Am 23. November 1992 zündeten Neonazis das Haus der Familie Arslan im schleswig-holsteinischen Mölln mit Molotov-Cocktails an. Die 10-jährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yılmaz und die 51-jährige Bahide Arslan wurden bei dem rassistischen Brandanschlag ermordet, weitere Familienmitglieder erlitten teils sehr schwere Verletzungen. Zuvor hatten die Neonazis einen rassistischen Brandanschlag auf ein weiteres Haus in Mölln verübt, bei dem neun Menschen teils schwer verletzt wurden. İbrahim Arslan überlebte als Siebenjähriger den Brandanschlag, bei dem er seine Schwester, seine Großmutter und seine Cousine verlor.
Familie Arslan kämpft seit Jahren gegen das Vergessen, um die Anerkennung der Perspektive der Betroffenen rechter Gewalt und mit der Stadt Mölln um ein angemessenes Gedenken an den Brandanschlag von 1992. Die „Möllner Rede“, deren Redner*innen Familie Arslan jahrelang ausgesucht hatte, durfte ab 2013 nicht mehr Teil der offiziellen Gedenkveranstaltung sein, weil sie der Stadt zu politisch war. Seitdem organisiert Familie Arslan die „Möllner Rede im Exil“, die jedes Jahr in einer anderen Stadt gehalten wird.
Bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung in Mölln verlas İbrahim Arslan drei Briefe, die nach dem Brandanschlag 1992 über die Stadt Mölln an seine Familie gerichtet worden waren und Anteilnahme und Solidarität der Familie gegenüber zum Ausdruck bringen. Diese drei Briefe sind Teil einer Sammlung von Briefen, von der Familie Arslan bis zum letzten Jahr allerdings gar nichts wusste. Die Stadt Mölln hatte die Briefe im Stadtarchiv gesammelt, Familie Arslan erfuhr von der Existenz der Briefe nichts. Eine Rechercheurin fand die Briefe im Stadtarchiv und informierte die Familie.
Wir haben mit İbrahim Arslan über die Briefe und deren persönliche Bedeutung gesprochen, über den Umgang der Stadt Mölln mit diesen Objekten der Erinnerung und Solidarität und über einen neuen Kampf, den Betroffene rassistischer Gewalt führen müssen.
İbrahim, du hast bei diesjährigen Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 Briefe vorgelesen. Was kannst du uns zum Hintergrund erzählen, was waren das für Briefe, die du da vorgelesen hast?
Am diesjährigen Gedenktag habe ich nur drei Briefe vorgelesen von circa 3.000 Briefen, die wir nicht erhalten haben. Der Hintergrund zu den Briefen ist: Direkt nach dem Anschlag haben sich Menschen in Deutschland solidarisiert, aber auch über die Grenzen hinaus. Aus Holland, aus Amerika, aus der Türkei gab es Briefe an die Familie, aber auch an die Stadt Mölln gerichtete Solidaritätsbriefe, die an uns übergeben werden sollten. In diesen Briefen waren auch Geldspenden, davon kann man ausgehen, wenn man die Briefe liest. Diese Briefe wurden in einer türkischen Teestube gesammelt.
Wir haben 27 Jahre von diesen Briefen keine Kenntnis gehabt. Wir haben tatsächlich erst letztes Jahr im Stadtarchiv der Stadt Mölln diese Briefe durch einen Zufall entdeckt. Eine Genossin von uns hat zu Mölln Recherchearbeit durchgeführt und diese Briefe gesehen. Durch eine Anfrage der Familie haben wir die Briefe jetzt erhalten und haben erschütternderweise festgestellt, dass die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft da war. Es sind nur 3.000 von 80 Millionen Menschen, aber trotzdem haben wir diese Solidarität extrem gebraucht. Die wurde uns verheimlicht, indem man sie archiviert hat 27 Jahre lang.
Als ich die Briefe am 23. November 2020 vorgelesen habe, da kam es erstmal so rüber, als ob die Briefe erst vor kurzem geschrieben worden sind. Am Ende habe ich das Datum dann genannt und alle waren schockiert: Wie kann das sein, dass ein Brief, der 27 Jahre nicht gelesen wurde, heute gelesen wird? Das ist auf jeden Fall ein zweiter Anschlag, den die Stadt auf uns verübt hat.
Das heißt, die haben die Briefe damals einfach eingesammelt und weggeschlossen bzw. ins Archiv getan und ihr habt die nie zu Gesicht bekommen?
Der Bürgermeister hat sich bisher nicht dazu geäußert. Auf die Anfrage einer Journalistin hat er gesagt, dass diese Briefe einen geschichtlichen Wert hatten und aus dem Grund archiviert wurden. Die Familie hätte halt nie gefragt, ob diese Briefe existieren, sonst hätte man uns ja die Briefe übergeben. Allerdings können wir ja nicht nachfragen nach etwas, von dem wir nicht wissen.
Jetzt habt ihr zum Glück endlich die Briefe erhalten. Was hast du aus den Briefen erfahren, was ist besonders hängen geblieben?
Ich habe tatsächlich alle Briefe durchgelesen. Manche Briefe haben hundert oder zweihundert Unterschriften. Einige Briefe haben mich extrem emotional mitgenommen, beispielsweise ein Brief von der Lagergemeinschaft Ravensbrück. Da gab es diese Überlebenden des Holocaust, die uns geschrieben haben, gemeinsam mit Freundinnen und Freunden. Diese Lagergemeinschaft Ravensbrück gibt es ja heute noch, die haben ihre Solidarität erklärt und haben indirekt auch einen Vernetzungswunsch mit dem Brief formuliert. Eine Vernetzung mit Opfern vom Holocaust und ihren Angehörigen ist etwas, was wir uns bis heute wünschen. Allerdings wurde uns das nicht ermöglicht, weil viele Holocaustüberlebende leider nicht mehr leben. Aber damals hatten wir die Möglichkeit, diese Menschen zu kontaktieren, aber 27 Jahre lang wurde uns das nicht gewährt.
Ein anderer Brief, der mich sehr emotional mitgenommen hat, ist von einem 12-jährigen Kind. Ein Mädchen, die in dem Brief formuliert hat, dass sie rassistische Tendenzen in ihrer Familie erlebt und auch rassistische Äußerungen nach der Tat: Aber sie möchte sich heimlich gerne mit uns solidarisieren, sie kann kein Geld schicken, aber einen Stein. Dieser Stein war in dem Briefumschlag mit drin. Das hat mich extrem berührt. Ich habe sofort den Namen gegoogelt, weil sie ja jetzt auch etwa so alt sein muss wie ich. Und ich habe festgestellt, dass sie jetzt bei der Arbeiterwohlfahrt arbeitet. Und wer weiß, wenn man sie interviewt und mit ihr spricht, vielleicht kommt raus, dass sie sich dazu entschlossen hat, weil sie die Anschläge in den 90ern, in den 80ern mitbekommen hat als Kind und sie sich dann solidarisieren wollte mit Menschen, die Opfer davon waren. Auch das wurde uns 27 Jahre lang nicht gewährt, dass wir zu solchen Menschen Kontakt aufnehmen.
Was denkst du im Nachhinein, was es für deine Familie bedeutet hätte, wenn ihr damals diese 3.000 Briefe bekommen hättet?
Wir sagen das ja immer wieder und wir unterschreiben das bei jeder Veranstaltung: Wir sind in Deutschland geblieben, weil wir die Solidarität von den Menschen erfahren haben, weil wir solidarische Menschen kennengelernt haben, weil wir Menschen gesehen haben, die nicht so denken wie die, die unser Haus abgefackelt haben. Diese Briefe hätten unsere ganzen Statements, die wir bis heute machen, unterstützt, auch unterschrieben. Wir hätten unseren Kampf, den wir heute führen, wenn es um die Perspektive der Betroffenen geht, schon in den 90ern führen können, denn das hätten wir mit diesen Menschen vielleicht machen können. Alles das wurde uns nicht gewährt. Das hätte uns extrem viel bedeutet.
Aber auch für den Stand, auf dem wir sind, hätte das eine große Wirkung gehabt. Ich bin der Meinung, hätten wir diese Menschen damals schon kontaktiert, hätten wir mit den ganzen Leuten, die da geschrieben haben, Projekte entwickelt oder unsere Forderungen mit denen gemeinsam erkämpft, dann würden wir heute nicht da stehen, wo wir stehen. Wir führen einen unermüdlichen Kampf gegen das Vergessen und auch darum, die Perspektive der Betroffenen hervorzuheben. Damals hätten wir das mit über 3.000 Menschen machen können, eventuell. Jetzt nach 27 Jahren ist es wahrscheinlich zu spät die Leute zu kontaktieren, aber wir werden es trotzdem versuchen.
Was bedeutet es dir persönlich, wenn du die Briefe jetzt liest?
Es hat natürlich auch etwas Gutes, dass ich sie bekommen habe. So kann ich davon ausgehen: Wenn wir an andere Menschen denken, die Opfer von Rassismus geworden sind, oder beispielsweise an die Geschichten von Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und NSU, dann bin ich mir jetzt ziemlich sicher, dass irgendwo noch Briefe in irgendwelchen Archiven schlummern und nicht an die Familien übergeben wurden. Also das hat natürlich ein ganz neues Politikum eröffnet. Der Kampf geht in eine andere Richtung weiter. Wir müssen wahrscheinlich Objekte, die uns gehören, wieder zurückerkämpfen – beziehungsweise erst forschen und dann erkämpfen. Das führt auch dazu, dass Menschen, die Opfer von Rassismus wurden, jetzt aktiv werden müssen, um ihrer Geschichte hinterher zu laufen.
Das bedeutet mir sehr viel, weil ich so viele Menschen mobilisieren kann, damit wir gemeinsam diese Kämpfe führen. Dass wir gemeinsam die Objekte, die uns gehören, zurückholen von Institutionen, die uns das einfach geklaut haben. Direkt nach den Briefen bin ich auf die Idee gekommen, jetzt einfach weiter zu forschen in verschiedenen institutionellen Bereichen, wo noch was sein könnte. Ich habe festgestellt, dass bemerkenswerterweise im Haus der Geschichte in Bonn Objekte von uns ausgestellt werden und sogar im Archiv bei denen Objekte gelandet sind, die aus unserem Familienbesitz genommen wurden. Also nach dem Brandanschlag aus dem Haus genommen und dem Haus der Geschichte übergeben wurden, damit sie das irgendwann mal ausstellen. Letztes Jahr wurde ein Telefon, das eventuell uns gehört, ausgestellt im Haus der Geschichte. Das geht überhaupt nicht. Jetzt muss ich auch die anschreiben, jetzt muss ich die auch überzeugen, dass sie uns unsere Objekte zurückgeben.
Hat das deinen Blick auf die Gesellschaft, die Stadt Mölln, aber vielleicht auch auf Solidarität nochmal verändert?
Also auf einer emotionalen Ebene schon. Ich sage mal so, der Blick auf Institutionen hat sich natürlich jetzt verschlechtert. Sie sind emotional überhaupt nicht auf der gleichen Ebene wie wir, sie interessiert das Schicksal der Menschen überhaupt gar nicht. Auch das Zurückhalten der Briefe hängt ja größtenteils damit zusammen, dass die Stadt Mölln damit ihr Image reinigen wollte. Ich meine, wenn sich Menschen nicht mit der Stadt Mölln solidarisieren, sondern mit der Familie Arslan, dann macht sich eine Stadt schon Sorgen, was da schief gelaufen ist, warum aus deren Sicht die Mehrheitsgesellschaft nicht sehen will, dass die Stadt Mölln eigentlich die Betroffene ist. Dadurch haben sich meine ganzen Thesen, wie Institutionen mit Betroffenen umgehen, bestätigt. Und es wird sich auch weiterhin bestätigen, wenn ich die Briefe weiter öffentlich vorlese.
Auf einer anderen emotionalen Ebene habe ich festgestellt: Diese Menschen haben uns erreicht mit den Briefen, nach 27 Jahren zwar, aber sie haben uns erreicht damit. Sie haben unsere Seele verstanden, unseren Widerstand und auch unser Leid. Man sagt ja immer, dass geteiltes Leid halbes Leid ist, und auch das habe ich nach 27 Jahren echt gespürt, als ich diese Briefe gelesen habe. Das ist eine sehr, sehr schöne Solidaritätsaktion, finde ich, die einem Betroffen zugute kommt.
Was sind deine Forderungen, was möchtest du damit machen und wie kann man euch dabei unterstützen?
Also erstmal werden wir gucken, wie wir gemeinsam als Familie mit diesen Briefen umgehen, was wir damit machen werden, ob wir die Leute ausfindig machen, die die geschrieben haben, oder ob wir versuchen, rechtliche Mittel einzuleiten. Das wissen wir alles noch nicht, dafür ist es viel zu frisch. Es haben noch nicht alle Familienmitglieder die Briefe durchgelesen und auch nicht unsere Anwälte. Erstmal geht es jetzt um das Sichten der Briefe und dann gucken wir, wie wir mit dieser Aktion umgehen. Das andere ist: Ich habe natürlich eine gesamtgesellschaftliche Forderung, dass ganz viele Menschen auf die Suche gehen sollen, gehen müssen nach Sachen, die ihnen gehören. Institutionen, staatliche Organisation anfragen, Archive durchstöbern, ob irgendwas von staatlichen Organisationen genommen wurde. Das was die getan haben, das war ja: Die haben uns das ja geklaut. Die Briefe waren ja unser Eigentum. Da fordere ich jetzt dazu auf, der eigenen Geschichte nachzugehen und zu gucken, ob irgendwo noch Briefe oder Objekte schlummern.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ganz, ganz viel von Rostock-Lichtenhagen zum Beispiel im Archiv der Landesregierung schlummert. Und auch bei Hoyerswerda bin ich mir ziemlich sicher, dass da ganz viel rumliegt. Denn, warum sollten die Leute, die uns geschrieben haben, nicht denen auch geschrieben haben? Nach uns war Solingen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die gleichen Leute oder ähnlich viele Leute auch denen geschrieben haben. Es ist halt fatal, dass man den Leuten das vorenthält, und dass man auch dadurch irgendwie versucht, sein Image zu reinigen. Man spielt hier mit der Gesundheit und auch der Zukunft der Menschen. Bei mir hätte es sich eventuell ganz anders gestaltet, wenn ich diese Briefe damals in die Hände bekommen hätte. Das ist ganz klar.