Rezension: Blick zurück in Ernüchterung – Thies Marsen lässt den NSU-Prozess und sein fragwürdiges Ende Revue passieren

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von Fritz Burschel

„Verbitterung bringt mich nicht weiter, ich muss nach vorne schauen“, sagt Seda Başay-Yıldız, die als Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess politischer geworden sei. Sie habe als türkischstämmige Person immer mit rassistischer Diskriminierung leben müssen. Auch das Jurastudium habe ihre Lage im Grunde nicht verbessert, sagt sie, sie gehöre trotzdem nicht dazu: „Vor dem Gesetz sollten wir nach unserer Verfassung alle gleich sein. Das sind wir einfach nicht. Das ist so.“ Als Anwältin von Nebenkläger*innen im NSU-Verfahren sei sie zum Teil üblen Beschimpfungen und massiven Bedrohungen ausgesetzt gewesen, erzählt sie in einem beeindruckenden Radiofeature des Bayerischen Rundfunks, das am kommenden Samstag, 8. Dezember, um 13.05 Uhr, auf dem Sender Bayern 2 zu hören ist. Das Feature stammt vom BR-Journalisten Thies Marsen, der zu den Dauerbesucher*innen und -berichterstatter*innen im Saal A 101 im Münchener Strafjustizzentrum gehört hat, wo der NSU-Prozess „über die Bühne ging“. Marsen hatte sich schon vor dem Auffliegen des NSU einen Namen als Experte für das Geschehen am „rechten Rand“ gemacht, entsprechend kundig und stichhaltig war auch bisher schon alles, was er zu dem Thema gemacht hat. Und er ist ein brillanter Radiomacher, dessen Hörstücke zum Besten gehören, was über den bayerischen Äther verbreitet wird.

So auch dieses Feature unter dem Titel „Was bleibt vom NSU-Prozess? Eine persönliche Sicht auf fünf Jahre Verhandlung und die Folgen„. Es ist bezeichnend, dass das Persönliche seines Rückblicks eher in der Auswahl der Gesprächspartner*innen und der Perspektiven als in Selbstbefragung und Nabelschau liegt. Nur an wenigen Stellen scheint seine eigene Erschütterung auf, die der NSU und das Leid, dass er über so viele Menschen gebracht hat, ihm verursachte. Als die Ehefrau des Münchener NSU-Opfers Theodorus Boulgarides, Yvonne Boulgarides, vor Prozessbeginn Mitte April 2013 auf einer großen Demonstration in München sprach, seien ihm die Tränen über das Gesicht gelaufen. Schon ein kurzer Schnipsel eines Statements von Yvonne Boulgarides macht diese Reaktion unmittelbar verständlich.

Marsens „persönliche Sicht“ auf den NSU und den Prozess, der am 11. Juli 2018 endete, ist bestimmt von der Perspektive der Betroffenen, der Opfer, der Überlebenden, im Jurajargon: der Geschädigten des NSU-Terrors, der Hinterbliebenen der zehn Mordopfer, der zum Teil schwer Verletzten der drei Sprengstoffanschläge und der Betroffenen der 15 besonders brutalen Bank- und Raubüberfälle des NSU. Ausgangspunkt seines Einstünders ist die Ernüchterung und Enttäuschung angesichts des letzten Tages des NSU-Prozesses, des 438. Hauptverhandlungstages mit der Urteilsverkündung, der ohne Umschweife als Tiefpunkt des gesamten über fünfjährigen Verfahrens bezeichnet werden kann. Ausgerechnet die beiden halsstarrig bekennenden Neonazis unter den Angeklagten, NSU-Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben und Unterstützer André Eminger kamen mit Haftstrafen zum Teil deutlich unter den Forderungen der Bundesanwaltschaft davon, der fanatische „Nationalsozialist“ Eminger gar mit fast zehn Jahren weniger und wenig nachvollziehbaren Teilfreisprüchen. Er konnte das Gericht als freier Mann unter dem Jubel seiner angereisten „Kameraden“ verlassen. Unter der Ballustrade der Öffentlichkeit saßen die Betroffenen des NSU-Terrors, hörten den Jubel oben und waren wie vor den Kopf gestoßen. Hatten sie doch – und nicht nur sie – von dem Prozess nichts weniger als die Einlösung des vollmundigen Versprechens von Kanzlerin Angela Merkel vom 23. Februar 2012 erwartet, die damals von „lückenloser Aufklärung“ sprach.

Ob das vielleicht naiv gewesen sei, fragt sich auch Marsen, der irgendwie dieselben Erwartungen gehegt hatte. Er lässt sich von dem Prozessbeobachter von NSU-Watch Robert Andreasch aus der Seele sprechen: „Ja, Ernüchterung. Wir haben uns einfach Illusionen gemacht“, sagt er. Man frage sich tatsächlich, ob es das wert gewesen sei, sagt Andreasch. Die viele Zeit im Prozess habe auch von anderen Recherchen und Aufgaben abgehalten, die angesagt gewesen wären – etwa angesichts der Explosion rassistischer Gewalt in Deutschland, deren Druckwellen sich im Grunde parallel zum Prozess ausbreiteten. Und alles was dazu gehört: der Maaßen-Skandal, der rechtsterroristische Bundeswehroffizier Franco A., die Weiße-Wölfe-Terrorcrew in Bamberg, Ausschreitungen in Chemnitz, der Prozess gegen die „Gruppe Freital“ usw. usf.

Marsen reist als Reporter auch nach Apolda, wo im Oktober 2018 Nazis ein anderenorts verbotenes RechtsRock-Konzert im Stadtzentrum angemeldet hatten. Marsen will sich selbst davon überzeugen, ob tatsächlich der eine Woche nach dem Urteil in München ebenfalls auf freien Fuß gesetzte Ralf Wohlleben als Redner dort erscheinen würde. Und er trifft einen alten Bekannten wieder: Michael Ebenau, in Thüringen seit Jahrzehnten immer an der Spitze von Protesten gegen rechts, den er schon im Jahr 2003 kennengelernt hatte, als Wohlleben und seine Kameraden gerade ein Haus in Jena-Altlobeda erworben und zum „Braunen Haus“ erklärt hatten. Geradezu gespenstisch ist die „historische“ Aufnahme vom damaligen Besuch in Jena, wo Wohlleben, kurz vorher noch Verbindungsmann und Vertrauter des nach Chemnitz geflüchteten Kerntrios des NSU, sich dem Reporter und seinem Interviewpartner Ebenau nähert und bei dem Interview zuhören will.

Ein großartiges Radiostück hat Marsen da abgeliefert, eine verstörende Tiefenbohrung in das Drama von Vertuschung, Verharmlosung, Ignoranz und Rassismus, des Downsizing einer der monströsesten Naziterrorserien in der Geschichte der Bundesrepublik, eine nüchterne, auch ernüchterte Bilanz, die aber zum Weitermachen und Keine-Ruhe-Geben motiviert und keinen Schlussstrich zulassen will. Um mit Blick auf das enttäuschende Prozessende mit Yvonne Boulgarides zu sprechen: „Das war nur ein oberflächlicher Hausputz, wo nicht mal unter den Teppich geschaut wurde.“

Und das kann man doch so nicht auf sich beruhen lassen.

Das sehr empfehlenswerte Feature „Was bleibt vom NSU Prozess? Eine persönliche Sicht auf fünf Jahre Verhandlung und die Folgen“ wird am Samstag, 8. Dezember 2018, um 13.05 Uhr auf Bayern 2 ausgestrahlt und am Sonntag, 9. Dezember, um 21.05 Uhr noch einmal wiederholt.

Als Podcast kann das Feature hier heruntergeladen werden.