichen Vernehmung des Frank Schwerdt machen können. Der Zeuge Platzdasch sei Journalist und habe mit Wohlleben um die Jahrtausendwende Gespräche geführt, bei welchen es auch um die Weltanschauung und politische Ausrichtung Wohllebens gegangen sei. Götzl: „Auch diesen Beweisantrag werden wir kopieren und Ihnen zur Verfügung stellen. Soll sogleich Stellung genommen werden? Von keiner Seite? Gibt es weitere Anträge?“ Niemand meldet sich.
Dann verkündet Götzl den Beschluss, dass das Ablehnungsgesuch Wohllebens gegen den SV Leygraf als unbegründet zurückgewiesen wird. Eine Befangenheit des abgelehnten SV sei nicht zu besorgen, so Götzl, es lägen keine berechtigten Zweifel an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten SV gegenüber dem Angeklagten Wohlleben vor. Götzl gibt den prozessualen Hergang wieder. Bereits am 15.06.2016 habe Wohlleben den SV Leygraf wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Dieses Ablehnungsgesuch habe der Senat am 22.09.2016 zurückgewiesen, der SV sei am 11.01., 19.01. und 25.01.2017 angehört worden. In der Hauptverhandlung vom 26.01.2017 habe Wohlleben Leygraf wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Kurz zusammengefasst habe Wohlleben sein Gesuch mit den Umständen begründet, die er bereits in seinem Ablehnungsgesuch vom 15.06.2016 vorgetragen habe, und ergänzt, der SV habe die Unschuldsvermutung missachtet. Leygraf habe mit Fax vom 30.01.2017 zu dem Ablehnungsgesuch Stellung genommen:
Soweit in dem Ablehnungsgesuch der Inhalt des Gesuchs vom 15.06.2016 wiederholt werde, habe er [Leygraf] dazu schon in seinem Schreiben vom 16.06.2016 Stellung genommen. Zum jetzigen Ablehnungsgesuch nehme er wie folgt Stellung: Bei der Begutachtung gemäß § 105 JGG gehe es u.a. um die Frage, ob es sich „nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung“ gehandelt habe. Dies lasse sich nur unter der hypothetischen Annahme einer tatsächlich begangenen Tat beurteilen. Insofern habe er bei der Abfassung seiner vorläufigen
schriftlichen Beurteilung und der Erstattung des mündlichen Gutachtens hypothetisch die Täterschaft des Carsten Schultze unterstellt. In seiner Stellungnahme vom 16.06.2016 zu dem Ablehnungsgesuch des Angeklagten Wohlleben vom 15.06.2016 hatte der Sachverständige ausgeführt, er könne sich an den konkreten Hintergrund des im Ablehnungsschreiben angeführten Vorhaltes nicht mehr erinnern.
Unter Punkt III. geht Götzl dann zur konkreten Begründung der Ablehnung des Befangenheitsantrags gegen Leygraf über. Ein SV könne, so Götzl unter 1., aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, abgelehnt werden; der Rechtsbegriff der Besorgnis der Befangenheit eines SV sei somit nicht anders auszulegen als bei einem Richter. Götzl weiter:
Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung eines Richters statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Das ist der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, der Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die die gebotene Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Zwar ist das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes grundsätzlich vom Standpunkt des Ablehnenden zu beurteilen, das bedeutet aber nicht, dass nur die Einschätzung des Angeklagten maßgebend ist. Er muss vielmehr vernünftige Gründe für sein Ablehnungsbegehren vorbringen, die jedem unbeteiligten Dritten einleuchten. Es kommt also auf den Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten an. Ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist, spielt keine Rolle.
Unter 2. sagt Götzl, dass das Ablehnungsgesuch gemessen an diesen Grundsätzen keine Umstände aufzeige, die geeignet wären, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten SV gegenüber Wohlleben zu rechtfertigen:
a) Zur Begründung seines Ablehnungsgesuchs trägt der Angeklagte Wohlleben zunächst Gesichtspunkte vor, die bereits Gegenstand seines Ablehnungsgesuchs vom 15.06.2016 waren:
aa) Anlass des damaligen Antrages sei es gewesen, dass die Verteidigung des Angeklagten Wohlleben den Sachverständigen befragt habe, auf welcher Grundlage er dem Angeklagten Carsten Schultze im Explorationsgespräch vorgehalten habe, dass es – wohl in der sogenannten rechten Szene in Jena – doch ausgeprägte ausländerfeindliche Parolen gegeben habe. Der abgelehnte Sachverständige habe indes weder konkrete ausländerfeindliche Parolen zu benennen vermocht, noch, wann und durch wen diese wo verwendet worden sein sollen. Die einzige Parole, die dem Sachverständigen geläufig gewesen sei, war „Ausländer raus“. Er habe jedoch nur angeben können, dass er diese in einem Fernsehbericht über eine sogenannte „rechte“ Demonstration wahrgenommen habe. Er habe aber nicht gewusst, wann, wo und von wem konkret diese Demonstration durchgeführt worden sei, über die in dem von ihm angesprochenen Fernsehbeitrag berichtet worden sei. Zur Begründung des Ablehnungsgesuchs sei damals angeführt worden, dass kein Zeuge Angaben dahingehend getätigt habe, dass die jungen Jenaer, die sich der Kameradschaft Jena, dem Thüringer Heimatschutz bzw. dem Nationalen Widerstand Jena zurechneten, öffentlich ausländerfeindliche Parolen, sei es auf Plakaten, Aufklebern, Spuckis, Transparenten oder durch deren Skandieren verwendet hätten. Als einzige – mögliche – Ausnahme sei bislang bekundet worden, dass der V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz Thüringen Tino Brandt in einem Fall ohne Abstimmung mit seinen Kameraden einen Aufkleber mit der Aufschrift „Bratwurst statt Döner“ habe herstellen und dann verteilen lassen.
Abgesehen davon habe der Angeklagte Carsten Schultze zu keinem Zeitpunkt ausgesagt, dass er selbst im oben genannten Sinne „ausgeprägt ausländerfeindliche Parolen“ verwendet, also „übernommen“ habe. Dennoch habe ihm der abgelehnte Sachverständige ausweislich seines schriftlichen Gutachtens genau dies unterstellt. Damit habe der Sachverständige überdeutlich zu erkennen gegeben, dass er dem Angeklagten Carsten Schultze und damit auch den übrigen Angeklagten nicht mit der vom Gesetz geforderten Objektivität gegenübersteht. Der abgelehnte Sachverständige habe ohne eine hinreichende Grundlage, insbesondere ohne dass dies durch Anknüpfungstatsachen belegt gewesen wäre oder er hierzu Befundtatsachen erhoben hätte, negative Zuschreibungen dahingehend vorgenommen, dass die der Kameradschaft Jena bzw. dem Thüringer Heimatschutz in Jena zuzurechnenden jungen Jenaer und damit auch die Angeklagten durchweg Rechtsextremisten und deshalb ausländerfeindlich gewesen seien und deshalb ausländerfeindliche Parolen verwendet hätten. Damit habe der Sachverständige bestehende Vorurteile kritiklos übernommen und einfach auf die Angeklagten projiziert.
bb) Aus der Sicht eines verständigen Angeklagten bezieht sich der Vorhalt des abgelehnten Sachverständigen an den Angeklagten Carsten Schultze bei dessen Exploration „aber es habe doch ausgeprägte ausländerfeindliche Parolen gegeben“, ohne dass er konkret ausländerfeindliche Parolen habe benennen und angeben können, durch wen und wo diese verwendet worden seien, nicht auf den Angeklagten Wohlleben. (1) Der Vorhalt des Sachverständigen enthält für einen verständigen Angeklagten im Zusammenhang mit der bei der Exploration vorausgegangenen Frage an den Angeklagten Schultze, wie er zu der Ausländerfeindlichkeit der Szene gestanden habe, lediglich die Behauptung, in der Szene habe es „ausgeprägte ausländerfeindliche Parolen“ gegeben. Mit dieser Aussage über die Existenz dieser Parolen hat der Sachverständige aber nichts über deren Verwenderkreis gesagt. Insbesondere enthält der Satz keine Aussage darüber, dass bestimmte Personen, die von dem Antragsteller genannten Personenkreise oder die Angeklagten diese Parolen verwendet hätten. (2) Ein verständiger Angeklagter wird weiter berücksichtigen, dass der abgelehnte Sachverständige diesen Vorhalt auf Nachfrage der Verteidigung des Angeklagten Wohlleben in der Hauptverhandlung vom 08.06.2016 nachvollziehbar erläutert hat. Der Sachverständige hat insoweit angegeben, er habe den Vorhalt allgemein auf die rechte Szene bezogen, Jena habe er insofern nicht gekannt. Welche Parolen er im Blick gehabt habe, könne er nicht mehr konkret sagen. Parolen wie „Ausländer raus“ ordne er der „rechten Szene“ zu. Er habe damit keine konkrete politische Gruppe gemeint, sondern Menschen, die Parolen wie „Ausländer raus“ rufen, oder die Plaketten verkleben, wie sie der Angeklagte Carsten Schultze beschrieben habe. Aus dieser Erläuterung erkennt ein verständiger Angeklagter, dass der Vorhalt des Sachverständigen nicht eine politische Gruppe betrifft, sondern dass der Sachverständige konkret auf die Personen abstellt, die derartige Parolen rufen. Den Angeklagten Wohlleben hat er in diesem Zusammenhang nicht genannt. Auf ihn bezieht sich diese Betrachtungsweise des Sachverständigen nicht.
cc) Aus der Sicht eines verständigen Angeklagten begründet auch der weitere Umstand, den der Angeklagte Wohlleben zur Begründung seines Gesuchs anführt, die Besorgnis der Befangenheit des abgelehnten Sachverständigen nicht. Der Angeklagte Wohlleben führt insoweit aus, der Angeklagte Carsten Schultze habe zu keinem Zeitpunkt selbst angegeben, er habe „ausgeprägte ausländerfeindliche Parolen“ verwendet, also „übernommen“; gerade das habe der abgelehnte Sachverständige dem Angeklagten Schultze in seinem schriftlichen Gutachten jedoch unterstellt. (1) Soweit der Angeklagte Wohlleben vorträgt, er habe durch die Frage, wieso er solche Parolen „übernommen“ habe, dem Angeklagten Schultze bei dessen Exploration unterstellt, dieser habe „ausgeprägte ausländerfeindliche Parolen“ verwendet, ist diese Frage im Zusammenhang mit der vorangegangenen Äußerung des Angeklagten Schultze gegenüber dem Sachverständigen zu sehen. Die vorangegangene Äußerung des Angeklagten Schultze mit Bezug auf die Parolen („Ja, die
hab ich mir schön geredet“) enthält die Aussage, dass sich der Angeklagte Schultze mit solchen Parolen befasst und sie interpretiert („mir schön geredet“) hat. Die Verwendung des Wortes „übernommen“ durch den Sachverständigen stellt sich in diesem Zusammenhang als mögliche Wertung der vorhergehenden Angaben des Angeklagten Schultze dar. (2) Aus der Sicht eines verständigen Angeklagten hat der abgelehnte Sachverständige somit keine Unterstellung zum Nachteil des Angeklagten Carsten Schultze und der übrigen Angeklagten vorgenommen, sondern mit einer möglichen Wertung an das Aussageverhalten des Angeklagten Carsten Schultze bei dessen Exploration angeknüpft.
dd) Der Angeklagte Wohlleben trägt schließlich zusammenfassend vor, der abgelehnte Sachverständige habe ohne eine hinreichende Grundlage, insbesondere ohne dass dies durch Anknüpfungstatsachen belegt gewesen wäre oder er hierzu Befundtatsachen erhoben hätte, negative Zuschreibungen dahingehend vorgenommen, dass die der Kameradschaft Jena bzw. dem Thüringer Heimatschutz in Jena zuzurechnenden jungen Jenaer und damit auch die Angeklagten
Rechtsextremisten und deshalb ausländerfeindlich gewesen seien und ausländerfeindliche Parolen verwendet hätten. Damit habe der Sachverständige bestehende Vorurteile kritiklos übernommen und einfach auf die Angeklagten projiziert. Dies trifft – für einen verständigen Angeklagten erkennbar – nicht zu. Der Sachverständige hat in der Hauptverhandlung vom 08.06.2016 nachvollziehbar erklärt, er habe sich allgemein auf die rechte Szene bezogen. Jena habe er insofern nicht gekannt.
b) Zur Begründung seines Ablehnungsgesuches hat der Angeklagte Wohlleben weiter vorgetragen, die Besorgnis der Befangenheit und Voreingenommenheit werde nunmehr durch die am 11.01.2017 gemachte Äußerung des abgelehnten Sachverständigen verstärkt. Der Sachverständige habe bei seiner erneuten Anhörung in diesem Termin auf Frage der Verteidigung der Angeklagten Zschäpe erklärt, dass er generell bei der Gutachtenerstattung von der Täterschaft des Probanden ausgehe. Diese Äußerung erhelle, dass er nicht unvoreingenommen an die Gutachtenaufträge herangehe, sondern bei der Exploration der Probanden und bei der folgenden Erarbeitung und Erstattung seiner Gutachten prinzipiell die Täterschaft des Probanden voraussetze. Damit werde die Unschuldsvermutung, die bis zur Rechtskraft eines verurteilenden Erkenntnisses uneingeschränkt gelte, auf den Kopf gestellt, ohne dass dies aus zwingenden Gründen, die aus der Methodik der vom Sachverständigen vertretenen Wissenschaft wurzelt, erforderlich sei. Damit stehe er den Angeklagten nicht mehr unvoreingenommen und mit der erforderlichen Unparteilichkeit gegenüber. Auch diese Umstände begründen aus der Sicht eines verständigen Angeklagten nicht die Besorgnis der Befangenheit des abgelehnten Sachverständigen.
aa) Die Verteidigerin des Angeklagten Wohlleben, Rechtsanwältin Schneiders, fragte den Sachverständigen in der Hauptverhandlung vom 11.01.2017, ob er von einer Schuld Carsten Schultzes ausgegangen sei. Der Sachverständige antwortete, der Begriff der Schuld sei kein psychiatrischer Begriff. Er fragte nach, ob die Fragestellerin Täterschaft meine. Nachdem die Fragestellerin das bejaht hatte, entgegnete der Sachverständige, er gehe grundsätzlich bei seinen Gutachten von Täterschaft aus, denn sonst wäre sein Gutachten unsinnig. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 30.01.2017 hat der Sachverständige insoweit ausgeführt, bei der Begutachtung gemäß § 105 JGG gehe es u.a. um die Frage, ob es sich „nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung“ gehandelt habe. Dies lasse sich nur unter der hypothetischen Annahme einer tatsächlich begangenen Tat beurteilen. Insofern habe er bei der Abfassung seiner vorläufigen schriftlichen Beurteilung und der Erstattung des mündlichen Gutachtens hypothetisch die Täterschaft des Carsten Schultze unterstellt.
bb) Aus der Sicht eines verständigen Angeklagten, der auch die Stellungnahme des abgelehnten Sachverständigen vom 30.01.2017 berücksichtigt, ergibt sich, dass dieser sein Gutachten gemäß § 105 JGG hinsichtlich des Angeklagten Carsten Schultze unter der hypothetischen Annahme einer tatsächlich begangenen Tat erstellt hat. Der Sachverständige ist damit gerade nicht von einer erwiesenen Täterschaft des Angeklagten Carsten Schultze ausgegangen. Für einen verständigen Angeklagten ergeben sich damit aus der Äußerung des Sachverständigen keine Hinweise, dass dieser dem Angeklagten Carsten Schultze und den weiteren Angeklagten gegenüber nicht mehr unvoreingenommen wäre.
c) Der Senat hat schließlich die von dem Angeklagten Wohlleben zur Begründung seines Befangenheitsgesuches vorgetragenen Umstände einer Gesamtwürdigung unterzogen. Danach ergibt sich für einen verständigen Angeklagten weder aus dem Explorationsgespräch des Sachverständigen mit dem Angeklagten Carsten Schultze noch aus der hypothetischen Annahme von dessen Täterschaft für die Erstellung des Sachverständigengutachtens nach § 105 JGG eine Besorgnis der Befangenheit gegenüber dem Angeklagten Wohlleben. Der Sachverständige hat in der Hauptverhandlung am 8.6.2016 erklärt, er habe den Vorhalt „aber es habe doch ausgeprägte ausländerfeindliche Parolen gegeben“ im Rahmen der Exploration des Angeklagten Carsten Schultze allgemein auf die rechte Szene bezogen. Jena habe er insofern nicht gekannt. Unterstellungen gegenüber dem Angeklagten Carsten Schultze hat er nicht vorgenommen. Die Frage, wieso Carsten Schultze solche Parolen „übernommen“ habe, stellt sich in der Entwicklung des Explorationsgesprächs als mögliche Wertung der vorhergehenden Angaben des Angeklagten Schultze durch den Sachverständigen dar. Von einer erwiesenen Täterschaft des Angeklagten Carsten Schultze ist der Sachverständige nicht ausgegangen. Das Ablehnungsgesuch war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Schneiders: „Wir beantragen eine Abschrift und eine 30-minütige Unterbrechung zur Beratung.“ Götzl: „Dann werden wir jetzt unsere Mittagspause einlegen und setzen fort um 13:45 Uhr.“ Um 13:51 Uhr geht es weiter. Götzl fragt: „Gibt es noch Anträge?“ Niemand meldet sich. Götzl: „Wir setzen fort am kommenden Dienstag, 21.02.2017, 09:30 Uhr.“ Der Verhandlungstag endet um 13:52 Uhr.
Das Blog „NSU-Nebenklage„: „Die Verteidigung Wohlleben stellte erneut diverse Beweisanträge, mit denen sie beweisen will, dass Wohlleben nicht ‚ausländerfeindlich‘ gewesen sei und ihm auch die rassistische Einstellung von Mundlos und Böhnhardt nicht bekannt gewesen sei. U.a. zitierte Verteidiger Nahrath ausführlich aus einem von Wohlleben verantworteten Flugblatt, in dem der ‚ethnopluralistische‘ Phrasen drischt. Das Gericht war bisher bei der Thematisierung der rassistischen Einstellung Wohllebens sehr zurückhaltend. Wenn die Anträge der Verteidigung das Gericht zwingen, dieser Frage näher nachzugehen, dann ist das aus Sicht der Nebenklage zu begrüßen. Eine genauere Betrachtung der von Wohlleben vertretenen Ideologie des ‚Ethnopluralismus‘ im Zusammenspiel mit dessen völkisch-rassistischen ‚Volksbegriff‘ wird ergeben, dass es sich dabei um eine ‚modernisierte‘ Form des Rassismus handelt, bei der das Wort ‚Rasse‘ gestrichen wird, die allerdings die gleichen mörderischen Konsequenzen nach sich zieht. Der Begriff wurde in den 1970er Jahren aus Kreisen der sog. ‚Neuen Rechten‘ einerseits als Konsequenz auf die weitgehende Ausgrenzung klassischer nationalsozialistischer Positionen, andererseits als Weiterentwicklung nationalsozialistischer Europapläne entwickelt.“
http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/02/16/16-02-2017/