Am zwölften Verhandlungstag wurde der Angeklagte Stephan Ernst nach dessen erneuter Aussage vom Anwalt der Nebenklage der Familie Lübcke, RA Matt, befragt.. Außerdem sagten drei Sachbearbeiter*innen vom BKA und dem Polizeipräsidium Nordhessen als Zeug*innen aus, die mit der Auswertung von Handys und Computern der Beschuldigten betraut waren.
Zum Beginn der Sitzung stellte Nicole Schneiders, Anwältin von Hartmann, einen Beweisantrag. Demnach sollten unter anderem Dr. Gutmark von der Jüdischen Gemeinde in Hessen vorgeladen und das gerichtlich angeordnete psychiatrische Gutachten von Dr. Glatzel zu Stephan Ernst aus dem Jahr 1994 herangezogen werden um festzustellen, ob Ernst bei Angaben zu seinem Lebenslauf und seiner Waffenaffinität gelogen habe. Unter anderem kritisierte Schneiders das aktuelle Gutachten von Prof. Dr. Leygraf, welches Ernst keine nennenswerten psychischen Erkrankungen diagnostiziert und ihn für voll aussagefähig hält. Schneiders dagegen zitierte aus dem Gutachten von Dr. Glatzel, wonach Ernst eine Borderline-Persönlichkeitsstörung habe und sein „Hass auf Ausländer“ im Wesentlichen auf negierte homosexuelle Gefühle zurückzuführen sei. Abschließend hielt Schneider fest, dass Ernst den Rassismus seiner Eltern überboten habe, er ein Einzelgänger sei dessen Tochter nicht einmal Kontakt zu ihm haben wolle und er „gleichgültig“ und „abwesend“ an dem Prozess teilnehme, dies sei ein Nachweis seiner Borderline-Persönlichkeitsstörung. Zusätzlich legte Schneider nahe, dass Ernst Walter Lübcke aus „Sozialneid“ ermordet habe.
Björn Clemens, Anwalt von Hartmann, stellte anschließend einen Beweisantrag, Erika Steinbach als Zeugin vorzuladen. Er verwies dabei auf das erneute Einstellen des Videoclips von Walter Lübcke ins Internet im Januar 2019 durch Steinbach, versehen mit ihren eigenen Hasskommentaren gegen den ehemaligen Regierungspräsidenten. Demnach sei der eigentliche „Riesenhype“ gegen Walter Lübcke erst hierdurch ausgelöst worden und Hartmann könne daher nicht die treibende Kraft hinter dem gegen Walter Lübcke gerichteten Hass gewesen sein.
Im Anschluss wurde Stephan Ernst von Prof. Dr. Matt, Anwalt der Nebenklage Familie Lübcke, befragt. Hier bestätigte Ernst nochmal, dass er und Hartmann den Mord gemeinsam geplant und durchgeführt hätten. Er gab an, von Markus Hartmann manipuliert worden zu sein, indem dieser ihn zu Schießtrainings animiert und Gespräche auf Lübcke fokussiert habe. In diesen Gesprächen soll Hartmann immer wieder gesagt haben, dass Lübcke „eine Kugel verdient“ habe. Ebenso erklärte Ernst, er sei zu diesem Zeitpunkt nicht in der Neonaziszene aktiv gewesen, jedoch habe sich diese Zeit noch auf seine Weltvorstellung eingewirkt. Statt neonazistischer Ideologie seien seine Ansichten eine Mischung aus „Prepperszene“ und Vorbereitung auf einen nahenden Bürgerkrieg gewesen. Er gab an, dass der Hass sich gegen Angela Merkel und Flüchtlinge als Teil einer vermeintlichen Verschwörung gegen Deutschland zur Zerstörung der „nationalen Opposition“ gerichtet habe. Hier umschrieb Ernst die neonazistische Verschwörungstheorie einer „jüdischen Weltverschwörung“ und brachte dadurch seine Aussage, er sei nicht Anhänger neonazistischer Ideologie, in Zweifel. In Chat-Gruppen hätten er und Hartmann sich mit anderen über die vermeintliche Verschwörung ausgetauscht und auch selbst Hass-Kommentare verfasst. Er gab auch an, sie seien in einem Email-Verteiler der AfD gewesen und hätten über diesen Weg Einladungen zu Stammtischen und Versammlungen bekommen, wo sie dann gemeinsam und abwechselnd hingegangen seien. Ernst gab auf Nachfrage auch an, dass er Steinbachs erneutes Posten des Videos von der Veranstaltung in Lohfelden mitbekommen habe, verneinte aber, dadurch zur Tat motiviert worden zu sein. Matt fragte Ernst auch zu seinem Vorhaben, sich an das hessische Aussteigerprogramm IKARUS zu wenden, woraus er denn eigentlich aussteigen wollte, da er die Frage nach Zugehörigkeit zur extrem rechten Szene zum Tatzeitpunkt immer relativierend beantwortet hatte. Hier sprach sich Ernst mit seinem Anwalt Kaplan zurück, welcher antwortete, das solle doch das Ausstiegsprogramm entscheiden. Kaplan versuchte die Frage als „nicht verfahrensrelevant“ abzubügeln. Nach Klarstellung der Verfahrensrelevanz der Frage durch Richter Sagebiel gab Kaplan an, dass die Frage wegen ihrer Komplexität erst zu einem späteren Zeitpunkt beantwortet werde.
Hierauf kritisierte Nebenklageanwalt Hoffmann, Anwalt von Ahmed I., dass die Zurückstellung von Fragen lediglich eine Taktik sei und diese direkt beantwortet werden sollen. Kaplan fuhr Hoffmann an, dass er sich als Experte aufführe und er ihn nicht belehren solle. Danach fragte Matt, ob Ernst in Gefahr sei, wenn er wahrheitsgemäß auf Fragen antworte und ob es weitere Anschlagspläne aus seinem Umfeld gebe. Hier intervenierte Kaplan erneut und gab an, die Fragen würden eventuell zu einem späteren Zeitpunkt beantwortet werden. Zur Frage nach der widersprüchlichen Angabe in einer früheren Vernehmung, wonach Hartmann schon einen Tag vor der Tat Bilder von Lübckes Haus gemacht und die Kamera daher bei sich gehabt habe, gab Ernst an, dass sein früherer Verteidiger Hannig diese Angaben ohne sein Wissen gemacht habe. Die weiteren Fragen von RA Matt drehten sich um den genauen Tathergang bei der Ermordung von Walter Lübcke, welche Wege genau gelaufen worden seien um auf die Terrasse zu gelangen, wo Ernst während der Ermordung genau gestanden habe. Kaplan beschwerte sich währenddessen, dass die Fragen eine Wiederholung seien. Richter Sagebiel ließ jedoch die Detailbefragung durch RA Matt fortführen.
Nach der Befragung von Ernst durch RA Matt folgte die Vernehmung von drei Polizeibeamt*innen, welche mit der Auswertung der digitalen Asservate von Hartmann und Ernst betraut waren. Die erste Zeugin, Polizeikomissarin Tamara H. vom LKA Wiesbaden, wurde von Richter Sagebiel zu ihrem Vorgehen bei ihrer digitalforensischen Untersuchung der festgestellten Asservate befragt. Diese führte aus, zur Analyse der Daten bekämen die Sachbearbeitenden Stichworte vorgegeben, nach denen die Daten durchsucht worden seien. Dabei gab H. an, dass insbesondere die gelöschten Dateien relevant gewesen wären, da sie gezeigt hätten, dass Markus Hartmann „Rechtsextremist“ gewesen sei. So wurde beispielhaft aufgezählt, welche Dateien auf seinem Rechner gefunden wurden, darunter Schriften wie „Mein Kampf“, Schriften von Goebbels, „Der ewige Jude“, viel Rechtsrock (beispielsweise „Blutzeugen“, „Lunikoff Verschwörung“, „Sleipnir“, „Noie Werte“, „Frei und Stolz“, “Kategorie C“, „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“, Marschlieder), eigene Bilder von rechten Demos, sowie Neonazisymbole.
An dieser Stelle fiel auf, dass H. offenbar mangelnde Fachkenntnisse zur extremen Rechten hat, da sie nicht in der Lage war, sehr bekannte Neonazisymbole wie die David Lane zugeschriebene Neonazilosung „14 Words“ auf Nachfrage ohne nochmaliges Nachschlagen zu erklären. Ungewöhnlicher Weise richtete Hartmann selbst Fragen an H. Dabei fragte er, ob es überhaupt belegt werden könne, dass die Daten von ihm seien und verweist auf die Erstellungsdaten der Dateien. Hier intervenierte Richter Sagebiel und gab zu verstehen, dass Hartmanns Frage überflüssig sei. Auch den Protest von Clemens zur Relevanz der Frage tat Sagebiel mit „mal schauen“ ab. Weitere Bilder, die während der Befragung vorgestellt wurden, zeigten Hartmann in Uniform, beim Hitlergruß, mit Waffen und mit dem Kasseler Neonazi Mike Sa. Auch eine Kopie des Lebenslaufs von Sa. wurde auf Hartmanns Rechner gefunden. Der Threema-Chat zwischen Hartmann und Alexander Sch. auf dem Handy von Hartmann wurde auch untersucht, H. erklärte, dass sie in der Lage gewesen seien, gelöschte Chats wiederherzustellen, insgesamt 27 Stück. Dabei gab es zwei Nachrichten die als tatbezogen gelten. Am 2. Juni 2019 haben sich Hartmann und Sch. in Kassel getroffen, um 15:36 Uhr habe Sch. Hartmann einen Link zu einem Bericht der HNA über den Mord an Lübcke mit den Worten „Kopfschuss?“ geschickt. Darauf habe Hartmann nicht geantwortet. Am 17. Juni habeSch. geschrieben: „Ganz miese Sache, muss E. gewesen sein?“ und erhielt erneut keine Antwort.
Danach richtete Schneiders Fragen an Polizeikommissarin H., welche allesamt darauf abzielten, die ausgewerteten Datenträger als Hartmann nicht klar zuschreibbar zu charaktisieren. Sie fragte auch nach dem spezifischen Inhalt einer Nachricht zwischen Hartmann und Alexander Sch. vom 3. Juni. Kommissarin H. gab an, dass es um Mietpreise und 50.000€ ginge. Clemens zielte mit seinen Fragen auf das genaue Löschungsdatum der Dateien ab, dazu konnte Tamara H. keine Angaben machen. Clemens fragte auch nach dem Kontakt zu Mike Sa. Hier gab Frau H. an, dass Hartmann eine Nachricht von Alexander Sch. zu der Solidaritätsbekundung von Mike Sa. mit Ernst mit der Veröffentlichung eines gemeinsamen Bildes auf Facebook mit den Worten „gute Aktion“ kommentierte. Schließlich befragte Dr. Matt Tamara H. Matt fragte, ob die Identität eines Kontakts von Hartmann namens „Trolllord“ bekannt sei, was H. jedoch nicht beantworten konnte. Die Bundesanwaltschaft gab hierauf an, dass es sich dabei um Ingo Gl. handele.
Als zweites wurde die Fachberaterin Daniela W. vom Polizeipräsidium Nordhessen vernommen. W. war mit der Auswertung der Telekommunikationsdaten von Hartmann betraut. Dabei wurden Verbindungsdaten zwischen April und Juni 2019 ausgewertet. Auf Nachfrage gab W. an, dass Hartmann über zwei Rufnummer verfügte. Seine Standortdaten seien bis auf eine Ausnahme im Juni dem Raum Kassel zuzuordnen, allerdings gab die Fachberaterin W. an, es seien nur Daten entstanden, sobald Anrufe, Nachrichten, Updates oder ähnliches getätigt wurden.
Als nächstes wurde Polizeikommissar Lars R. vom hessischen Landeskriminalamt vernommen. Richter Sagebiel fragte nach Chats zwischen Hartmann und seiner damaligen Lebensgefährtin Do., hier gab Lars R. an, dass es im April 2017 einen Chat zwischen beiden gegeben habe, bei dem es um ein Waffengeschäft gegangen sei für das Hartmann nach Göttingen gefahren sei. Ob das Geschäft stattgefunden habe, sei nicht klar. Auf die Frage, was auf Hartmanns PC für relevante Dokumente gefunden wurden, gab Polizeikommissar R. an, dass sie neben Rechtsrock, PEGIDA-Videos und Medien der Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck auch eigene Aufnahmen von extrem rechten Demonstrationen und der Veranstaltung in Lohfelden im Oktober 2015 fanden. Im Weiteren bestätigte er die Funde, die zuvor Tamara H. vorgestellt hatte. Zusätzlich gab er an, dass Hartmann über drei E-Mail Adressen verfügte. Clemens und Schneiders stellten Fragen, die keine neuen Erkenntnisse brachten. Trotzdem hielt Clemens am Ende fest, dass keine Kommunikation zwischen Ernst und Hartmann festgestellt worden sei, dass Hartmann lediglich ein „Uniformfaible“ habe und kein Tatnachweis mit den vorgestellten Beweismittel erfolgt sei.
Nach der Entlassung des letzten Zeugen ging es um die Vernehmung von Ernst früheren Anwälten Waldschmidt und Hannig im Laufe des Prozesses. Kaplan bestätigte, dass Ernst mit einer beschränkten Entbindung von der Schweigepflicht bei deren Befragung einverstanden sei. Richter Sagebiel gab an, dass es dabei um die Frage nach Ernsts Angaben zum Tatablauf, um die Beauftragung von Waldschmidt und Hannig als Verteidiger und abweichende Angaben gehen werde. Clemens beantragte, dass das gesamte Video der Veranstaltung in Lohfelden vor Gericht gesichtet wird, was bewilligt wurde. Danach kam es zu einem kurzen Streitgespräch zwischen RA Kaplan und der Bundesanwaltschaft auf Grund der Veröffentlichung des Vernehmungsvideos von Ernst durch STRG_F. Obwohl die Bundesanwaltschaft erst nicht auf die Frage antworten wollte, wie das Video verbreitet werden konnte, gab sie doch in ihrem Statement zu, dass die Daten auf Grund einer fehlerhaften Löschung auf Datenträgern noch zu finden waren, die in anderen Verfahren herausgegeben wurden. Schließlich wurde ein Vermerk des KOK Buortmes verlesen, welcher die Auswertung der digitalen Medien leitete. Demnach hätten sich Hartmann und Ernst am späten Abend des 1. Juni 2019 Nachrichten bei Whatsapp geschickt. Richter Sagebiel fragte Hartmann kurz, bei wem es sich bei Re. und Ma. handele. Auf die Frage des Richters hin grinste Hartmann und nuschelte etwas unverständliches, bevor Sagebiel ihn daran erinnerte, dass eine Teileinlassung sich negativ auf ihn auswirken könne. Danach endete der Verhandlungstag.
Der Prozesstag bei NSU-Watch Hessen