Am 16. Verhandlungstag im Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann wurde der aktuelle Verteidiger von Ernst, RA Kaplan und ein ehemaliger Verteidiger von Ernst, RA Waldschmidt vor Gericht als Zeugen befragt. Hintergrund waren Angaben von Ernst, von zwei seiner Anwälte, RA Waldschmidt und RA Hannig, zu Falschaussagen überredet worden zu sein. Um darüber vor Gericht aussagen zu können, hatte Ernst seine ehemaligen Anwälte und RA Kaplan teilweise von der Schweigepflicht entbunden. Auch Stephan Ernst wurde heute wieder befragt und zum Ende des Verhandlungstages noch ein Beitrag des TV-Magazins Panorama und das gesamte von Hartmann aufgenommene Handyvideo der Bürgerversammlung in Lohfelden gezeigt.
Gleich zu Beginn des Verhandlungstages wurde RA Kaplan als Zeuge vernommen. Er sagte, am 3. Juli 2020 habe es ein Gespräch zwischen ihm und RA Hannig gegeben, zu dem er hier Auskunft geben dürfte. Hannig habe ihm mitgeteilt, dass die Version des Mordes an Walter Lübcke vom Januar/Februar 2020, nach der sich aus der von Hartmann gehaltenen Waffe ein Schuss gelöst habe, seine Erfindung gewesen sei. Kaplan gab an ihn damals gefragt zu haben, warum er das tue. Hannig habe ihm darauf geantwortet, er tue dies, weil er in einem Strafverfahren lügen dürfe. Der Vorsitzende Richter Sagebiel hakte nach, wie es zu dem Gespräch gekommen sei. Kaplan führte aus, Hannig und er hätten sich an dem Tag morgens vor der Hauptverhandlung treffen wollen, um den Tag vorzubereiten. Er habe allerdings vergeblich auf Hannig gewartet, der ihm eine Whatsapp-Nachricht mit einem abfotografierten Zettel geschickt habe, anstatt zum Treffen zu kommen. Hannig habe dazu geschrieben, dass Ernst im Prozess sagen solle, seine Frau habe ihn angerufen, um zu fragen, warum es so lange mit der Einlassung dauere, er solle endlich reden. Kaplan erzählte weiter, er habe Hannig an dem 3. Juli dann gegen 9:45 Uhr am Gericht getroffen und ihn gefragt, ob dies stimme. Hannig habe gesagt, das stimme nicht, aber er wolle, dass Ernst es so erzähle, wie er es auf dem Zettel, den er Kaplan geschickt hatte, aufgeschrieben habe. Das sei gut „wegen der Öffentlichkeit“. Sagebiel sagte, das sei ja abstrus, Telefonate würden ja überwacht. Kaplan stimmte zu, daher habe er nachgefragt und in diesem Zuge habe ihm Hannig auch davon erzählt, die Geständnisversion erfunden zu haben. Allerdings sei nur der Teil, in dem Hartmann die Waffe gehalten habe, erfunden, der Rest des zweiten Geständnisses von Stephan Ernst träfe zu, auch was die Anwesenheit von Hartmann am Tatort betreffe. Hannig habe gesagt, er habe damit eine Aussage von Hartmann provozieren wollen. Richter Dr. Koller fragte, ob Hannig ihm berichtet habe, was Ernst ihm erzählt habe. Kaplan bejahte dies, das sei in der Einlassung vor Gericht wiedergegeben worden. Koller fragte nach, also habe Hannig die dritte Version gekannt und diese in die zweite modifiziert. Kaplan: „So ist es.“ Ob er dies zuvor gewusst habe, ließ Kaplan während seiner Aussage offen, da Gespräche dazu an anderen Tagen stattgefunden hätten, zu diesen sei er aber nicht von seiner Schweigepflicht befreit.
Der Senat befragte dann erneut den Angeklagten Stephan Ernst. Dabei machte es sich auch Fragen der Verteidigung Hartmann zu Eigen, die Ernst nicht beantwortet hatte. Es ging zunächst um Details zum Tatablauf beim Mord an Walter Lübcke. Ernst gab dazu unter anderem an, dass er den Schuss zwischen 23:10 und 23:40 abgegeben habe und davor zwischen 30 und 50 Minuten das Haus beobachtet habe. Er habe auf der Terrasse ein Smartphone bei Lübcke wahrgenommen, kein Tablet. Sagebiel fragte nach dem Bild der Wärmebildkamera, das Ernst versehentlich gemacht habe. Ernst gab an, er habe bemerkt, dass er dies gemacht habe und habe eigentlich gedacht, dass er es gelöscht habe. Sagebiel stellte dann die Frage nach Notizen und Zeichnungen, die bei Ernst gefunden wurden. Diese wurden in Augenschein genommen, wobei sichtbar wurde, dass es dabei um das Konstruktionen von Zündmechanismen und Pistolen handelte. Ernst gab an, mit diesen Notizen habe er sich bei seiner Haft Mitte der 1990er „die Zeit vertrieben“. Sagebiel sagte, bei den Notizen seien auch Namen von Schützenvereinen dabei gewesen und fragte nach Ernsts Interesse daran. Ernst: „Interesse für Schützenvereine würde ich so nicht sagen.“ Er habe sich mit einem Mithäftling unterhalten, wie man sich bewaffnen könne und da sei ihnen der Eintritt in einen Schützenverein eingefallen. Sagebiel fragte nach Ernsts Mitgliedschaft in der NPD, die dieser bestätigte. Er sei nie formal ausgetreten, er habe einfach keine Mitgliedsbeiträge mehr bezahlt, so Ernst. Er sei drei Jahre lang aktiv gewesen, er habe damit aufgehört, als er in die freie Kameradschaftsszene gewechselt sei. Der Senat machte sich außerdem eine Frage der Verteidigung Hartmann zu Eigen, die auf die Vernehmung von Alexander Sch. zurückgeht. Dieser hatte angeben, Ernst und Hartmann bei der Demonstration in Chemnitz getroffen zu haben. Ernst antwortete, daran könne er sich nicht erinnern, aber bei Demonstrationen in Erfurt hätten sie Sch. zweimal getroffen. Sagebiel fragte, warum Ernst zu Hartmann nicht gesagt habe, „machs doch selber“, als Hartmann ihn für den Mord agitiert habe. Ernst sagte, er habe ihn gefragt, aber er habe sich dann dazu bereit erklärt. „[D]ie Situation war aufgeladen“ durch die Ereignisse im Laufe des Jahres, er habe dagegen vorgehen wollen, daher sei er dazu bereit gewesen. Über die Risikoverteilung hätten sie nicht gesprochen, so Ernst auf Nachfrage. Sagebiel fragte weiter, warum sie mit dem Mord ein halbes Jahr nach den Ereignissen von Chemnitz gewartet hätten. Ernst sagte, sie hätten andauernd darüber gesprochen und Mitte April 2019 hätten sie mit der konkreten Planung begonnen. Ernst konkretisierte auf die Frage nach dem genauen Datum, dass es an diesem Tag eine Vorstandssitzung im Schützenverein gegeben habe, er an einer Tankstelle mit EC-Karte gezahlt habe und er und Hartmann ihre Handys mitgehabt hätten. Sagebiel fragte, ob Lübcke 2019 für ihn die gleiche Bedeutung gehabt habe wie 2015. Das verneinte Ernst, es habe sich radikalisiert. Als „auslösende Ereignisse“ nannte Ernst „Nizza, Chemnitz, Köthen, Magnitz, die Morde an den Rucksacktouristinnen, den Angriff auf den Weihnachtsmarkt“, eben „diese ganzen Ereignisse“. Ernst bejahte die Frage Sagebiels, dass er „Leuten wie Lübcke“ die Schuld an diesen Ereignissen gegeben habe. Auf Nachfrage sagte er, er habe wahrgenommen, dass das Video von Lohfelden Anfang 2019 erneut gepostet wurde und er habe den Post von Erika Steinbach zu Walter Lübcke gesehen, das sei aber nicht entscheidend für die Tat gewesen.
Nach der Mittagspause trat Rechtsanwalt Dirk Waldschmidt in den Zeugenstand. Sagebiel fragte, wer ihn mit dem Mandat für Stephan Ernst beauftragt habe. Waldschmidt antwortete, das wisse er nicht, ein Mann, der sich nicht vorstellte, habe ihn in seiner Kanzlei angerufen und habe gesagt, Ernst sei in Kassel inhaftiert wegen eines Tötungsdeliktes, er solle das Mandat übernehmen. Er, Waldschmidt, habe gesagt, auf Zuruf sei das nicht möglich, er werde mit Ernst reden. Er habe dann bei der Staatsanwaltschaft einen Sprechschein beantragt und sei zu Ernst in die Untersuchungshaft gefahren. Waldschmidt verneinte auf Frage, Hartmann zu kennen. Er antwortete auf weitere Fragen, der Anrufer sei niemand gewesen, den er in der rechten Subkultur verorten würde, es sei eine Art „Aktenvortrag“ am Telefon gewesen und habe keinen Szeneduktus, wie „Gesinnungsknast“, beinhaltet. Der Anrufer habe sich nicht nochmal gemeldet. Sagebiel fragte nach Ernsts Reaktion auf den Besuch Waldschmidts. Dieser sagte, Ernst sei froh gewesen, dass jemand da war, dass ein Anwalt da war, er habe keinen gehabt. Es sei dann direkt aus Ernst heraus gesprudelt, dass er damit nichts zu tun habe. Er, Waldschmidt, habe geantwortet, er wolle sich alles angucken, Ernst solle erst einmal nichts sagen. Ernst habe gesagt, er müsse unbedingt aus der Haft raus, er habe einen Alibizeugen, er sei nicht am Tatort gewesen, das sei unmöglich. Waldschmidt habe gesagt, er werde sich schlau machen und habe nach dem Zeugen gefragt, könne sich aber nicht an den Namen erinnern Sagebiel fragte, ob es sich um A. [siehe 14. Prozesstag]handele. Waldschmidt: „Kann sein.“ Ernst habe gesagt, er habe sich mit A. getroffen, sie hätten sich über die Meisterschule unterhalten. Waldschmidt berichtete, er habe dann zu Ernst gesagt, es ginge hier nicht um Diebstahl, da gehe man nicht raus aus der Untersuchungshaft. Zu der DNA-Spur habe Ernst gesagt, diese sei vom Verfassungs- oder Staatsschutz platziert worden, der Mord habe etwa mit Immobilien und der Mafia zu tun. Waldschmidt sagte im Zeugenstand, das sei für ihn abwegig gewesen, und er habe darauf nicht eingehen wollen, um das Ansehen Lübckes nicht zu besudeln. Dies habe Ernst zu Kenntnis genommen. Er, Waldschmidt, habe sich trotzdem das Alibi ansehen wollen. Er habe dann im Radio von dem Geständnis von Ernst erfahren, er sei „aus allen Wolken“ gefallen. Er habe ihm „sicher nicht“ zu einem Geständnis geraten, nicht vor Akteneinsicht. Er habe ihm auch abgeraten, einen Alibizeugen zu präsentieren, weil er sich sonst lächerlich mache. Sagebiel fragte, ob er mit Ernsts Ehefrau über finanzielle Probleme gesprochen habe. Der Zeugenbeistand Waldschmidts intervenierte, das sei nicht von der Entbindung der Schweigepflicht gedeckt, weil auch hier ein Mandatsverhältnis bestanden habe. Nach einer kurzen Diskussion und Pause verkündete Sagebiel, man werde das klären und den Zeugen erneut für den 3. November laden.
Im Anschluss wurden zwei Videos in Augenschein genommen. Zunächst ein kurzer Beitrag des Nachrichtenmagazins „Panorama“, der sich um die Ankündigung des zweiten Geständnisses von Stephan Ernst dreht. Der Hauptprotagonist des Beitrags ist RA Hannig. Danach wurde das gesamte von Hartmann bei der Bürgerversammlung aufgenommene Video in Augenschein genommen. Hier sind ca. elf Minuten der Rede von Walter Lübcke zu sehen, nicht nur der Ausschnitt, der später von Hartmann hochgeladen wurde. Direkt danach sagte Nebenkläger Jan-Hendrik Lübcke: „Ich bin echt stolz auf meinen Papa. Alles was er da gesagt hat, da hat er recht und das stimmt immer noch!“ Richter Sagebiel antwortete, das habe ihm jetzt nicht zugestanden. Richterin Adlhoch fragte Ernst, ob er im Video noch etwas gesagt habe, das bejahte dieser, er habe noch zwei Sätze gerufen. Danach endete der Prozesstag.
Der Bericht bei NSU-Watch Hessen